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Die Boote sind meist überfüllt und in schlechtem Zustand. Manche Flüchtlinge werden von Schleusern an Bord gezwungen.
© Emilio Morenatti/AP/dpa

Flüchtlingsdrama vor Libyen: Die Überforderung der freiwilligen Seeretter

Die Situation vor der Küste Libyens eskaliert. 1800 Menschen sind dieses Jahr bereits ertrunken. Der Berliner Erik Marquardt war als freiwilliger Retter dort. 

Am dritten Tag sehen sie Punkte am Horizont. Die Sea-Eye steuert darauf zu, und Erik Marquardt erkennt: Es sind vier manövrierunfähige Schlauchboote, völlig überfüllt, mit insgesamt 500 Menschen.

Die Flüchtlinge tragen keine Schwimmwesten, haben weder Essen noch Trinkwasser, manche sind schon bewusstlos. Im Innern der Boote hat sich ein ätzendes Gemisch aus Salzwasser, Kot sowie ausgelaufenem Benzin gesammelt. Und bei zweien entweicht langsam Luft aus den Kammern. Ihre Seiten senken sich Richtung Meeresspiegel.

Erik Marquardt muss jetzt Unruhe vermeiden. Denn Unruhe führt zu Panik und Panik zu Toten. Also lügt er. „No Problem“, sagt Marquardt. Die wenige Luft in den Schläuchen sei ganz normal. So etwas habe er schon hundertfach gesehen. Er bittet die Flüchtlinge, sitzen zu bleiben.

Drei Wochen später hockt Erik Marquardt, 29, übermüdet in Berlin-Kreuzberg in einem Café und sagt: Es ist die permanente Überforderung. Weil man es niemals gut machen kann, nur dazu beitragen, dass die Lage kurzfristig ein ganz klein bisschen weniger schlecht ist. „Und nie weiß man, wie viele gerade ertrinken, die einfach niemand entdeckt hat.“ Das belaste enorm.

Statistisch erfasst werden nur die Toten, die später aus dem Wasser gefischt oder an die Küste gespült werden. Dieses Jahr sind es schon mehr als 1800, im Durchschnitt elf pro Tag.

Schätzungen zufolge warten derzeit 800 000 Flüchtlinge in Libyen auf ihre Chance, nach Europa überzusetzen. In einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin hat „Ärzte ohne Grenzen“ jetzt Alarm geschlagen: Flüchtlinge würden in Libyen gefoltert und vergewaltigt, die Not sei so extrem, dass der Flüchtlingsstrom übers Mittelmeer noch zunehmen werde. Angela Merkel müsse die Situation im zentralen Mittelmeer öffentlich als humanitäre Krise anerkennen, heißt es in dem Brief. Und die EU müsse endlich ihrer Verantwortung nachkommen, Menschen in Seenot zu retten. Eine Antwort gab es bisher nicht.

Leben retten mit einem umgerüsteten Fischkutter

„Wir fühlen uns allein gelassen“, sagt Erik Marquardt. Mit wir meint er die Freiwilligen, die auf Schiffen von Ärzte ohne Grenzen, Sea-Watch, SOS Mediterranee oder anderen Nichtregierungsorganisationen anheuern, um Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Erik Marquardt war auf der Sea-Eye, einem umgerüsteten, 60 Jahre alten Fischkutter aus DDR-Produktion. Seine Reise begann auf Malta, wo die meisten NGOs ihre Stützpunkte haben, von dort sind es je nach Wetterlage etwa 30 Stunden bis ins Einsatzgebiet.

Die einen feiern Retter wie Marquardt als Helden. Die anderen kritisieren die Hilfe, weil sie mehr Menschen zur Flucht antreibe. Stephan Mayer, der innenpolitische Sprecher der Union im Bundestag, hat den Helfern vorgeworfen, sie seien „ein Shuttle-Service nach Europa“.

