Wohnungskrise in der Hauptstadt: Ist in Berlin der Sozialismus ausgebrochen?
Berliner Politiker denken laut über die Enteignung von Immobilienkonzernen nach. Ein gefährlicher Tabubruch, warnen Firmen und Wissenschaftler.
Ist Florian Schmidt ein Sozialist? So ganz sicher scheint sich der Baustadtrat aus dem Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg hinsichtlich seiner politischen Verortung nicht zu sein, weshalb er genau diese Frage am Neujahrstag per Twitter der Welt stellte. Was ihn dazu bewog, darüber lässt sich nur spekulieren, vermutlich aber waren es die hitzigen Diskussionen, die seine Wohnungspolitik seit Wochen provoziert.
Millionenbeträge hat der Grünen-Politiker bereits dafür ausgeben lassen, Wohnungen in seinem Bezirk zu rekommunalisieren, sprich: zu verstaatlichen. Und viele weitere Millionen dürften es in Berlin noch werden. Denn wenn es um die Wohnungspolitik in der Hauptstadt geht, ist der Grünen-Politiker mittlerweile zum Spiritus rector aufgestiegen: Die Verstaatlichung von privaten Immobilien – zur Not auch durch Enteignung – wird mittlerweile von allen Koalitionsparteien im rot-rot-grünen Senat unterstützt.
Ob in der Hauptstadt der Sozialismus ausgebrochen ist, darauf mag sich Dirk Enzesberger, Vorstand der Charlottenburger Baugenossenschaft, nicht festlegen. Er drückt es etwas vorsichtiger aus: „Die Debatte rüttelt an den Grundfesten unserer Wirtschaftsordnung“, sagt er. „Wenn jedes Unternehmen, dessen Gebaren der Politik missfällt, künftig eine Enteignung fürchten muss, gefährden wir den Wohlstand und wirtschaftlichen Erfolg unserer Republik.“
Enzesberger spielt damit auf die immer lauter werdenden Forderungen im Senat an, private Immobilienkonzerne wie Vonovia oder die Deutsche Wohnen zu enteignen. Die Linkspartei hatte einen solchen Schritt bereits auf ihrem Parteitag im Dezember 2018 gefordert – gefolgt von Grünen-Fraktionschefin Antje Kapek, die ihn vergangene Woche für „besonders krasse Fälle“ guthieß. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller zog seinerseits nach: „Das ist der dritte, vierte oder fünfte Schritt“, sagte der Sozialdemokrat.
Unternehmer in Sorge
Der Zorn unter Berliner Unternehmern ist daher groß. „Ich kann gut nachvollziehen, dass sich Menschen von der Entwicklung am Immobilienmarkt bedroht fühlen“, sagt Enzesberger. Die Politik stelle mit der Deutschen Wohnen aber ein Unternehmen an den Pranger und verliere dabei völlig das Augenmaß. „Man muss nicht gut finden, wie die Deutsche Wohnen agiert, aber sie agiert, soweit ich das einschätzen kann, nach Recht und Gesetz – so wie das Gros der Immobilienunternehmen in der Stadt.“ Dem Senat stünde es daher offen, die gesetzlichen Rahmenbedingungen anzupassen oder die Kontrollen zu verschärfen. „Die Verstaatlichung von privatem Eigentum aber ist ein tiefer Eingriff in die Grundrechte, der nicht willkürlich erfolgen darf.“
Enzesberger ist kein Einzelfall, wie ein Anruf beim Branchenverband deutlich macht. „Wir halten das für populistische Stimmungsmache“, kommentiert David Eberhart, Sprecher beim Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen, die Vergesellschaftungspläne. „Das Problem auf dem Berliner Immobilienmarkt ist die große Nachfrage und das geringe Angebot. Und da hilft nur: bauen, bauen, bauen!“ Das aber behindere der Senat: „Es gibt große Freiflächen in der Stadt, beispielsweise die Elisabeth Aue oder das Tempelhofer Feld“, der Senat unternehme aber nichts, um dort den Wohnungsbau voranzutreiben. „Wenn jetzt ausgerechnet Teile der Grünen eine Enteignung fordern, die ihrerseits die Elisabeth Aue für Biolandbau freigeben möchten, zeigt das doch sehr deutlich, wo die Prioritäten des Senats liegen.“
Beatrice Kramm, Präsidentin der Industrie- und Handelskammer, warnt ihrerseits vor den Folgen der Senatspläne: „Was derzeit geschieht, ist aus Sicht der Wirtschaft eine ernsthafte Gefahr für die weitere Entwicklung der Stadt“, sagt sie. „Denn welcher private Bauherr möchte angesichts der hier grassierenden Unwillkommenskultur noch in Berlin investieren? Schon jetzt gibt es mittelständische Investoren aus anderen Bundesländern, die um Berlin lieber einen Bogen machen."
