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Pädophile Männer hatten über Jahre hinweg mit Hilfe von Berliner Jugendämtern Pflegekinder bekommen.
© Malte Christians/dpa

Bericht zum Missbrauch von Pflegekindern: Kentler-Experiment in Berlin dauerte länger als angenommen

Pädophile dürfen Pflegekinder in ihrem Haushalt missbrauchen – und der Staat schaut zu. Was wie eine Horrorvorstellung klingt, ist in Berlin passiert.

Die Jugend- und Schulsenatorin suchte nach Worten, um das Grauen angemessen zu beschreiben. „Ungeheuerlich“, „erschütternd“, „verachtend“, sagte Sandra Scheeres dann, sie ließ nichts aus. Aber es waren ja keine Übertreibungen.

Die Senatorin sprach über das so genannte Kentler-Experiment. Die fürchterliche Idee des Psychologen und Sozialpädagogen Helmut Kentler, mit Hilfe Berliner Jugendämter pädophile Männern Kinder und Jugendliche zur Pflege zu geben. Jahrzehntelang ging das so.

Jetzt haben Wissenschaftler, die den Fall Kentler und die Verantwortung staatlicher Behörden untersuchten, einen Zwischenbericht vorgelegt, am Montag wurde er in Anwesenheit von Sandra Scheeres vorgestellt. Die entscheidenden Fragen freilich bleiben, mangels Dokumenten und anderer Hinweise, unbeantwortet.

Wieso hat die Senats-Jugendverwaltung nicht reagiert?

Welche persönliche Verantwortung haben Jugendamts-Mitarbeiter? Und wer genau trug diese Verantwortung? Wieso hatte die Berliner Senats-Jugendverwaltung nicht reagiert, als Kentler 1988 eine ausführliche Mitteilung zur eigenen Arbeit veröffentlichte und die ganze grausame Problematik seines Experiments offenlegte? „Wieso wurde das in der Fachöffentlichkeit nicht weiter diskutiert? Das verwundert uns auch“, sagte Meike Baader vom Forschungsteam der Universität Hildesheim, das den Bericht erstellt hat. Der basiert auf den Aussagen von Betroffenen, von weiteren Zeitzeugen und von umfangreichen Recherchen in Dokumenten.

In den Jugendämtern herrschte Intransparenz

Die Wissenschaftler haben aber festgestellt, dass bei den Strukturen der Jugendämter über 50 Jahre hinweg Intransparenz herrschte und ein einheitliches Vorgehen bei der Kinder- und Jugendhilfe nicht zu erkennen war. Selbst ein Experte habe letztlich nicht den genauen Ablauf erklären können. Im Grunde genommen machte jeder Bezirk mit. Dabei waren die Gesetze klar, und das Jugendhilfegesetz wurde 1990 nochmal aktualisiert. Trotzdem wurde bis in die früheren 2000er Jahre Jugendliche von pädophilen Männern betreut. In der öffentlichen Diskussion wurden diese Taten häufig in die 1960er- und 1970er-Jahren verlegt. „Aber das ist eine historische Verkürzung“, sagte Wolfgang Schröer von der Universität Hildesheim.

Die Taten sind mittlerweile verjährt

Sandra Scheeres will aus der Expertise der Wissenschaftler – die noch einen Abschlussbericht vorlegen werden– vor allem lernen, „ob wir Strukturen ändern müssen und wie aus den Fehlern lernen können“. Eine Frage ist zum Beispiel, ob es weiterhin diese uneinheitliche Vorgehensweise bei der Jugendhilfe gibt. Scheeres konnte dazu nichts sagen, sie will dazu erst den Endbericht auswerten. Auch die Wissenschaftler haben dazu keine Erkenntnisse.

Zwei Geschädigte haben Anzeige gegen Unbekannt gestellt, die Jugend-Senatsverwaltung auch, aber die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen allerdings ein, weil sich keine individuelle Schuld habe feststellen lassen. Mehr könne sie jetzt nicht mehr machen, sagte Scheeres. Eine Zivilklage hätte sehr geringe Erfolgsaussichten. Die Taten sind verjährt.

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