So eine Haltung, sagt Erik Marquardt, könne nur einnehmen, wer weit entfernt vom Geschehen sei und keine Ahnung habe, was es bedeutet, wenn ein Mensch ertrinkt. „Man muss sich bewusst machen, was diese Kritiker sagen. Die fordern implizit: Lasst die Leute absaufen, das schreckt hoffentlich andere ab.“

Den Menschen, die Erik Marquardt bei seinem Einsatz Ende Mai in den vier Schlauchbooten entdeckte, reichten sie zuerst Rettungswesten. Dann Wasserflaschen. Weil die Sea-Eye nur 26 Meter misst und viel zu klein ist, um alle 500 aufzunehmen, haben sie einen Notruf nach Rom gefunkt. Dort sitzt die italienische Seenotrettungsleitstelle MRCC. Die wiederum schickt das nächst verfügbare größere Schiff los, aber das dauert. An diesem Tag zehn Stunden, bis zum Sonnenuntergang.

NGOs berichten von Folter in den Lagern

Die Flüchtlingsboote werden, nachdem alle gerettet wurden, zerstört.
Die Flüchtlingsboote werden, nachdem alle gerettet wurden, zerstört.
© Erik Marquardt

Außer den Seerettungsbooten privater Hilfsorganisationen patrouillieren noch sechs Schiffe der Europäischen Union. Sie sind im Rahmen der „Operation Sophia“ im Einsatz. Die Bundeswehr hat rund 100 Soldaten für die Mission abgestellt. Der Bundestag hatte 950 genehmigt. Hinzu kommen Schiffe der europäischen Grenzwache Frontex, deren Einsatzgebiet aber weiter nördlich liegt.

Die Helfer klagen, das sei viel zu wenig. „Oft sieht es folgendermaßen aus“, sagt Erik Marquardt. „Da bist nur du, und da sind diejenigen, die akut gerettet werden müssen, niemand sonst. Wenn du es nicht machst, sterben diese Menschen.“

In den vergangenen zwei Jahren war Marquardt schon 20-mal auf Flüchtlingsrouten unterwegs. Half auf dem Balkan, in der Türkei, in Afghanistan. Er sagt: „Eigentlich müssten sich doch alle vernünftigen Menschen in einem Punkt einig sein - dass Leute, die sich warum auch immer zur Flucht entscheiden, dafür nicht mit ihrem Leben bezahlen sollen.“ Erik Marquardt macht stets Fotos, um denen zu Hause das Elend zu zeigen. Und ihnen vielleicht zu vermitteln, dass es nicht die größte aller Katastrophen ist, wenn deutsche Turnhallen für ein paar Monate für den Sportunterricht gesperrt bleiben.

65 000 Menschen ist dieses Jahr die Flucht übers Mittelmeer gelungen, das sind deutlich mehr als je zuvor. Viele kommen aus afrikanischen Staaten südlich der Sahara. Die meisten starten von Zuwara oder Sabrata, zwei Hafenstädten westlich der libyschen Metropole Tripolis. Sie werden von den Schleusern nachts in die Schlauch- oder Holzboote gesetzt, weil dann die Chance am größten ist, dass sie die ersten zwölf Meilen unentdeckt bleiben. So weit reicht das libysche Hoheitsgebiet, hier patrouillieren ausschließlich die staatliche Küstenwache und Milizen.

Alle Flüchtlinge, die diese aufgreifen, werden zurück nach Libyen gebracht und dort in Internierungslagern festgesetzt. Die dortigen Zustände sind schrecklich. „Ärzte ohne Grenzen“, deren Mitarbeiter in Tripolis regelmäßigen Zugang zu sieben solcher Lager haben, spricht von „unmenschlichen und unhygienischen Bedingungen“, von Menschenrechtsverletzungen und Zwangsarbeit. Als noch dramatischer gilt die Situation in Lagern, die sich außerhalb der Hauptstadt befinden und von Hilfsorganisationen nicht betreten werden dürfen. Augenzeugen berichten von Folter und systematischen Vergewaltigungen.

Die libysche Küstenwache prügelt drauflos

Inzwischen operiert die libysche Küstenwache auch jenseits der Zwölf-Meilen-Zone und bricht dort das Völkerrecht. Ihre Taten sind gut dokumentiert. Es gibt Videos, in denen Mitarbeiter auf Flüchtlinge einprügeln oder sie mit Schusswaffen bedrohen. Die Soldaten gehen auch aggressiv gegen Helfer vor. Im Oktober vergangenen Jahres drängten sie mehrere Boote während einer Rettungsaktion ab, 30 Flüchtlinge ertranken. Bei einem Vorfall Mitte Mai fuhr die Küstenwache auf Kollisionskurs zu einem Helferschiff, ignorierte bewusst die Vorfahrtsregeln. Die Angegriffenen entgingen knapp einem Zusammenstoß.