Doch ist die Aufregung der Unternehmer überhaupt angebracht? Nicht unbedingt, wenn man bei Experten nachfragt. „Was da angedacht wird, hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie gegeben“, sagt der Potsdamer Staatsrechtler und Universitätsprofessor Thorsten Ingo Schmidt. Dem Land Berlin fehle bislang sogar die Grundlage dafür. „Erstmal müsste ein Gesetz her, das es weder in Berlin noch im Bund bislang gibt“, sagt Schmidt, der geschäftsführender Direktor des Kommunalwissenschaftlichen Instituts der juristischen Fakultät der Potsdamer Universität ist.
Enteignung dürfte juristisch unmöglich sein
Denn: „Wollte man einem Immobilienkonzern tausende Wohnungen abnehmen, ist das etwas anderes als die Enteignung eines Grundstücks, das dem Neubau einer Bahnlinie oder Autobahn im Weg steht“, sagt Schmidt. Letzteres könne der Staat im Rahmen der Güterbeschaffung ohne größere Probleme machen. Schmidt: „In solchen Fällen nimmt der Staat einzelnen Bürgern etwas weg, weil er es selbst braucht.“ Doch bei der Enteignung im großen Stil müsse man von einer „Umgestaltung der Wirtschaftsverfassung in einem Teilbereich“ sprechen. Theoretisch sehe das Grundgesetz das vor. Praktisch sieht Schmidt nahezu unüberwindliche Hürden.
Jurist Schmidt: „Das geht nur, wenn es kein milderes Mittel gibt und wenn der Senat zuvor alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um seine Ziele zu erreichen.“ Daran zweifelt der Staatsrechtler und stellt Fragen: „Hat Berlin wirklich genug eigene Wohnungen gebaut, bevor es nun überlegt, zu solch drastischen Mitteln zu greifen? Hat der Senat außerdem genug landeseigene Grundstücke zur Bebauung freigegeben?“
Fragen, die Unternehmer Dirk Enzesberger mit Nein beantwortet: „Das Land wird seiner Aufgabe nicht gerecht, genügend Bauflächen bereitzustellen. Bis in Berlin Bauland ausgewiesen wird, verstreicht noch immer viel zu viel Zeit.“ Dementsprechend übersteige die Nachfrage das Angebot um Längen.
Das sei auch sozial ungerecht: „Denn diejenigen, die es sich leisten können, bekommen ihre Wohnungen. Der Rest schaut in die Röhre“, sagt er. „Wir und viele andere Genossenschaften würden gerne mehr bauen, der Senat hilft uns aber nicht dabei. Würde die Verwaltung ihren Job schneller erledigen, würden wir diese Debatte über Enteignung überhaupt nicht führen.“
Ein teures Abenteuer?
Tatsächlich wäre eine Enteignung nicht zuletzt ein kostspieliges Abenteuer. „Die Entschädigung der bisherigen Eigentümerin müsste sich am Marktwert der Wohnungen orientieren“, gibt Staatsrechtler Thorsten Ingo Schmidt zu bedenken. Es würden also Milliarden für Bestandswohnungen ausgegeben, ohne dass ein Quadratmeter neuer Wohnraum entsteht.
Genau das soll auch bald an der Karl-Marx-Allee passieren. Allerdings nicht über eine Enteignung, sondern via Vorkaufsrecht. Der Senat und die dem Land Berlin gehörende Gewobag stimmten zum Jahresende 2018 einem juristischen Stunt zu, den Jurist Schmidt mit Stirnrunzeln betrachtet. Um die Deutsche Wohnen auszubooten, die rund 700 Wohnungen von der bisherigen Eigentümerin Predac Immobilien Management AG kaufen möchte, soll es zu einem „gestreckten Erwerb“ kommen.
Da das Vorkaufsrecht eigentlich nur den Mietern zusteht, wird auf die zweifelhafte Konstruktion zurückgegriffen. Sie sieht vor, dass die Mieter zunächst als Käufer auftreten, sie aber unmittelbar nach dem Kauf ihre Wohnung an die Gewobag weitergeben. Dabei wird, das nehmen der Senat und Friedrichshains Baustadtrat Florian Schmidt gerne in Kauf, zweimal Grunderwerbsteuer fällig.
Jurist Schmidt: „Diese Gestaltung würde man einem Notar als Beratungsfehler ankreiden.“ Kritisch sieht Schmidt auch die Rolle der Gewobag-Chefetage: „Die haben als Vorstand einer Aktiengesellschaft ausschließlich das Interesse der AG zu berücksichtigen.“ Dass die doppelte Grunderwerbsteuer im Interesse der AG sei, bezweifelt Schmidt. „Der Vorstand wäre gut beraten, sich zu informieren, ob das nicht den Tatbestand der Untreue erfüllt.“
Die Langzeitrecherche „Wem gehört Berlin“ ist eine Kooperation des Tagesspiegels mit dem gemeinnützigen Recherchezentrum Correctiv. Auf unserer Plattform wem-gehoert-berlin.de können Sie uns mitteilen, wer Eigentümer Ihrer Wohnung ist, und welche Erfahrungen Sie mit Ihrem Vermieter gesammelt haben. Mithilfe der Daten suchen wir nach unverantwortlichen Geschäftspraktiken und machen den Immobilienmarkt transparenter. Eingesandte Geschichten werden nur mit Ihrer Einwilligung veröffentlicht.
