Zukunft Afrikas und Europas: In der Hölle der Flüchtlingscamps in Libyen
Kaum einer traut sich da freiwillig herein. Aber Michael Obert war in Libyens Flüchtlingscamps: „Es ist die Hölle.“ Der Journalist erwartet mehr Migration.
Es ist so ein Filmschnipsel, wie ihn jeder auf dem Handy hat. Und doch ist er völlig anders. Michael Obert schwenkte mit seinem Mobiltelefon durch eine mit Vorhängeschlössern und Stahltüren gesicherte Betonhalle – das ist eines dieser Flüchtlingscamps der libyschen Einheitsregierung, das kaum ein Europäer je von innen gesehen hat. Sprachgewirr von hunderten Menschen aus vielen der 55 Länder Afrikas ist zu vernehmen. „Sie behandeln uns wie Tiere, niemand sieht uns hier, es gibt keine Menschenrechte“, ruft einer der zusammengepferchten Männer auf Französisch.
Den eigenen Urin trinken
Der Auslandsreporter und Afrika-Experte Michael Obert aus Kreuzberg hat miterlebt, wie diese Männer nur zweimal am Tag herausgelassen werden. Als sich die Türen öffnen, schlug ihm Gestank entgegen. „Sie bekommen morgens so eine kleine Plastikflasche Wasser. Wenn sie die leer getrunken haben, müssen sie diese Flasche wieder vollpinkeln.“ Etwas anderen zum Trinken gibt es nicht, und auch keine Toiletten. Stuhlgang werde in Plastik- oder Papiertüten entleert.
Michael Obert, 50, nippt an seinem Cortado-Kaffee in einer Bar am Heinrichplatz. „Schreiben hat für mich auch etwas Therapeutisches“, sagt der 50-Jährige. Der mehrfach mit Journalistenpreisen ausgezeichnete Experte für Afrika und den Nahen Osten hat im Kongo, in Sudan, bei Boko Haram Unvorstellbares gesehen. Aber „Libyen von hier aus betrachtet – von Berlin – ist die Hölle.“ Und immer mehr Menschen werden von der libyschen Küstenwache gerade aus den Booten und in solche Camps geholt.
Obert hat über die Verhältnisse im afrikanischen Brückenland Richtung Europa im „Süddeutsche Zeitung Magazin“ die Reportage „An der Grenze“ veröffentlicht. In der ARD lief kürzlich sein in Koproduktion mit dem Hessischen Rundfunk entstandener Film „Ein Warlord als Türsteher zur Hölle“.
Dafür war der Journalist, wie man es auch in der TV-Info nachlesen kann, nahe Tripolis unterwegs „mit schwerbewaffneten, selbsternannten Milizen der libyschen Küstenwache, die mit aufgerüsteten Küstenkontrollbooten tausende Flüchtlinge aus den Booten der Schlepper zurück in diese libyschen Flüchtlingslager zwingen“. Es sind die von der UN- gestützten Einheitsregierung unterhalteten Geflüchtetenlager; Lager für abgefangene Geflüchtete plant die EU im Abkommen von Malta künftig in ganz Libyen. Gerade werden sie
"Sie vergewaltigen uns, nacheinander"
In dem Film schildert Obert auch, wie eine unter 200 Frauen in dem von den Milizen kontrollierten Frauen-Betonhallencamp sich wagte, ihn anzusprechen. „Helft uns, helft uns, helft uns“, habe sie geflüstert. Die junge Nigerianerin zeigte dem Reporter ihren Unterleib, voll Blut bis zum Knie: „Sie vergewaltigen uns, alle nacheinander.“ Mehr als 37 000 Frauen, Kinder und Männer hat die Küstenwache seit August 2015 aus Seenot gerettet und nach Libyen zurückgebracht.
Der Direktor des Frauenlagers sagt dem Auslandsreporter aus Berlin, es werde Zeit, dass Europa, das diese Frauen nicht haben wolle, für sie bezahle, etwa für mobile Toiletten und Duschen, Windeln und Babymilch. Obert war auch mit dem Commander der Küstenwache, ein „Warlord“, wie er recherchierte, auf dem Meer unterwegs. Der habe mal in Charlottenburg gewohnt, so klein ist die Welt. Der Journalist überlebte den Schusswechsel mit einem Schlepperschiff – anders als andere Passagiere und die Flüchtlinge im vollgelaufenen Schlauchboot –, wenn auch mit gebrochenen Rippen. Die privaten Helferschiffe sind jetzt in der Kritik, retten aber, wie es das Menschen- und das Seerecht vorsieht, Leben von Frauen, Kindern, Babys, Männern.
