Berliner Szenekneipe: Kampf um die Existenz
Eigentlich hätte die Neuköllner Kiezkneipe "Syndikat" zum 31. Dezember schließen müssen. Doch sie hat die Schlüsselübergabe verweigert.
Christian wischt noch einmal über den Tresen und bereitet das Syndikat auf einen ganz normalen Barabend vor. Ganz normal, wie irgendein Abend in den vergangenen 33 Jahren, fühlt es sich aber nicht an. Er rechnet mit einer vollen Bar und sollte, als einziger Barkeeper der Nacht, eigentlich etwas angespannter wirken angesichts der zu erwartenden Menschenmenge. Den größten Stress des Tages aber hat er bereits hinter sich.
Gegen 10 Uhr am Mittwochmorgen, 2. Januar, war die Hausverwaltung da, um die Schlüssel zur Kiezkneipe entgegenzunehmen. Unverrichteter Dinge musste die kleine Delegation aber wieder abziehen, sagt Christian, der die Übergabe platzen ließ. Der Mietvertrag war zum 31. Dezember ausgelaufen und wurde nicht verlängert. Eigentlich hätte schon dies genügt – dennoch landete Anfang Juli ein ausdrückliches Kündigungsschreiben im Syndikat-Briefkasten, Mitte September dann ein weiteres Schreiben, das mitteilte, die Situation sei nicht verhandelbar. Eine Begründung wurde nicht genannt, war rechtlich auch nicht nötig, weil Gewerberäume im Gegensatz zu Wohnungen nicht unter dem prinzipiellen Milieuschutz stehen. Eine fragliche Gesetzeslage die zwischen unterschiedlichen Gewerben nicht differenziert. Welche wichtige Rolle das Syndikat für sein Milieu spielt, wird auch in den folgenden Stunden deutlich. Als Christian um Punkt 19 Uhr die Eingangstür aufsperrt flutet eine schon wartende Menschenmenge die Räume innerhalb von Minuten – „wir hätten wohl reservieren sollen“, scherzen zwei Spätkommer.
„Seit ich schwanger bin, gehe ich eigentlich nicht mehr in Bars, aber heute ist halt besonders“, sagt eine Besucherin im achten Monat. Denn eigentlich sollte das Syndikat heute gar nicht mehr sein. „Zombiekat!“ hatte jemand unter die Ankündigung der Kneipe, wie gewohnt „Feierabendbier“ auszuschenken, getwittert.
Bar-Betreiber protestierten in London
Vor zwölf Jahren ist Christian, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte, nach einigen bewegten Jahren, dem Syndikat-Kollektiv beigetreten und hatte von Anfang an das Gefühl, hier ein Zuhause gefunden zu haben. Als die Kündigung kam, ging ein Schock durch die Reihen derer, die wie Christian einen erheblichen Teil ihres jungen Lebens in diese Idee investiert hatten. Die Schockstarre hielt nicht lang an: Bald begannen die Syndikatler mit der Ermittlung der Hauseigentümer, um mit ihnen zu reden, alternative Lösungen zu finden. Was so einfach klingt, erwies sich bald als nahezu unmöglich. Hinter dem Vermieternamen Firman Properties S.A.R.L. im Mietvertrag steckt nämlich nur eine Luxemburger Briefkastenadresse – und zwar eine, die auch 75 anderen Firmen als Scheinsitz diente und die, über weitere Nachforschungen, schließlich zum britischen Immobilienriesen William Pears Group führte.
Am 18. Dezember stand Christian nach eigener Aussage mit drei anderen Syndikatlern vor der Tür des Firmensitzes in London, um das Gespräch mit den Gebrüdern Pears zu suchen, ihnen eine Liste mit 4000 Unterschriften gegen die Schließung vorzulegen und darauf zu verweisen, dass die Arbeit des Syndikat Kollektivs durchaus im Sinne der Pears Foundation ist, einer wohltätigen und ebenfalls von den Pears Brüdern gegründeten Stiftung. Es gehe darum, wohltätiges Engagement global zu fördern, Organisationen zu unterstützen, die insbesondere jungen Menschen helfen, welche sich besonders harten Herausforderungen („tough challenge“) gegenüber sehen, ist auf der Homepage der Stiftung zu lesen. Aktueller Vorstandsvorsitzender der Stiftung ist der zum Ritter geschlagene Philanthrop Sir Trevor Pears, der zugleich auch im Aufsichtsrat der Pears Global sitzt.
