Plagiate in der Doktorarbeit: Ist Franziska Giffey eine Kandidatin auf Abruf?
Plagiat oder "minder schwer"? Die Berliner SPD bangt um ihre Hoffnungsträgerin - und Franziska Giffey gibt sich demonstrativ gelassen.
Es sollte ein Aufbruch werden mit Signalwirkung für die ganze Republik. Auf einem hybriden Digital-Parteitag wollte die Hauptstadt-SPD in drei Wochen ihre neuen Hoffnungsträger küren und sich zu „Vorreitern der digitalen Parteiarbeit“ aufschwingen.
Doch für Franziska Giffey und die ganze Berliner Sozialdemokratie droht daraus ein Höllenritt zu werden. Seit die Freie Universität das Plagiatsverfahren gegen die designierte Co-Vorsitzende und Bundesfamilienministerin wieder eröffnet hat, ist völlig unklar, wie es weitergeht.
Die Maßgeblichen enthielten sich denn am Samstag auch erst mal aller öffentlichen Kommentare. Bei der SPD schwiegen sie ratlos, bei anderen Parteien still feixend. Der "Welt am Sonntag" sagte Giffey selbst dann lediglich knapp: „Ich sehe der Sache gelassen entgegen.“
Auch in Giffeys Bezirksverband Neukölln macht sich der Frust vorerst nur hinter vorgehaltener Hand Luft. Er richtet sich vor allem gegen die Hochschule. Es sei sehr seltsam, dass die Entscheidung, den Fall neu aufzurollen, gerade so kurz vor Giffeys Wahl gefällt worden sei, sagt einer.
Ein anderes SPD-Mitglied aus Neukölln sagt: „Ich bin persönlich sehr irritiert über das Vorgehen der FU.“ Dass deren höchstes Gremium keine verlässlichen Entscheidungen treffen könne, spreche nicht für die Universität. „Schließlich“, sagt der Mann, „gibt es keinen neuen Sachverhalt, der das Vorgehen rechtfertigen würde.“
Ist der Plagiatsfall Giffey "minder schwer"?
Ganz so ist es aber nicht. Den Sachverhalt, so hat die FU es selbst erklärt, liefert das jüngste Gutachten des Verwaltungsrechtlers Ulrich Battis. Dieser kommt zu dem Schluss, dass die Freie Universität Berlin in Plagiatsverfahren grundsätzlich sehr wohl eine Rüge aussprechen darf – auch wenn diese Maßnahme nicht im Berliner Hochschulgesetz explizit verankert ist. Diese sei nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei minderschweren Fällen das angemessene Mittel, ja sogar geboten. Zum Fall Giffey äußert sich Battis in dem Gutachten nicht. Trotzdem hat es Folgen. Denn es war für die Hochschule offenbar der Anlass, Giffeys Doktorarbeit erneut zu prüfen. Wie lange das dauert – ungewiss, denn für die Anwendung des Rechtsbegriffs "minder schwerer Fall" gibt es Vorbilder in anderen Plagiatsverfahren, die beachtet werden müssen . Ob die Universität vor dem 27. September mit dem Prüfen fertig wird – erst recht offen.
Spitzenkandidatin in spe auf Abruf
Läuft es schlecht für die Sozialdemokraten, wählen sie neben Fraktionschef Raed Saleh also eine Co-Vorsitzende zur Nachfolgerin von Michael Müller, die jeden Moment damit rechnen muss, von ihrer akademischen Vergangenheit eingeholt zu werden.
Läuft es ganz schlecht, dann müssen sie sogar erst mitten im Wahlkampf eine oder einen neuen Spitzenkandidaten finden. Das jedenfalls halten kluge Köpfe im Landesverband für unausweichlich, sollte Giffey der Doktortitel aberkannt werden. Sie verweisen auf Giffeys frühere Aussagen, sie werde als Bundesministerin zurücktreten, sollte sie den akademischen Grad verlieren.
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Den im Bund gesetzten Maßstab auf Landesebene zu ignorieren, könne sich die Wahlkämpferin erst recht nicht leisten, heißt es in der Partei. Doppelte Standards seien den Wählerinnen und Wählern kaum zu vermitteln.