Der Küstenwachenchef wiederum sieht sich im Kampf gegen Schleuser und Menschenhändler und als Lebensretter in vollem Recht. „Wenn wir für Europa die Drecksarbeit erledigen sollen, dann soll Europa uns dafür bezahlen“, sagte er dem Reporter.
Obert wollte seine Reportage in der Juni-Ausgabe des „SZ-Magazins“ nun nicht für andere Medien umschreiben. Dutzende Journalisten wollten den Libyen-Experten zum Gespräch treffen – für den Tagesspiegel nimmt er sich Zeit. Obert sagt, die Bilder der Flüchtlinge hätten sich in der Wahrnehmung medial abgenutzt. Er fing andere ein, erzählt sie auch in seiner visuellen, cineastischen Sprache. „Ich will Dinge bewegen.“
Der Auslandsreporter berichtet von noch schlimmeren Camps als den Abfanglagern der Milizen. Das seien die Lager der Schlepper – aber da werde keiner, der am Leben bleiben wolle, freiwillig hingehen, sagt Obert. In den Sammelcamps der Schlepper sind die Flüchtlinge interniert, aber dennoch voller Hoffnung vor der Überfahrt. Da müssen die aus allen Ländern Afrikas durch die Wüstenrouten an den vielen Leichen vorbei in den Norden geschleppten Flüchtlinge ihre Verwandten in den Heimatländern anrufen, damit diese das Geld für die Überfahrt bis Italien transferieren. „Manchmal regelt dann der Bruder in Deutschland den Geldtransfer, das geht von auch von bestimmten Kiosks in Berlin aus“, sagt Obert und deutet aus der Bar raus auf die Oranienstraße.
Auswärtiges Amt: KZ-ähnliche Zustände
Das Auswärtige Amt hat die Zustände in bestimmten libyschen Schlepper-Flüchtlingslagern jüngst als „KZ-ähnlich“ kritisiert, einen derartigen Vergleich zog die deutsche Botschaft in Niger laut der Nachrichtenagentur AFP in einem internen Bericht an das Bundeskanzleramt. Es seien dort „Exekutionen nicht zahlungsfähiger Migranten, Folter, Vergewaltigungen, Erpressungen sowie Aussetzungen in der Wüste an der Tagesordnung“. Bereits 100 000 Frauen und Männer aus Afrika mit derartigen Erfahrungen – und jenen der oft zusätzlich traumatisierenden Überfahrt – sind 2017 bereits in Italien angekommen. Sie haben nichts bei sich, aber schweres seelisches Gepäck. „Und die Hochsaison der Schlepper 2017 hat noch gar nicht begonnen“, sagt Obert.
Rund 180 000 Afrikaner kamen 2016 über Libyen nach Italien. Mehr als eine Million Flüchtlinge wartet in Nordafrika unter solchen Verhältnissen auf einen Platz im Boot nach Europa. Drei Viertel aller Flüchtlinge auf dem afrikanischen Kontinent seien Binnenflüchtlinge. „Es gibt da einen Riesenrückstau“, sagt Obert, „zugleich vermehrt sich die Zahl der Schlepper explosionsartig und die Preise für die Überfahrt purzeln.“
Obert zeichnet die Fluchtrouten auf einen Block. Die Strecke aus dem Heimatland bis nach Libyen kostet, je nach dem, rund 2000 Dollar. 2500 Dollar bis aktuell nur 1500 Dollar werden dann für die Fahrt übers Mittelmeer fällig. Das muss den Schleusern allein 2016 rund 450 Millionen Dollar eingebracht haben. Auf welchen Konten lagert das Geld?, fragen sich Beobachter. Wofür wird es ausgegeben?
Solche wie vom deutschen Filmteam um Michael Obert eingefangenen Leidensbilder aus Libyen werden aber nicht gepostet. Geflüchtete verbreiten über Whatsapp, Facebook oder Instagram andere Bilder, sie wollen in der alten Heimat ihr Gesicht wahren. Wenn sie es bis zum gelobten Land geschafft haben, werden asphaltierte Straßen gepostet, Kühlschränke. „Wir alle kennen die Verlockungen der Warenwelt“, sagt Michael Obert. Das ergibt einen „Pull“-Effekt, der weitere Afrikaner in die angeblich so paradiesische neue Welt zieht. Obdachlosigkeit, Drogenabhängigkeit, Einsamkeit, Verschuldung, psychische Krankheiten, Scheidungsraten – diese Aspekte des industrialisierten Europas kommen im Klischeebild über den Norden nicht vor, schilderten auch schon Geflüchtete dem Tagesspiegel.
