Hilferuf aus Berlins Gewerbegebieten: Kleinere Industriebetriebe fühlen sich vom Senat im Stich gelassen
14 Unternehmensnetzwerke aus lokalen Berliner Gewerbegebieten fühlen sich von der Politik vergessen. Sie fordern gemeinsam einen Entwicklungsplan - und mehr
Wohl keine der mehr als 1000 Berliner Firmen, um die es hier geht, ist so alt wie die Gasag (gegründet 1847) oder so groß und laut wie Zalando („Schrei vor Glück”). Sie haben auch nicht so griffige Namen, sie heißen beispielsweise Wurow Isoliertechnik GmbH oder SKF Lubrication Systems Germany AG. Touristen bekommen ihre Hallen praktisch nie zu sehen, weil sie nicht am Hackeschen Markt sitzen oder an der Oberbaumbrücke, sondern versteckt in Gewebegebieten im Nordosten, in Pankow. Oder am Stadtrand ganz im Süden, in Marienfelde und Lichtenrade, rund um die Motzener Straße. Wie unfreundlich das schon klingt.
Viele der dort ansässigen kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) sind locker in lokalen Netzwerken zusammengeschlossen, um sich über die dortigen wichtigen Themen und Anliegen auszutauschen. Es dreht sich dann mal um die gemeinsame Forderung an die Deutsche Bahn nach dem Ausbau einer S-Bahn-Station zum Regionalbahnhof, oder – wie in diesen Wochen – auch mal um den Aufbau und Organisation einer gemeinsamen Corona-Teststelle oder einer Impfstation für die Mitarbeitenden.
Bisher hatten diese privat organisierten Netzwerke und Interessensgemeinschaften wenig bis nichts miteinander zu tun. In diesem Wahljahr aber haben sich 14 dieser lokalen Vereine zusammengeschlossen und einen offenen Brief an die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker formuliert (hier im Wortlaut). So wird er zum Hilferuf einer wirtschaftlichen Großmacht: Die Unterzeichner vertreten zusammen 1049 Mitgliedsbetriebe mit insgesamt 74 000 Beschäftigten. Das sind mehr als die vier größten Arbeitgeber der Stadt, Deutsche Bahn, Charité, Vivantes und BVG, zusammen.
„Alle Industrie- und Gewerbebetriebe brauchen das Interesse der Politik” überschreiben Sie ihren Brief. Absender sind große Organisationen wie die Vereinigung Wirtschaftshof Spandau, das Unternehmensnetzwerk Moabit, das an der Mariendorfer Großbeerenstraße, das am Südkreuz oder Neukölln Südring – aber auch kleine, der wie Magerviehhof Friedrichsfelde im Bezirk Lichtenberg mit nur 16 Mitgliedern und 130 Beschäftigten.
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Ihre Vorsitzenden erkennen an, dass die Start-up Szene, innovative Dienstleister und eine wettbewerbsfähige Industrie neben der Gesundheitswirtschaft, dem Tourismus und der Kultur die wirtschaftlichen Säulen Berlins bilden. „Die Industrie”, klagen die Firmen, werde aber von der Politik gemeinhin mit bestimmten Branchen-Clustern und einer kleinen Zahl namentlich abgegrenzter sogenannter Zukunftsorte gleichgesetzt. „Die Berliner Wirtschaft besteht aber zu mehr als 90 Prozent aus KMU, die überwiegend in Industrie- und Gewerbestandorten ansässig sind, die mehr Aufmerksamkeit der Wirtschaftspolitik verdienen.“
Ein Beispiel: Vergangenen Dienstag informierte die Senatsverwaltung für Wirtschaft über die tatsächlich beeindruckende Jahresbilanz der Wista (Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort Adlershof), der Betreibergesellschaft für den größten dieser „Zukunftsorte“: Adlershof. Der dortige Technologiepark ist seit zwei Jahrzehnten ein Gewinnerthema. Die Politik schmückt sich gern damit. Viel zu schaffen hat die Verwaltung damit aber nicht, außer, dass sie die Wista finanziert und deren Chef beruft.
Anders als die meisten vom Senat definierten zehn Zukunftsorte sind die traditionellen Gewerbegebiete nicht unmittelbar mit einer Hochschule verbunden. „Die Zusammenarbeit mit Hochschulen und Forschungseinrichtungen hat auch in diesen Standorten Tradition“, erklären die Vertreter der Netzwerke. Und: Jeder Job in der Industrie sichere zwei bis vier Arbeitsplätze bei Dienstleistern. Die Firmen der Mitglieder böten Akademikern und typischen Facharbeitern Arbeit – aber auch Menschen mit der Fähigkeit, manuell zu Arbeiten. Soll heißen: Hier gibt es auch Jobs für einfache Angestellte mit und mitunter sogar ohne einfachen Schulabschluss. Das können die wenigsten digitalen Techfirmen von sich behaupten.
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„Alles, was an den Zukunftsorten stattfindet, findet auch bei uns statt”, sagt Ulrich Misgeld, Vorsitzender beim Unternehmensnetzwerk Motzener Straße. Die Politik bemühe sich um Ansiedelungen und großen Investitionsankündigungen wie rund um die Spandauer Siemensstadt. „Um die Bestandsunternehmen kümmert man sich nicht. Dabei sind unsere Mitglieder oft seit Generationen hier ansässige Familienunternehmen. Da käme niemand auf die Idee, kurzerhand einen ganzen Betrieb nach Ungarn zu verlegen.“
Die Netzwerker wollen ihren Aufruf nicht als Ausdruck einer gekränkten Eitelkeit verstehen wissen. Es geht um mehr, als wahrgenommen und lobend erwähnt zu werden in Sonntagsreden. Konkret fordern die Netzwerke von der Politik unter anderem Konzepte für die Bestandsgebiete mit Entwicklungsmöglichkeiten, eine Überprüfung der jeweiligen Verkehrsanbindung und Infrastruktur am jeweiligen Ort und Hilfe bei der Einrichtung eines Gewerbegebiets- oder Regionalmanagements dort, wo noch kein Netzwerk besteht.
Zudem wünschen sich die Vereine Hilfe bei der Entwicklung eines Marketingkonzeptes für die Standorte – auch mit Blick auf verfügbare Flächen, Angebote für Fachkräfte und Auszubildende. „Berlin braucht ein neues, gemeinschaftlich mit den Standorten entwickeltes, stadtweites Konzept für die Industrie- und Gewerbestandorte von morgen“, heißt es am Ende des Briefes an die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger. Das Konzept solle besonders ein nachhaltiges Wachstum der Berliner Wirtschaft mit mehr Industrie und einem erfolgreichen Mittelstand mit in Berlin angesiedelten Entscheidungsstrukturen fördern. Das alles klingt weder besonders aufregend oder flott – aber vielleicht nach einem guten Plan, und zwar nicht erst nach der Wahl.