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Ein Obdachloser sitzt in der Kälte im Regierungsviertel. Die genaue Zahl der Obdachlosen in Berlin ist unbekannt.
© Kay Nietfeld/dpa

Debatte zu Obdachlosigkeit in Berlin: "Kümmern Sie sich um Ihren Nachbarn, der irre ist"

Tausende Berliner leben auf der Straße. Sozialsenatorin Breitenbach will allen eine Unterkunft bieten. Doch Experten sind skeptisch.

Das Gemälde an der Wand deutete bereits das Thema des Abends an: zwei Hände schieben eine braun gewordene Landschaft wie einen Gullideckel nach oben. Darunter lugen zwei Augen hervor, versteckt vor der Welt. Über der Szenerie fliegt eine überdimensionierte Fliege und erweckt einen Eindruck von Verlorenheit. Bei der Diskussionsrunde „Berliner Pub Talk“ am Donnerstagabend drehte sich alles um Obdachlosigkeit.

Zu Gast in Cafe "En Passant" in Prenzlauer Berg waren Dieter Puhl als Leiter der Bahnhofsmission am Bahnhof Zoo und die Berliner Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke). Auch Robert Ide, Berlin-Ressortleiter beim Tagesspiegel, debattierte auf Einladung des Vereins Berliner Redekünstler mit. Gerade angesichts der kalten Wintermonate fand Puhl dabei immer wieder drastische Worte für das Leben wohnungsloser Menschen: „Es gibt kein Leben auf der Straße, es gibt in Berlin ein langsames Sterben auf der Straße.“ Auch die Bahnhofsmissionen stünden dem Leid laut Puhl machtlos gegenüber und „verzögert das Sterben mit Buttertörtchen“.

Ringen mit den Zahlen

Dabei ist es bereits schwierig, die Größe des Problems überhaupt zu benennen. Genaue Zahlen zur Menge der Wohnungslosen lägen laut Breitenbach nicht vor. Schätzungen gehen von 10.000 Menschen aus, die auf der Straße leben; die Senatorin sprach nur von etwa 6000. Alleine in kommunalen Unterkünften seien schließlich rund 50.000 Menschen untergebracht. Darunter fielen aber sowohl Wohnungslose, die in Einrichtungen untergebracht sind, als auch Frauen in Schutzhäusern und Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften. „Die sind schon untergebracht, damit man mal eine Vorstellung hat“, sagte Breitenbach. „Das sind aber noch nicht denjenigen, die wir nachts auf der Straße sehen“.

Hinzu kommt der Blick auf die Obdachlosen. „Die Hilfsbereitschaft ist da“, hielt Robert Ide vom Tagesspiegel fest. Das merke er an den Reaktionen auf Geschichten in der Zeitung; oft seien konkrete Hilfsangebote von Lesern dabei. Mit der alljährlichen Spendenaktion „Menschen helfen!“ habe man Millionenbeträge von Leserinnen und Lesern an sozial engagierte Vereine geben können und unter anderem den ersten Kältebus für Obdachlose in Not finanziert.

Der Fall Susanne Fontaine

Trotzdem sei laut Ide nicht jeder Obdachlose in der Wahrnehmung gleich. Berlin besäße eine Sogwirkung. Menschen kämen mit Hoffnungen aus Osteuropa nach Deutschland, fänden hier keine Arbeit „und wollen dann aber trotzdem nicht zurück, weil in Polen die Obdachlosen wie der letzte Dreck behandelt werden.“ Die Probleme würden sich dann hier verfestigen; zudem gebe es auch viele wohnungslose Flüchtlinge. Das Resultat sei die Verwahrlosung einiger öffentlicher Plätze und Parks. Das trage einerseits zur Angst der Bevölkerung bei. Gleichzeitig würden damit falsche Signale für die Wahrnehmung aller Obdachlosen ausgesendet. Im letzten Sommer habe etwa der Tod von Susanne Fontaine die Stadt stark emotionalisiert. Die Kunsthistorikerin war im Tiergarten in der Nähe eines Obdachlosencamps getötet worden. Mutmaßlicher Täter ist der gebürtige Tschetschene Ilyas A. Das Camp wurde danach unter starker Kritik geräumt.