Keinen der drei Milliardäre habe die Syndikat-Delegation angetroffen, sagt Christian, die Annahme des Briefes mit 4000 Unterschriften wurde „aus Sicherheitsgründen“ verweigert, ein Sprecher der Pears Gruppe habe den Syndikatlern den Rat gegeben, sich einfach eine andere Lokalität in der Stadt zu suchen, Berlin sei doch billig. Aus Londoner Perspektive stimmt das wahrscheinlich sogar. Presseanfragen zum Syndikat blockt die Pears-Gruppe ab.
Dutzende Briefkastenfirmen
„Die haben uns offenbar nicht erwartet“, sagt Christian, „obwohl wir ihnen geschrieben und unser Kommen über mehrere Kanäle angekündigt hatten – dass da tatsächlich Menschen auftauchen würden, haben die nicht für möglich gehalten.“ Wahrscheinlich passiert das auch eher selten bei einer Firma, die auf so hoher Ebene operiert, hinter einer Struktur aus Tochtergesellschaften, Briefkastenfirmen und Hausverwaltungen, dass ihr unmöglich die Existenzen von Mietern am anderen Ende bekannt sein können. Wie hoch diese Ebene ist, lässt sich nur erahnen, da nicht alle Geschäftsdaten öffentlich gemacht werden müssen. Sie ist aber hoch genug, dass, einer im Guardian veröffentlichten Liste zufolge, David Pears, einer der drei Brüder, eine Einladung zum Presidents Club Dinner 2018 erhalten hatte, einer ausschließlich den kapital- und einflussstärksten Männern Englands vorbehaltenen Benefiz-Veranstaltung, die zuletzt im Rahmen der MeToo-Debatte Schlagzeilen ausgelöst hatte. Die einzigen beim Dinner willkommenen Frauen seien nämlich Hostessen gewesen, die man zuvor angewiesen habe, „sexy“ gekleidet zu erscheinen. Nach der Veranstaltung hatten sie von sexuellen Avancen, Übergriffen und Angeboten berichtet, was zur Auflösung der Traditionsveranstaltung führte. Pears Teilnahme an der Veranstaltung ist nicht bestätigt, ebenso wie seine Brüder und das Unternehmen, scheut er das Licht der Öffentlichkeit gemeinhin. Fast erscheint gar der Name William Pears wie ein Teil der Verhüllungsstrategie: Sucht man im Netz nach ihm, findet man kein Familienmitglied, dafür aber zahlreiche Treffer für Rezepte mit Williams Birnen, weil Pears eben Birnen bedeutet.
Auch im Schillerkiez selbst trifft man dieser Tage immer wieder britische Journalisten, die inzwischen auf den Fall aufmerksam geworden sind. Gegen 23 Uhr steht Christian hinter dem langen Tresen mächtig unter Strom, ist aber sichtbar glücklich über den Andrang. Noch hofft er auf ein Einlenken der Vermieter, darauf, dass sie erkennen wie vielen Menschen sie gerade im Begriff sind, etwas wegzunehmen. „London Calling“, London ruft (an), der Clash-Titel aus der Urzeit des englischen Punks, ist heute aber nicht zu hören. Statt der bisherigen Miete zahlt das Syndikat jetzt und bis auf Weiteres ein Nutzungsentgelt in gleicher Höhe.
Rechtlich somit vorerst in einer Grauzone schwebend, wirkt die Bar in dieser Nacht aber alles andere als zombiehaft. Die Stimmung ist ausgelassen, offensichtlich sind viele der Anwesenden miteinander vertraut – wohl nicht zuletzt durch diese Bar mit einem festen, über 33 Jahre gewachsenen Kern an Stammgästen. Die Frau im achten Monat und ihr Freund haben sich vor Jahren hier kennengelernt. Eine andere bekennt, dass sie die Bar als solche eigentlich nie recht mochte, sich aber als Anwohnerin durch die Bar sicher fühle, weil hier immer jemand sei, der sich kümmere.
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