Ethik-Expertin zum Anschlag in Frankreich: „Kritisches Material zeigen – sonst spielen wir dem Terror in die Hände“
Margret Iversen vom Fachverband Ethik über den Schock von Paris, Mohammed-Karikaturen, Glaube und Meinungsfreiheit – und deren Grenzen im Unterricht.
Frau Iversen, Sie sind Vorsitzende des Fachverbands Ethik in Berlin und haben bis zum Sommer an der Berliner Sophie-Scholl-Schule Ethik unterrichtet. Vergangene Woche wurde ein Lehrer in Frankreich mutmaßlich von einem tschetschenischen Islamisten enthauptet, weil er im Unterricht Mohammed-Karikaturen gezeigt hatte. Was haben Sie empfunden, als Sie davon erfuhren?
Mir ist es so gegangen wie wahrscheinlich sehr vielen Lehrern: Wir empfinden einen Schock. Das ist einer von uns. Es geht ans Herz.
Was wissen Sie über den Lehrer?
Schüler sagten, dass sie ihn mochten, weil er sich für ihre Belange interessierte. Er war beliebt, sein Unterricht interessant. Ein engagierter Lehrer. Da dachte ich: Wir wissen jetzt nur, dass er zum Opfer eines Fanatikers wurde. Aber wir wissen nicht, wie viele Schüler und Schülerinnen er zum Nachdenken gebracht hat. Wie viele mag gerade er immunisiert haben gegen fanatische Auffassungen? Das steht nicht in der Zeitung. Aber daran sollten wir denken!
Es wird jetzt vielerorts darüber diskutiert, wo die Grenzen verlaufen sollten, ob man zum Beispiel als Lehrer das Risiko eingehen sollte, den Glauben von Schülern zu verletzen.
Nein, man darf als Lehrkraft nicht den Glauben von Schülern verletzen. Aber man muss – zum Beispiel im Ethikunterricht – zur Diskussion stellen, wann und wie Glaube verletzt wird. Ich halte den Ethikunterricht für einen geschützten Raum, in dem es möglich sein sollte, über alles zu sprechen und auch solche Karikaturen zu zeigen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Schüler die Behandlung solcher Themen einfordern – etwa wenn in den sozialen Medien so etwas präsent ist. Man sollte sich dem im Ethikunterricht nicht verweigern. Schüler fordern die Auseinandersetzung. Ich staune immer, wie vielfältig die Meinungen sind, wenn sie erstmal geäußert werden. Eine gut gesteuerte Diskussion führt notwendig immer zu den Grundsätzen der Gleichheit und Fairness.
Gehen Sie davon aus, dass die Mohammed-Karikaturen auch in Berliner Schulen gezeigt wurden?
Es ist in unserem Land nicht verboten, diese Karikaturen als Unterrichtsmaterial einzusetzen – wie anders sollen Schüler und Schülerinnen sich eine eigene Meinung bilden können?
Aber die Lehrer wissen und wussten, dass in Europa Menschen sterben mussten wegen dieser Karikaturen. Lohnt sich das Risiko, sie dennoch im Unterricht zu zeigen?
Man sollte seine Schüler natürlich kennen und das entsprechend einschätzen. Aber man muss als Lehrer auch kritisches Material zeigen können. Sonst beugen wir uns der Gewalt und spielen dem Terror in die Hände. Wir können dem nicht nachgeben. Wir müssen die Meinungsfreiheit hochhalten.
Der Pariser Lehrer hat sich offenbar in der Einschätzung seiner Schüler geirrt. Eine der Schülerinnen hat es im Netz publik gemacht.
Ich sagte vorher, ich halte den Ethikunterricht für einen geschützten Raum. Tatsächlich ist er das durch die internetfähigen privaten Geräte nicht mehr, das ist wirklich eine neue Dimension. Der Täter war offenbar kein Schüler des Geschichtslehrers, er hat nur den denunzierenden Post eines Schülers benutzt, um sich den Lehrer als Opfer auszusuchen. Das ist furchtbar.