Gewalt gegen Obdachlose

Auch den Zuhörern wurde die Möglichkeit gegeben, sich an der Debatte zu beteiligen. So beschwerte sich ein Zuschauer darüber, Obdachlose als ein Sicherheitsproblem darzustellen: „Obdachlosigkeit ist ein Sicherheitsproblem für die, die obdachlos sind – und zwar ein lebensgefährliches.“ So hat die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe für das letzte Jahr 17 getötete Obdachlose registriert. In 13 Fällen waren die Täter selber wohnungslos. Bei Körperverletzungen hingegen überwiegen die nicht-wohnungslosen Täter. Bei insgesamt 143 Fällen ging die Gewalt in 74 Fällen von Nicht-Wohnungslosen aus.

Mit schnellen Lösungen sei es laut Breitenbach aber schwierig. Sie selbst könne sich nicht einfach mit spontanen Finanzspritzen über das Abgeordnetenhaus hinwegsetzen. Fördergelder würden von einem Gremium festgelegt, in denen auch Wohlfahrtsverbände säßen. Man sei an Anträge gebunden und das sei auch gut so. So könnten Senatoren nicht einfach nach eigenen Vorlieben Mittel verteilen und Schlafsäcke an die Bahnhofsmission aushändigen, weil sie den Leiter mögen.

Modulare Unterkünfte gegen die Wohnungsknappheit

Auch hätten sich Gesamtstrukturen verschärft. Menschen könnten heute verpassten Mietzahlungen schneller aus ihren Wohnungen geklagt werden und würden häufiger in prekären Verhältnissen arbeiten. Migranten aus anderen EU-Ländern würden häufig bei den Beratungsstellen für Arbeitsausbeutung auftauchen, weil sie keinen Lohn bekommen hätten. Dennoch beharrte Breitenbach auf ihrer Devise, allen Obdachlosen in Berlin eine fest Unterkunft zu bieten. Eine mögliche Sogwirkung einer solchen Maßnahme bezeichnete sie als Spekulation, "das ist Voodoo", sagte sie.

Erschwert wird Breitenbachs Ziel durch die akute Wohnungsknappheit in Berlin. "Jeder hat ein Recht auf Wohnen - das ist zwar ein schöner Satz, davon sind man momentan allerdings weit entfernt", beklagte Breitenbach. Sie selbst sei deshalb eine große Freundin der modularen Unterkünfte. Diese werden aktuell für die Flüchtlingsunterbringung genutzt und ähneln klassischen Mehrfamilienhäusern. 25 davon sollen in Berlin bis 2021 errichtet werden – Platz für 10.000 Menschen.

Die spezielle Bauweise drückt den Preis. In drei Jahren könne man die neuen Wohnungen auch für Nicht-Geflohene öffnen, erklärte Breitenbach. „Dann haben wir einen super bezahlbaren Wohnraum geschaffen, den wir mit einem anderen Neubau gar nicht hinkriegen.“ Traditioneller Neubau hingegen sei für Menschen mit einem durchschnittlichen Einkommen gar nicht bezahlbar.

Dieter Puhl empfiehlt als erste Lösung den Blick ins eigene Umfeld. Die meisten Obdachlosen seien bereits vor der Wohnungslosigkeit sozial auffällig. Von seinem eigenen Küchenfenster habe er kürzlich gesehen, dass seine Nachbarin gegenüber ihr Fenster mit Zeitung zuklebt habe. „Das ist kein gutes Zeichen, wenn sich ein Mensch so zurückzieht.“ Man könne natürlich die Bahnhofsmission unterstützen. Sein Tipp an die Zuschauer: „Lassen Sie es. Kümmern Sie sich um ihren Nachbarn, der irre ist.“

Markus Lücker

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