Der Tod auf dem Meer schreckt nicht
Michael Obert hat in Afrika in den vergangenen 15 Jahren die Veränderungen selbst mitbekommen. „Durch Handys, Netbooks, Internet ist jetzt in jedem Dorf angekommen, wie die Menschen anderswo leben. Und die Menschen in Afrika wollen Teil der Welt sein.“ Zudem trieben sie die Lebensbedingungen in vielen Ländern fort. Kein noch so hartes Camp, nicht der Tod auf dem Meer, schrecke sie ab, lautet Oberts Erfahrung.
Dabei droht gerade den Afrikanern in Deutschland, so die Amtsentscheidung, zumeist die Abschiebung; subsidiärer Schutz oder der Status als anerkannter Flüchtling wird nur den wenigsten aus bestimmten Ländern gewährt. Die Monate und Jahre bis zur Anhörung und während Klagezeiten sind sie aber etwa in Deutschland durch Staatsleistungen abgesichert. Danach tauchen viele unter.
Die aktuellen Vorwürfe, die Aussicht auf Rettungsboote der privaten Hilfsorganisationen locke die Flüchtlinge an, sei zu kurz gedacht, ist Obert überzeugt. Die Dimension des Problems werde von Politik und Wirtschaft im Wahljahr verschwiegen, kritisiert er. „Ich erlebe viel Verlogenheit und Heuchelei. Dabei lässt sich die Weltlage nicht wegverwalten.“ Statt das Gefühl zu vermitteln, Europa habe die Flüchtlingskrise im Griff, müssten sich die Politiker trauen, zu sagen: „Es gibt keine schnelle Lösung.“ Der Berliner Journalist fordert: „Wir müssen über die Verteilung in der Welt neu nachdenken. Für ein groß angelegtes Umdenken braucht es erste konkrete Schritte.“ Stichwort Erdöl: Nigeria sei einer der Top-Ten-Erdöllieferanten der Welt. Viele Migranten kämen aus Nigeria. Denn vom Reichtum profitierten dort nur ganz wenige. Internationale Erdölkonzerne müssten, wenn sie in Nigeria agieren, weit geringere Vorschriften zu Umweltschutz, zu Arbeitsschutz, zu Sozialleistungen einhalten, als wenn sie etwa in Skandinavien tätig sind. Die skrupellose Ausbeutung Afrikas müsse enden. Erträumte Waren sollten direkt in Afrika zugänglich sein, fordern andere.
Der Wunsch nach einem besseren Leben, nach Versorgung
Auf Europa komme jetzt eine „gewichtige Aufgabe zu, zentrale Werte zu schützen – und das mit der extremen Rechten sowie der latenten Fremdenfeindlichkeit im Nacken“.
Obert benennt drei Faktoren. Erstens: Die Bevölkerungszahl in Afrika von etwa 1,2 Milliarden Menschen werde sich bis 2050 verdoppeln. Zweitens: Der menschengemachte Klimawandel werde in den nächsten Jahrzehnten weiten Teilen Afrikas wegen Regen- und Wassermangels schwer zu schaffen machen. Und drittens: Die wirtschaftlichen Perspektiven vieler Afrikaner blieben schlecht – „nicht zuletzt wegen wirtschaftspolitischer Daumenschrauben durch Europa“. Und der Wille, durch Flucht und Migration ein besseres Leben zu erreichen, sei zutiefst menschlich, sagt Obert. Der Experte gibt zu bedenken, dass derzeit vor allem jene Afrikaner flüchten, die es sich leisten können. Die klassische Entwicklungshilfe greife bei diesen Menschen gar nicht – eine reine Armutsbekämpfung werde womöglich noch mehr Menschen in die Lage versetzen, sich Schlepper leisten zu können.
Es sei zudem bemerkenswert und inzwischen üblich, dass viele Projekte der Entwicklungszusammenarbeit von Interessen des Innenministeriums bestimmt würden. Endlich müssten afrikanische Fachleute viel mehr mit in die Pläne für den Kontinent einbezogen werden. Solche afrikanischen Macher wolle er auf kommenden Recherchen porträtiere. Letztlich säßen doch alle Menschen im gleichen Boot. „Und ich glaube an das Gute im Menschen. Sonst würde ich meine Arbeit so nicht machen.“