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Dennoch müssen wir Lehrkräfte diesen Raum gemeinsam mit der Schülerschaft gestalten: Die ethische Dialogführung ist eine der Kompetenzen, die wir im Ethikunterricht fördern. Der Schutz des Diskussionsraumes muss quasi gemeinsam erarbeitet werden.
Sicher gäbe es auch Christen, die es sich nicht gefallen lassen würden, wenn sich der Ethiklehrer beispielsweise über die unbefleckte Empfängnis lustig machen würde. Nochmal: Wo sind die Grenzen des Ethikunterrichts?
Ich verstehe die Frage nicht ganz. Sie scheint zu unterstellen, der französische Geschichtslehrer hätte sich über den Propheten Mohammed lustig gemacht. Das scheint mir völlig in die falsche Richtung zu gehen. Er hat das Material meines Erachtens als Anlass für eine Diskussion über Meinungsfreiheit genutzt. So wurde berichtet. Wenn es eine Ethiklehrkraft geben sollte, die sich so äußert, wie in Ihrem Beispiel, dann ist es eine schlechte Ethiklehrkraft. Es ist nicht ihre Aufgabe, sich über irgendwelche Glaubensinhalte lustig zu machen – es ist unsere Aufgabe mögliche Probleme aufzuzeigen: Wann schaden wir anderen?
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Ich musste an meiner Schule mit mehrheitlich nicht religiös sozialisierter Schülerschaft im Ethikunterricht eher Intoleranz gegenüber Gläubigen entgegentreten. Unwissen und Unkenntnis darüber, was Glaube überhaupt ist – und wie er sich vom Wissen unterscheidet. Da hilft die Ringparabel von Lessing immer noch. Unschlagbar dieser Dialog zwischen dem weisen Juden und dem muslimischen Herrscher!
In Deutschland gibt es nur sehr wenige Angebote für einen fundierten Islamunterricht. In Berlin werden wenige Schüler durch die Islamische Föderation erreicht, viele sind auf Koranschulen ohne ausgebildete Lehrer angewiesen. Wie kann man Fanatismus vorbeugen?
Ja, da wurde über Jahrzehnte viel versäumt. Gerade beginnt an der HU der Studiengang für islamische Religionslehrkräfte. Das ist ein Baustein. Aber ich finde es sehr bedauerlich, dass die terroristischen Anschläge von Fanatikern immer wieder das Misstrauen der deutschen Öffentlichkeit in die deutschen Muslime verstärken. Das ist die Folge von Unwissen, von fehlendem Dialog. Muslime müssen mitreden, überall in unserer Gesellschaft. Es gibt übrigens erfreulich viele Muslime und Muslima unter den Ethik-Referendaren und Referendarinnen.
In Berlin gibt es verpflichtenden Ethikunterricht nur ab Klasse 7. Plädieren Sie auch für ein vergleichbares Angebot in der Grundschule?
Ich halte eine ethische Grundbildung für alle Schüler und Schülerinnen für überfällig. Dass Berlin seit über zehn Jahren dieses Angebot für die gesamte Schülerschaft an den Oberschulen macht, ist ein ungemein wertvoller Schatz, den leider keine Pisa-Studie abzubilden weiß. Wir sind da allen Bundesländern weit voraus. In allen anderen Bundesländern wird Ethik als Ersatzfach für Religion angeboten – und fast überall von der Mehrheit der Schülerschaft gewählt. Die Schüler und Eltern haben längst mit den Füßen für Ethik als Pflichtfach für alle abgestimmt. Denn die Ethik des Zusammenlebens in der Demokratie geht über das eigene Glaubensbekenntnis hinaus. In allen Bereichen – selbst in der Informatik, den Bio-Wissenschaften et cetera – werden inzwischen Ethikkommissionen gebildet. Denn was unser Handeln bewirkt, kann der Einzelne immer weniger allein überblicken. Verantwortung zu übernehmen wird immer deutlicher erst möglich durch den Dialog. Wir brauchen eine gemeinsame ethische Grundbildung unabhängig von und neben dem konfessionsgebundenen Unterricht.