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Fetischcharakter. In skurriler Verkleidung hat der Künstler Johannes Paul Raether die Räumung des Apple-Stores am Ku’damm ausgelöst.
© Camilla Kohrs/dpa

Extreme Inszenierungen in Berlin: Kunst? Bitte die 110 wählen...

Eine Performance im Apple-Store, ein Tigerkäfig am Gorki-Theater, nackte Frauen im Glaspalast – wenn Inszenierungen außer Kontrolle geraten.

Er habe das nicht gewollt, versichert Johannes Paul Raether auf seiner Facebook- Seite. „Meine Arbeiten sind zum überwiegenden Teil auf das Stattfinden im öffentlichen Raum angewiesen; sie sind nicht darauf angelegt anderen Schaden zuzufügen oder ein öffentliches Ärgernis darzustellen.“ Die Performance im Apple-Store am Kurfürstendamm am Wochenende löste trotzdem eine Kette von Ereignissen aus, die Raether nicht mehr steuern konnte: Giftalarm, Polizei und Feuerwehr rücken an, Laden wird geräumt, 27 Teilnehmer der Performance werden stundenlang festgehalten. Die Polizei ermittelt wegen Sachbeschädigung.

Raether verkleidete sich als "Hexe Protektorama"

Dabei wollte Raether, bunt kostümiert und geschminkt als „Hexe Protektorama“ nur „die Besessenheit der Menschen vom Smartphonefetisch“ untersuchen. Die Teilnehmer bekamen einen „Ring aus Gallium-Metall“ auf die Hand, der mit Seltenen Erden verschmelzen sollte. So betraten Hexe und einige dutzend Anhänger die heilige Halle des Apple-Fetisches. Nur leider geriet das Metall dabei auf den Boden, formierte sich zu einer „silbrigen Masse“, was den Store-Mitarbeitern doch gehörige Angst einflößte.

Himmels-Körper. 2001 bringt der österreichische Aktionskünstler Wolfgang Flatz eine tote Kuh aus 40 Metern Höhe zum Absturz. Tierschützer protestieren vergeblich gegen die Kunstaktion.
Himmels-Körper. 2001 bringt der österreichische Aktionskünstler Wolfgang Flatz eine tote Kuh aus 40 Metern Höhe zum Absturz. Tierschützer protestieren vergeblich gegen die Kunstaktion.
© Peter Endig/dpa

Dass Kunstaktionen außer Kontrolle geraten laufen, kommt eher selten vor. Meistens sind die Gegenreaktionen aus Staat und Gesellschaft schon eingepreist, ist die mediale Empörung integraler Bestandteil der Performance selbst. Und weil die Empörungsschwelle immer weiter ansteigt – man hat schließlich alles schon gesehen – müssen auch die Akteure immer drastischere Bilder erzeugen. Die Tiger am Gorki-Theater, ausgestellt vom „Zentrum für politische Schönheit“, haben diese Schwelle leichtfüßig übersprungen, waren schließlich echte Tiger. Verbunden mit der grausam-absurden Ansage, hier demnächst Flüchtlinge zerfleischen zu lassen, verursachte die Performance einen real grundierten Schauer. Sogar die Polizei hielt sich zum Eingreifen bereit, weil sie davon ausgehen musste, dass hier nicht nur geblufft wird.

Tote Kuh fiel aus 40 Metern herab

2001 ließ der österreichische Künstler Wolfgang Flatz eine tote Kuh mit Hilfe eines Hubschraubers aus einer Höhe von 40 Metern über dem Kulturzentrum Brotfabrik am Prenzlauer Berg abstürzen. Die Aktion sollte die „merkwürdige Angst“ der Menschen vor der Begegnung mit Fleisch veranschaulichen. Tierschützer versuchten vergeblich diese Aktion zu bekämpfen. Das Verwaltungsgericht wies die Klage einer Jugendlichen zurück. Ihr Anwalt hatte auf die Verletzung des Jugendschutzes plädiert. Der Berliner Liedermacher Reinhard Mey teilte in einem Fax an das Magazin „Der Spiegel“ mit, er wäre persönlich bereit gewesen, den Hubschrauber zu fliegen, wenn nicht die Kuh, sondern der Künstler abgeworfen würde.