An dem Tag Ende Mai, als Erik Marquardt von Malta aus an Bord der Sea-Eye in See stach, gab es weiter südlich erneut einen schweren Zwischenfall: Die libysche Küstenwache störte eine Rettungsaktion der „Aquarius“, die von Ärzte ohne Grenzen betrieben wird, bedrohte Flüchtlinge mit Maschinenpistolen und raubte sie aus. Anschließend wurden die Flüchtlinge gezwungen, ins Wasser zu springen.

Für Florian Westphal, den Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen, ist es verstörend, dass die EU die Küstenwache nicht als Teil des Problems, sondern der Lösung sieht. Seit 2016 werden libysche Soldaten mit EU-Mitteln ausgebildet, die Bundeswehr hilft. „Gleichzeitig beobachten wir, dass sich die wenigen Schiffe der EU weiter nach Norden zurückziehen“, sagt Erik Marquardt. „Raus aus der Zone, in der sie eigentlich gebraucht werden.“ Der böse Verdacht: Ertrunkene sollen abschrecken. Außerdem sei es für die Abschottung der EU-Außengrenze effektiver, wenn die örtliche Küstenwache alle Flüchtlinge zurück nach Libyen bringt. Diejenigen, die von EU-Booten gerettet werden, müssen dagegen nach Lampedusa oder auf das europäische Festland - weil Schiffbrüchige laut Seerecht zum nächstgelegenen sicheren Hafen gebracht werden müssen. Und niemand kann Libyen ernsthaft als sicher bezeichnen.

Die Bundeswehr bestreitet den Verdacht der Helfer. Auf Anfrage des Tagesspiegels heißt es: „Es liegen keine Erkenntnisse vor, dass die taktische Planung des Verbandshauptquartiers auf die Vermeidung der Einbeziehung in Seenotrettungsmaßnahmen abzielt.“

Flüchtlingsfeinde wünschen ihm den Tod

Bei diesem Bootsunglück vor der Küste Libyens konnten die meisten Flüchtlinge gerettet werden. Fünf starben.
Bei diesem Bootsunglück vor der Küste Libyens konnten die meisten Flüchtlinge gerettet werden. Fünf starben.
© dpa

Unter den Freiwilligen auf den Helferschiffen sind eine Menge Studenten, aber auch Rentner und Berufstätige, die ihren Jahresurlaub nehmen. Viele engagieren sich schon lange in Deutschland ehrenamtlich, etwa in der Flüchtlingsarbeit. Erik Marquardt ist bei den Grünen, sitzt im Parteirat und tritt bei der Bundestagswahl im September als Direktkandidat in Treptow-Köpenick an. Er sagt, an Bord seines Schiffes habe sich aber auch ein CDU-Mitglied befunden. „Der musste sich vor Start der Mission Kritik von Parteifreunden anhören.“ Auch von Mitgliedern der Studentenverbindung, der er angehörte.

Als Marquardt selbst vor seinem Aufbruch nach Malta über Twitter und Facebook verkündete, was er vorhat, gab es ebenfalls wütende Reaktionen. Fremde nannten ihn „Inzuchtkröte“ und „Rattenfresse“, drohten Gewalt an. Einer schrieb: „Ich wünsche dir einen Orkan mit Windstärke 12 und keine Rettungsweste.“ Die rechtsextreme „Identitäre Bewegung“ hält Menschen wie Marquardt für „Schlepper“, die Europa „mit illegaler Migration fluten“. Derzeit sammeln die Identitären Spenden, um im Mittelmeer ein eigenes Schiff zu chartern. Das soll dann die Rettungsarbeiten der NGOs behindern.

