Kultur: Schock der Schönheit
Kunst oder Spektakel? Vanessa Beecrofts Performance in der Neuen Nationalgalerie
„Muss ich mich etwa ausziehen, damit ich reingelassen werde?“, kreischt eine Frau mit sich überschlagender Stimme. Von hinten drängt die Menschenmenge nach. Irgendetwas läuft schief am Eingang der Neuen Nationalgalerie. Hunderte drängen vor der einzigen geöffneten Drehtür des Mies van der Rohe-Baus um Einlass. Das Geschimpfe und Geschiebe ist alles andere als ein weihevoller Auftakt für eine dreistündige Kunstperformance, die eigentlich von der Stille lebt. Die ruppigen Türsteher, die meterlange Warteschlange sind vielmehr Begleiterscheinungen eines Spektakels, bei dem hundert nur mit Strumpfhosen bekleidete Frauen in Formation Aufstellung bezogen haben. „VB 55“, so der Titel des koketten Kunstwerks von Vanessa Beecroft, scheidet die Geister. Ist das nun Kunst? Oder nur noch Event? Man muss es nicht einmal gesehen haben, die Vorstellung reicht, um sich darüber zu erhitzen und hitzig einen Blick erhaschen zu wollen.
Wer es durch das Nadelöhr am Eingang geschafft hat, eilt sogleich weiter, sichert sich einen Platz mit möglichst guter Sicht auf das lichte Feld aus Leibern, das sich zwischen den beiden riesigen Porphyrpfeilern der gläsernen Halle erstreckt. Drei Bodenplatten Abstand sind zu halten von den ungeschützt den Blicken preisgegebenen Frauen, die da in Zehnerreihen stehen. Schon beginnt das Gedränge erneut. Still oder etwa andächtig wird es nie in den drei Stunden. Der erhabene Moment einer Kunsterfahrung wird sogleich unterbrochen durch einen Knuff in die Seite oder die Frage: „Könnten Sie bitte mal rücken?“. Die Unruhe überträgt sich auf die Darstellerinnen, denen die Künstlerin eigentlich versprochen hatte: „Ihr seid geschützt durch eine Idee, das Publikum besitzt bloß seine normale Identität.“ Die wachsende Unsicherheit wird greifbar, zu der letztlich ans Publikum delegierten Scham kommt die mit jeder verrinnenden Minute wachsende Erschöpfung hinzu. Eine nach der anderen sinkt zu Boden.
Dennoch bleibt von Vanessa Beecrofts Performance ein grandioses Bild. Die 1969 geborene Genueserin mit Wohnsitz New York hat einmal erklärt: „Ich wünschte, man würde meine Arbeit ansehen mit Alten Meistern wie Raffael, Piero della Francesca und Tizian im Kopf.“ Eine vermessene Vorstellung, da doch die Hauptattraktion ihrer Show die schiere Nacktheit, die wenn auch künstlerisch geadelte Fleischbeschau ist. Seit über zehn Jahren und in Berlin zum 55. Mal (der Titel „VB 55“ setzt sich zusammen aus den Initialen der Künstlerin und der bisherigen Anzahl von Performances) sorgt Vanessa Beecroft mit ihren sonderbaren Exerzitien für Aufsehen im Kunstbetrieb, wird mit ihnen rund um den Globus zu Museumseröffnungen und Biennalen eingeladen.
Bislang allerdings arbeitete sie mit professionellen, spindeldürren Models zusammen, die auf High Heels standen und zwecks Uniformierung einheitlich gefärbtes Haar verpasst bekamen. In Berlin nun wurde erstmals die Allerweltsfrau zur Protagonistin, ungeschminkt mit ihren mal mehr, mal weniger perfekten Maßen. Nach Ansicht der Künstlerin ist dem deutschen Publikum ein solcher Eindruck zumutbar. Und siehe da, während man sich vorher weit mehr über die Künstlerin und deren körperliche Konstitution den Kopf zerbrach, rückt nun die Frage nach der Schönheit ins Zentrum. Plötzlich kommen einem tatsächlich Raffael, Piero della Francesca und Tizian in den Sinn, die kulturgeschichtlich bedingten Wandlungen des Schönheitsideals. Alle diese Frauen stehen in einer langen Reihe der Kunsttradition, und doch befinden sich die hundert Darstellerinnen von „VB 55“ ganz im Hier und Jetzt, tragen ihre höchst eigene Geschichte zur Schau.
Drei Stunden sind eine lange Zeit, doch die Vorstellung ist getragen von einer Spannung bis zur letzten Minute. Das kühle Konzept, die rigide Anmutung eines Regiments steht im permanenten Widerspruch zur individuellen Erscheinung der einzelnen Frauen und ihren unterschiedlichen Reaktionen auf die körperliche Strapaze. Zugleich ist da die räumlich greifbare Spannung zwischen der Gruppe der Darstellerinnen und dem Publikum. Die erschütterndste Erkenntnis für so manchen Besucher mag sein, wie unsexy die Veranstaltung wirkt. Der Peepshow-Effekt, das erotische Knistern ist durch das nüchterne Arrangement von vornherein ausgeschlossen.
Vanessa Beecroft weiß diese Leerstelle für sich zu nutzen: „Ich profitiere mehr von Missverständnissen als von intellektuell korrekten Interpretationen“, hat sie einmal gesagt. Darum wissen auch die Gastgeber der äußerst gefragten Performances. Da spielt es fast keine Rolle mehr, dass „VB 55“ den Abschluss einer Veranstaltungsreihe des Berliner Zentrums für Literaturforschung bildet, unter dem Titel „Zwischen Evolution und Experiment. Schönheit in Kunst und Wissenschaft“. Wer vermag schon, wie Zentrumsdirektorin Sigrid Weigel, angesichts hundert nackter Frauen über die biologische, kulturelle Macht der Schönheit, ihre dunkle Seite und zerstörerische Kraft zu philosophieren?
Am Ende Applaus für die Darstellerinnen. Eine nach der anderen verlässt erhobenen Hauptes die gläserne Halle, das große Schaufenster der Kunst.
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