Nackte Tatsachen. 100 Frauen stellen sich 2005 annähernd entblößt in die Neue Nationalgalerie. Das löst Tumulte und einen Polizeieinsatz aus.
Nackte Tatsachen. 100 Frauen stellen sich 2005 annähernd entblößt in die Neue Nationalgalerie. Das löst Tumulte und einen Polizeieinsatz aus.
© Soeren Stache/dpa

Es geht auch andersherum. In der Allgegenwart von Kunst wird manches dafür gehalten, was keine Kunst ist. Im Dezember 2002 stürzte sich eine junge Frau aus dem fünften Stock des damaligen Kunsthauses Tacheles in den Tod. Touristen fotografierten die Tote, im Glauben, es handele sich um eine Kunstaktion. Das der Subkultur verpflichtete Tacheles war ja für schrille Aktionen bekannt. Tatsächlich hatte die Frau ihre Suizidabsicht einer Künstlergruppe im Haus angekündigt – die Künstler nahmen dieses Gespräch auf Video auf. Es wurde von der Polizei beschlagnahmt. Indizien für ein „Fremdverschulden“, eine fatale Vermischung von Kunst und Schicksal, ergab das Video aber nicht.

Sind das Leichen oder Kunst?

Die verfassungsrechtlich verbriefte Kunstfreiheit ist juristischer Alltag. Jedes Mal wird abgewogen, ob sie wertvoller ist als die öffentliche Ordnung oder die Würde jedes einzelnen. Mit dem Bestattungsrecht kommt die Kunst eher selten in Konflikt, aber auch das geht, wie Plastinator Gunther von Hagens bewiesen hat. Nach einigem Hin und Her entschied das Oberverwaltungsgericht, die ausgestellten Präparate im „Menschen Museum“ seien nicht primär als Kunstobjekte anzusehen, sondern als „Leichen im Sinne des Berliner Bestattungsgesetzes“. Wobei das nicht bedeutet, dass die Plastinate nicht mehr als Kunst betrachtet werden dürfen. Nur öffentlich ausstellen darf man sie nicht.

Die Empörung über das Plastinieren war eigentlich schon lange abgeebbt, der Streit mit Kirchen und christlichen Politikern weitgehend verpufft, als Mittes Bürgermeister Christian Hanke (SPD) 2014 seinen Feldzug gegen das neu eröffnete Menschen Museum begann. Als Stachel gegen gesellschaftliche Tabus taugen die Plastinate kaum noch.

Tumulte an der Neuen Nationalgalerie

Das Ausziehen von Schauspielern im Theater ruft nur noch ein Gähnen hervor. Urinieren auf der Bühne ist sowas von retro. Nahezu nackte Frauen in einen gläsernen Kunsttempel wie die Naue Nationalgalerie zu stellen, das erregte 2005 dann doch noch die Gemüter – und wäre fast außer Kontrolle geraten. Der Besucherandrang war so enorm, dass es zu „tumultartigen Szenen“ kam. Die Veranstalter riefen die Polizei zu Hilfe. Auch einige der Nacktdarstellerinnen, ganz normale Frauen mit Lust am Experiment, brachen vor Erschöpfung und Scham zusammen, zunehmend verunsichert, ob das Publikum wirklich die Kunst in ihnen betrachtet und nicht nur das Fleisch.

Für die Kunst muss man Opfer bringen. Im Fall Apple waren es vor allem Zeit, Geld und Unannehmlichkeiten. Apple berät noch, ob man für den entgangenen Umsatz Entschädigung fordern soll. Die Feuerwehr will dem Veranstalter „mehreren tausend Euro“ für den Einsatz in Rechnung stellen.

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