Für Unmut sorgt noch ein weiterer Deal, den die Landesregierung angeschoben hat. Der Regierende Bürgermeister Müller hatte am vergangenen Freitag angekündigt, 65.000 Wohnungen von der Deutschen Wohnen zurückzukaufen, die einstmals Eigentum der kommunalen Wohnungsgesellschaft GSW waren.
„Angesichts der Rückkaufspläne des Regierenden dürfte sich allenfalls ein Beteiligter ins Fäustchen lachen: die Deutsche Wohnen“, sagt Markus Voigt, Präsident des Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller (VBKI). „Das dürfte ein Bombengeschäft werden: günstig einkaufen, teuer verkaufen. Die Fäuste ballen dürften alle Berliner, die Steuern zahlen, in einer funktionierenden Stadt leben wollen und an einer Entlastung des Wohnungsmarkts Interesse haben.“
Auch Michael Kunert, der für die Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK) die Region Berlin und Brandenburg betreut, geht davon aus, dass sich das Immobiliengeschäft nicht zu Gunsten der Berliner erweisen dürfte. „Von der Deutschen Wohnen dürfte es in nächster Zeit ein Angebot für Einzelobjekte geben, die dem Konzern nicht in das Portfolio passen – natürlich zum Marktpreis“, sagt er. Einen kompletten Rückkauf hält er aber für ausgeschlossen: „Der Vorschlag ist bloßer Populismus wider besseren Wissens.“
Es sind dabei nicht nur Juristen, auch Wirtschaftswissenschaftler sehen den Kurs des Senats kritisch. An der Freiburger Universität lehrt Professor Lars P. Feld Wirtschaftspolitik und Ordnungsökonomik. Er sieht die Hauptstadt in einer „typischen Interventionsspirale, die immer dann entsteht, wenn der Staat versucht, Preise festzulegen“. Da das nicht gelinge, komme nach Mietpreisbremsen, Milieuschutz und Vorkaufsrecht dann irgendwann logischerweise die Verstaatlichung über Enteignungen dran. Doch das richtig dicke Ende käme erst danach.
Richtig schlimm würde es, wenn nach dem Ende des Wirtschaftsbooms die Einnahmen des Staates nicht mehr sprudeln wie bislang. „Dann“, sagt Feld, „muss die Stadt sich weiter verschulden, um ihren Wohnungsbaugesellschaften das Geld zuzuschießen, das die benötigen, um die Wohnungen instand zu halten. Schließlich sollen diese ja zu sozial verträglichen Mieten anbieten, was aber nicht ausreichen wird, um die Kosten der Instandhaltung angesichts hoher regulatorischer Lasten, etwa hinsichtlich der Energieeffizienz, zu decken.“
Doch trotz aller ökonomischer Bedenken und juristischer Fallstricke: Auf Unterstützung im Senat brauchen die Berliner Unternehmer derzeit nicht hoffen. Nicht einmal von Wirtschaftssenatorin Ramona Pop. Gefragt, ob sich die Grünen-Politikerin zur Enteignungs-Debatte äußern wolle, die derzeit die Unternehmer besorgt, antwortet eine Sprecherin kurz angebunden: Frau Pop sei Montag und Dienstag nicht im Hause, „daher wird sie kein Statement hierzu geben.“
Aus der Opposition gab es für die Tauchfahrt der Senatorin Kritik: „Die Wirtschaftssenatorin muss glasklar machen, dass Enteignungen von Unternehmen unvorstellbar sind“, sagt Christian Gräff, wirtschaftspolitischer Sprecher der CDU. „Das ist eine rote Linie für Demokraten.“ Angesichts der Enteignungsträume von Grünen wie Antje Kapek und Florian Schmidt sieht er mittlerweile die Koalitionsfähigkeit der Partei in Gefahr: „Die Grünen sind kurz davor, sich zu einer linksradikalen Sektierergruppe zu entwickeln.“
Und damit wären wir wieder beim Kreuzberger Baustadtrat Florian Schmidt. Ist er nun ein Sozialist? Professor Michael Hüther vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) antwortet: „Wenn man einfach mal so und jenseits der im Grundgesetz vorgesehenen Möglichkeiten Enteignungen ins Spiel bringt, ist man nicht weit davon entfernt.“
Die großen Wohnungsbestände seien den Wohnungskonzernen schließlich nicht durch unlautere Mittel in die Hände gefallen. „Wir haben es hier mit einer zunehmenden Entkoppelung von unserer Wirtschaftsordnung zu tun“, sagt Hüther. Schmidt und seine Kollegen im Senat unterstellten pauschal, dass marktwirtschaftliches Handeln unmoralisch sei. „Das sollte man aber nur tun, wenn die Regeln nicht stimmen.“ Zusammengefasst lautet die Antwort auf Schmidts Frage daher wohl: Jein.