Das gilt doppelt und dreifach für Giffey. Die frühere Neuköllner Bürgermeisterin bezieht ihr politisches Kapital aus dem Ruf der aufrichtigen Streetworkerin, die die Bürger ernst nimmt und sich unideologisch um ihre Alltagssorgen kümmert. Der Typus ist selten geworden. Als erfolgreiche Spitzenkandidatin und Regierende Bürgermeisterin könnte sie fast automatisch in die knappe Führungsreserve auch auf Bundesebene einrücken; selbst eine ehrenwerte Niederlage – nach Stand der Umfragen derzeit das Wahrscheinlichste – wäre nicht das Aus für zukünftige bundespolitische Ambitionen.
Ein "gravierender Einschnitt" für die Hauptstadt-SPD
Ein entzogener Doktortitel wäre es. Entsprechend trübe ist die Stimmung in der SPD. Von „Nervosität und Ratlosigkeit“ ist die Rede. Für Giffeys Ambitionen sei der Vorgang ein „gravierender Einschnitt“. Es wird telefoniert, aber der Landesvorstand, heißt es, habe sich noch nicht mit der Lage befasst. Auch Sprachregelungen, etwa bei Anfragen von Journalisten, fehlten bisher.
Dass Giffey ihre Kandidatur für den Landesvorsitz von sich aus zurückziehen könnte, wird derzeit als wenig wahrscheinlich eingeschätzt. Dies sei allenfalls denkbar, wenn die FU vorher zu ihren Ungunsten entscheide, sagt ein Sozialdemokrat.
Andere halten es sogar für vorstellbar, dass das designierte Führungsduo jetzt im Gegenteil noch entschiedener auf eine schnellstmögliche Wahl von Giffey zur Spitzenkandidatin drängen könnte. Dass sich Giffey und Saleh damit durchsetzen würden, ist aber nicht ausgemacht. Beide hatten zuletzt schon vergeblich versucht, den Termin für den Landesparteitag auf dem ersten Corona-Ausweichtermin am vergangenen Wochenende zu belassen.
Die Mehrheit der Kreischefs und des Landesvorstands war aber für die Verschiebung. Ob der frühere Termin im Licht der schlechten Nachrichten vom Freitag doch der bessere gewesen wäre – die Delegierten hätten dann wenigstens unbeschwerten Herzens der Hoffnungsträgerin zujubeln können – bleibt eine eher akademische Frage. Ob es überhaupt für Jubel reicht? Ein erfahrener SPD-Parlamentarier glaubt, man könne in jedem Fall mit Giffey in die Wahl ziehen – die Konkurrenz werde das Doktor-Thema ausschlachten, aber mit ihrer „gewinnenden Art“ habe sie alle Chancen.
Nachdenken über Notlösungen
In der Partei wird aber vorsichtshalber schon darauf verwiesen, dass der Landesvorsitz formal gar nicht mit der Spitzenkandidatur verknüpft sei. Man könne bei einem Nominierungsparteitag also später notfalls immer noch eine Alternative ins Rennen schicken.
Ein erster Name kursiert bereits. Als Konsenskandidat, heißt es, käme Andreas Geisel in Frage. Der Innensenator sei eines der wenigen sozialdemokratischen Senatsmitglieder, das zumindest einer gewissen Beliebtheit erfreue. Eine Notlösung bliebe das. Die Genossen hoffen, dass sie sie nicht ziehen müssen.
Doch in der Wissenschaft, diese Erfahrung haben schon andere nunmehr Ex-Doktoren von Bundesministern abwärts machen müssen, zählen politische Kriterien wenig. Man habe, klagt denn auch ein Sozialdemokrat, die Dinge einfach nicht mehr selber in der Hand.
In einer früheren Version dieses Artikels gab es Formulierungen, die den Eindruck erweckten, der Verwaltungsrechtler Ulrich Battis habe sich in einem Gutachten direkt zur Doktorarbeit von Bundesministerin Franziska Giffey und zu ihrem Verzicht auf den Doktortitel geäußert. Dies ist nicht der Fall. Zum Fall Giffey äußerte sich Battis in dem Gutachten nicht. Trotzdem hat es, wie es im Text heißt, Folgen auch im Fall Giffey.