Berlin: Tacheles: Passanten hielten Selbstmord für Kunstaktion
25-Jährige sprang vom Kulturhaus in Mitte in den Tod – Künstlergruppe hatte die Ankündigung auf Video aufgezeichnet
Unter makaberen Umständen hat sich eine 25-jährige Frau am Kunsthaus Tacheles in Mitte das Leben genommen. Sie stürzte sich aus einem Fenster im fünften Stock, nachdem sie ihre Suizidabsicht einer Künstlergruppe im Haus angekündigt hatte – die Künstler nahmen dieses Gespräch auf Video auf. Schreckliches Nachspiel der Tat: Eine Schülergruppe entdeckte die Leiche auf dem Hof. Touristen fotografierten die Frau, weil sie eine Kunstaktion vermuteten.
Die Polizei hatte den Vorfall vom vergangenen Freitag nicht bekannt gegeben. Erst gestern bestätigte sie entsprechende Informationen des Tagesspiegels. Demnach war die junge Berlinerin am Donnerstagabend bei der Künstlergruppe „Manufaktur“ im dritten Stock erschienen und hatte angekündigt, was sie vorhat. Die Künstler zeichneten alles auf Video auf; das Band wurde von der Polizei inzwischen beschlagnahmt. Ein Mitglied der Gruppe wollte die junge Frau offenbar beruhigen und von ihren Selbstmordgedanken abbringen. Der 32-Jährige ging mit ihr in einen anderen Raum. Laut Polizeiprotokoll tranken die beiden dort einen Jägermeister und schliefen miteinander.
Gegen 5.30 Uhr fuhr der Mann die 25-Jährige dann zu ihrem Wohnhaus in Tiergarten und setzte sie vor der Tür ab. Sie kehrte jedoch zurück in die Oranienburger Straße, stieg in den fünften Stock, sprang aus dem Fenster und fiel auf das Dach eines Wohnmobils. Von dort rollte sie auf den Boden des Tacheles-Hofs.
Stunden später wurde sie von Touristen und einer Schülergruppe gefunden. Ein Touristen-Pärchen fotografierte sie aus etwa zehn Meter Entfernung und gab der erstaunten Lehrerin der ausländischen Schulklasse die Auskunft, dass das ja „eine Performance oder eine Installation“ sei. Erst einer der etwa zwölf Jahre alten Schüler erkannte, dass es sich um eine Leiche handelte – so steht es im Protokoll der Polizei.
Weiter hieß es am Dienstag, die Frau sei drogensüchtig gewesen und habe an Schizophrenie und Depressionen gelitten. Die Obduktion habe als Todesursache ein Schädelhirntrauma als Folge des Sturzes ergeben. Es gebe keine Anhaltspunkte für Fremdverschulden. Gegen den 32-Jährigen werde nicht ermitttelt. In einer Tasche, die die 25-Jährige im Tacheles abgestellt hatte, fand die Polizei einen Abschiedsbrief.
Die Eltern der jungen Frau waren nach Angaben der Polizei völlig überrascht von der Selbsttötung: Am Tag zuvor hatte die junge Frau noch mit ihrem Vater gesprochen. Zwei Tage zuvor soll sie mit ihrer Mutter sogar noch Pläne für das Weihnachtsfest geschmiedet haben.
Ein Polizist äußerte gestern eine Art Verständnis für die Fehleinschätzung beim Auffinden der Leiche: „So makaber und ungewöhnlich das Tacheles von innen ist, wundert mich das nicht, dass man die Tote für einen Event hält“, sagte er. Und: „In dieser verrückten Stadt ist doch nichts abwegig.“
Beim Kunsthaus Tacheles wollte sich gestern niemand zu dem Fall äußern. „In den Tod kann man von jedem Baugerüst und von jedem Dach springen“, sagte ein Mitglied des Vereinsvorstandes nur. „Das hat nichts mit dem Tacheles zu tun.“
Seit 1990 nutzt das alternative Kulturzentrum Tacheles die Ruine des 1909 eröffneten „Passage-Kaufhauses“ zwischen Oranienburger und Friedrichstraße sowie die freien Flächen in der Friedrichstraße (siehe nebenstehenden Kasten). Hier befinden sich jetzt Szene-Cafés, Ateliers und Ausstellungsstätten sowie das Kino „Angenehm“.
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