Die Verantwortung ist erdrückend

Marquardt war früher bei der Feuerwehr, hat Rettungserfahrung, weiß auch, wie man Boote steuert. Trotzdem sagt er: Die Verantwortung, die Freiwillige hier tragen, ist erdrückend. „Wir müssen Entscheidungen treffen, die Flüchtlingen den Tod bringen können.“

Wird ein Boot entdeckt, bleiben die Schiffe der NGOs meist auf Abstand. Zu groß ist die Gefahr, dass Flüchtlinge glauben, sie könnten zum Schiff herüber schwimmen, und deshalb ins Wasser springen. Stattdessen nähern sich die Helfer mit kleinen Beibooten. Die aber können maximal zwölf Menschen aufnehmen. Erik Marquardt erzählt die Geschichte eines anderen Teams, bei dem zu viele Ertrinkende im Wasser schwammen und sich die Helfer entscheiden mussten, wen sie zuerst retten. Als sie wiederkehrten, war einer der Verbliebenen bereits ertrunken.

Marquardt hat auch gelernt, dass er Flüchtlinge auf einem großen Holzboot niemals auffordern darf, den Motor abzustellen. Denn meistens befinden sich unter Deck viele weitere Flüchtlinge, und ohne Motor fällt die Belüftungsanlage aus. Die Menschen ersticken.

Oft entdecken die Helfer überfüllte Boote, die ganz ohne Motor manövrierunfähig auf dem Meer treiben. Das liegt an einem weiteren Wirtschaftszweig, der sich in der Region neben dem Schleppertum entwickelt hat: Sogenannte Engine-Fisher haben sich darauf spezialisiert, die Flüchtlingsboote zu überfallen und ihnen die Motoren abzunehmen. Einmal hat Erik Marquardt Mitglieder der libyschen Küstenwache dabei beobachtet, wie diese mit Engine-Fishern zusammenarbeiteten und die Beute von fünf Flüchtlingsbooten aufteilten: ein Motor ging an die Engine-Fisher, die restlichen nahm die Küstenwache mit.

Das erste private Seerettungsboot finanzierte 2015 ein Brandenburger Unternehmer. Er verstand nicht, warum in Deutschland der Mauertoten gedacht werde, die Toten im Mittelmeer aber hingenommen würden. Am Dienstag lädt seine Initiative „Sea-Watch“ zu einer Seerettungskonferenz ins Ballhaus Berlin. Erik Marquardt wird auch dort sein. Er hofft, dass man gemeinsam eine Idee entwickeln kann, um mehr Druck aufzubauen. Etwas, das die Bundesregierung nicht so leicht ignorieren könne wie einen offenen Brief.

Und was ist mit der Behauptung, die NGOs selbst lockten viele Flüchtlinge aufs Mittelmeer? „Das ist ein grotesker Vorwurf“, glaubt Florian Westphal von Ärzte ohne Grenzen. Seine Mitarbeiter haben hunderte Interviews mit Geretteten geführt. Westphal sagt, diese Menschen wüssten bei ihrer Abfahrt gar nichts von NGOs. „Die wissen nur, dass sie in Libyen sterben werden, wenn sie die Überfahrt nicht wagen.“ Forscher der Londoner Goldsmith-Universität haben gerade ein Gutachten über den Zusammenhang von Helfern und Flüchtlingszahlen veröffentlicht. Auch sie sagen: Einen Lock-Faktor gibt es nicht.

Seit Erik Marquardt zurück in Berlin ist, hört er ständig von Leuten, wie mutig seine Reise gewesen sei. „Das hat mich zuerst irritiert“, sagt er. „Inzwischen nervt es.“ Mutig findet er eher diejenigen, die glauben, man könnte einfach gar nichts tun. Und hoffen, dass irgendwie alles von alleine gut wird.

Mit Bordmitteln. 19 Schiffe von Nichtregierungsorganisationen kreuzen

inzwischen auf dem Mittelmeer. Die Helfer wissen: Während sie einen Menschen retten, ertrinkt wahrscheinlich irgendwo ein anderer.

Erik Marquardt ist auf Twitter unter @ErikMarquardt zu erreichen.

Erik Marquardt zurück in Berlin-Weißensee.
Erik Marquardt zurück in Berlin-Weißensee.
© Doris Spiekermann-Klaas

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