Schweigeminute für französischen Lehrer Paty: „In welcher Welt leben wir eigentlich, Alter?“
Schulen haben am Vormittag in Gedenken an den ermordeten Lehrer Samuel Paty eine Schweigeminute abgehalten. Wie kommt das bei Schülern in Kreuzberg an?
Explosionsartig dringt das Kindergeschrei vom Sportplatz durch das herbstlich-nasse Grün, das die Carl-von-Ossietzky-Schule in Kreuzberg umgibt. An einem Beton-Tisch spielen mehrere Jungs mit einem rot-blauen Basketball Tischtennis. Daneben auf dem großen Fußballplatz schießen ein paar Jugendliche Tore. Ihre lauten Rufe hören sich mal stolz und mal ärgerlich an.
Doch um 11.15 Uhr an diesem Montag kehrt Stille ein, zumindest für einen kurzen Moment: Schulleiter Michael Dahms hat eine Schweigeminute angekündigt – im Gedenken an den ermordeten Lehrer Samuel Paty. So wie zeitgleich in Frankreich und vielerorts in Deutschland. Kurz danach wird zur Pause geläutet. Sofort strömen Jugendliche aufs Gelände, eine von ihnen bleibt vor dem Tor stehen.
Die 15-jährige Mariam sagt, die Schweigeminute sei gut verlaufen. „Wir haben so dem Menschen, der gestorben ist, Respekt gezeigt.“ Er habe diesen Respekt verdient, findet sie. Ein Junge unterbricht sie und macht Späße. Er nennt sich Travis Scott - vermutlich nach einem US-amerikanischen Rapper - und fand die Schweigeminute vor allem deshalb „toll, weil es nur eine Minute war.“ Hätte es länger gedauert, wäre die Stimmung traurig geworden, sagt der Sechzehnjährige, plötzlich ernst.
In ihrer Klasse hätten die meisten bei der Gedenkminute mitgemacht, erzählt Selina, 14 Jahre alt. Nur ein Mitschüler habe dazwischengeredet, aber nicht mit Absicht. „Er hat das nicht mitbekommen.“ Vielleicht so wie Ahmad, der auskunftsfreudig darüber berichtet, dass er nicht mitgemacht habe, weil er in just jenem Augenblick auf der Toilette gewesen sei. Ob er dabei nicht trotzdem geschwiegen habe? Der 16-Jährige blickt empört. „So etwas tut man auf der Toilette nicht!“
Über Patys Tod findet Ilayda, man sollte sich auch hierzulande damit beschäftigen. „Also nicht so tun, als wäre nichts passiert.“ Und man solle keine Witze darüber machen, dass ein Mensch umgebracht worden ist. Haben sich die Mohammed-Karikaturen aber nicht auch über etwas, nun ja, Heiliges lustig gemacht? „Er war aber Lehrer und hat das Thema im Unterricht behandelt“, betont die Sechzehnjährige. „Das ist kein Grund, jemandem den Kopf abzureißen.“
[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Ein Junge mischt sich ins Gespräch ein: „In welcher Welt leben wir eigentlich, Alter?“, fragt er. „Wir schreiben doch das 21. Jahrhundert.“
Ilayda und ihre Freundinnen sagen, Patys Fall sei ein Thema, das die Meinungen teile. In ihrem persönlichen Umfeld seien die meisten allerdings derselben Meinung und sähen das im Grunde so wie sie. Auch Ilham (15) drückt zum Tod des Lehrers ihr Beileid aus. „Eine Schuld hatte er nicht“, bekräftigt sie.
Warum werde dem von der Polizei umgebrachten Attentäter nicht auch gedacht, fragt Tim
Der Siebzehnjährige Tim sieht das anders. „Ich verstehe nicht, warum für den Tschetschenen keine Schweigeminute gehalten wird“, führt er aus. „Er wurde doch auch von der Polizei getötet“. Tim findet, dass der Lehrer selbst schuld war. „Ich finde es nicht gut, dass er getötet wurde“, sagt er. Die Gedenkminute habe er allerdings für „sinnlos“ gehalten und selbst nicht dabei mitgemacht. Sein Mitschüler Jonas (16) pflichtet ihm bei: „Hätte der Lehrer die Karikaturen nicht gezeigt, wäre das nicht passiert.“
Antar ist noch elf, wird morgen aber schon zwölf, wie seine Mitschüler verraten. Die große Pause ist vorbei, er muss wieder in den Unterricht. Vorher wird er aber auch noch schnell seine Meinung über den französischen Lehrer los: „Schade, dass sie ihn getötet haben“, sagt Antar, „anstatt mit ihm noch darüber zu reden.“
„Jeder Anschlag ein Anschlag gegen die Kultur der Toleranz"
Was dennoch offenkundig ist hier vor dem Tor der deutsch-türkischen Europaschule in Kreuzberg: Die Schüler haben die Schweigeminute überwiegend mitgetragen. So hat es auch Schulleiter Dahms empfunden, als er um 11.15 Uhr durch seine Schule ging. Aber diese Haltung in der Schülerschaft kommt nicht von ungefähr, sondern wurde vom Kollegium miterarbeitet, betont Dahms.
Davon zeugt auch die Homepage, auf der unübersehbar ein Bekenntnis der Schulgemeinschaft steht: „Nein zu Terror und Gewalt“ steht dort, und dass „jeder Anschlag ein Anschlag gegen die Kultur der Toleranz, gegen die Vielstimmigkeit der Menschen aller Länder und die Wandelbarkeit der Welt ist, die auch durch Migration sichtbar wird“.
Auch andere Schulen haben des getöteten französischen Lehrer gedacht. „Unsere Erfahrungen mit der Schweigeminute waren grundsätzlich positiv“, erzählt Andreas Huth, Leiter der Ernst-Reuter-Schule in Mitte. Am Albert-Schweitzer-Gymnasium in Neukölln war die Teilnahme an der Schweigeminute freiwillig: „Bei uns war heute ein normaler Schultag", sagt Schulleiterin Karin Kullick.
Paris hatte die Schweigeminute rechtzeitig angeregt
Wie berichtet, gab es Kritik an der Kurzfristigkeit, mit der die Schweigeminute anberaumt wurde. Ein Austausch mit der Schülerschaft war im Vorfeld kaum möglich, weil die Schulen erst Freitagmittag von der Aktion erfahren hatten.
Auf Nachfrage teilte die Kultusministerkonferenz (KMK) mit, dass die französische Anregung zum Gedenken am Mittwoch von der französischen Botschaft übermittelt worden sei. Bei der Senatsverwaltung für Bildung kam der Brief von KMK-Präsidentin Stefanie Hubig (SPD) aber erst am Freitag an.
"Trotz der sehr kurzen Vorbereitungszeit gab keine Beschwerde, jedoch viel Zustimmung", bilanzierte mittags Martin Wagner, der Leiter des Lichtenberger Johann-Gottfried-Herder-Gymnasiums. Die Lehrer hätten die Information vom Freitag am Wochenende aufgenommen und am Montag in ihren Unterricht integriert.