Ermittlungen zu „Kentler-Experiment“ eingestellt: Pädophilen-Skandal in Berlin weiterhin ungeklärt
Bis 2003 haben Jugendämter Kinder in die Obhut pädophiler Männer gegeben. Nach den Verantwortlichen wird weiter gesucht. Doch die Aufarbeitung läuft schleppend.
Berge von Akten wurden gewälzt: Akten aus der Wohnung des verstorbenen Peinigers, Akten aus dem Jugendamt von Tempelhof-Schöneberg. Das Ende der Suchaktion ist ernüchternd: Die Ermittlungen wurden eingestellt. Die Rede ist von dem Versuch der juristischen Aufarbeitung eines Kindesmissbrauchs unter staatlicher Obhut: 30 Jahre lang bis mindestens 2003 gaben Jugendämter Kinder und Jugendliche zu pädophilen Pflegevätern.
Zwei der Geschädigten erstatteten bei der Staatsanwaltschaft Anzeige, die Senatsverwaltung für Jugend schloss sich an. Am Mittwoch teilte die Staatsanwaltschaft auf Anfrage mit, dass nun auch das letzte Ermittlungsverfahren eingestellt wurde. Im konkreten Fall geht es um einen Pädophilen, dem erst vom Jugendamt Kreuzberg und später vom Jugendamt Schöneberg mehrere Kinder und Jugendliche anvertraut worden waren.
„Es gibt keine Anhaltspunkte für die Mittäterschaft des Jugendamtsmitarbeiters“, erläuterte die Sprecherin der Staatsanwaltschaft, Mona Lorenz. Da der beschuldigte Pflegevater nicht mehr lebt, liefen auch in dieser Hinsicht die Ermittlungen ins Leere. Womit den beiden Opfern, die sich bisher gemeldet haben, nur der Weg einer Zivilklage bliebe – der allerdings wegen der Verjährung einer möglichen Mitwisserschaft der Ämter kaum Chancen zugemessen werden.
Was Stoff für die rund zweijährige Ermittlungen der Staatsanwaltschaft war, wurde 2013 unter dem Begriff „Kentler-Experiment“ öffentlich: Der Psychologe und Sozialpädagoge Helmut Kentler (1928-2008) hatte sich dafür eingesetzt, pädophilen Männern Jugendliche anzuvertrauen, die – etwa weil sie auf der Straße lebten oder von ihren Eltern Gewalt erfahren hatten – als besonders schwierige Fälle galten. Kentler begründete das Experiment damit, dass die Jugendlichen unter dem Einfluss der Männer sozial gefestigt werden könnten.
Ein Zwischenbericht soll im Oktober vorgelegt werden
Unklar ist bisher, welche Rolle die Senatsebene dabei spielte, die Idee Kentlers in die Tat umzusetzen. Jugendsenatorin Sandra Scheeres (SPD) hatte daher zwei Forschungsaufträge vergeben: Das erste Gutachten hatte – mangels umfassender Rechte auf Akteneinsicht – nicht alle Fragen klären können, aber erwiesen, dass es „ein Verbrechen war, Menschen in diese Obhut zu geben“, wie Scheeres bereits konstatierte und betonte, es sei „nicht nachvollziehbar, dass so etwas unter staatlicher Obhut passieren konnte“. Eben darum soll es im zweiten Gutachten gehen, das von der Universität Hildesheim erarbeitet wird. Ein Zwischenbericht soll im Oktober vorgelegt werden, wie Scheeres’ Sprecherin Iris Brennberger am Mittwoch ankündigte.
Dabei soll es auch um die Frage gehen, welche Strukturen und Verfahren das Wirken Kentlers ermöglicht haben. Genau diese Frage beschäftigt auch Roman Simon, den jugendpolitischen Sprecher der CDU. Er wollte deshalb im Rahmen einer Anfrage wissen, wer damals überhaupt Kontakt zu Kentler hatte und in diesem Zusammenhang unter Umständen die Weichen so stellte, dass mit dem „Experiment“ begonnen werden konnte. Zu diesem Zwecke fragte Simon auch nach dem Organigramm, also nach der damaligen Arbeitsverteilung in der Senatsjugendverwaltung.
Am Mittwoch wurden die Antworten von Jugend-Staatssekretärin Sigrid Klebba (SPD) auf Simons Fragen veröffentlicht. Allerdings nicht so, wie der Abgeordnete sich das erhofft hatte: Klebba verweist auf die Schwierigkeiten, im Landesarchiv fündig zu werden. Ein Organigramm wurde nicht geliefert, weshalb Simon am Mittwoch sagte, die Jugendverwaltung mache es sich „zu einfach“.
Brennberger wiederum verwies auf das zweite Forschungsvorhaben. Ihre Behörde habe zur Vorbereitung des Projektes mit dem Forscherteam zahlreiche Gespräche geführt sowie umfangreiches Material zur Verfügung gestellt. Zudem seien Hinweise auf weitere mögliche Fundstellen in den Bezirken gegeben worden. Im Oktober weiß man mehr – möglicherweise auch über die Gesamtzahl der Opfer.