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Ralf Wittenbroeker, Inhaber der Kreuzberger "Mozart-Apotheke" in der Wiener Straße 18 in Berlin-Kreuzberg.
© Thilo Rückeis

Immer wieder Lieferengpässe: In Berlins Apotheken sind einige Medikamente knapp

Immer häufiger kommt es in Berliner Apotheken zu Lieferengpässen. Apotheker, Pharmahersteller und Kassen schieben sich gegenseitig die Schuld zu.

Wer dachte, dass die Mangelversorgung in der kapitalistischen Postmoderne überwunden wurde, war schon lange nicht mehr in einer Berliner Apotheke: Tage, manchmal Wochen, müssen dort Patienten mittlerweile auf ihre Pillen, Salben und Tröpfchen warten. Wie oft es vorkomme, dass er Medikamente nicht ausgeben könne? „Jeden Tag“, sagt Ralf Wittenbroeker von der Kreuzberger Mozart-Apotheke. Aktuelles Beispiel: das Antidepressivum Venlafaxin, das gegen Angststörungen hilft. Meist seien zwar Präparate anderer Hersteller erhältlich. Die seien zwar ebenso wirksam, doch viele Menschen verunsichere der Wechsel, sagt Wittenbroeker.

Venlafaxin ist ein Generikum, also eine wirkstoffgleiche Kopie eines Medikaments, dessen Patent abgelaufen ist. Es wird von zahlreichen Herstellern produziert. Aber am Montagnachmittag ist für die Mozart-Apotheke nur eine einzige Variante bei den Großhändlern verfügbar. Das Original gibt es zwar immer – doch das zahlt die gesetzliche Kasse nicht. Das ist kein Einzelfall.

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) führt eine zentrale Datenbank für Lieferengpässe. Insgesamt sind in dieser Datenbank aktuell 262 Generika als nicht lieferbar aufgeführt (Stand: 22.10.2019). Zum Vergleich: In Deutschland gibt es laut BfArM insgesamt zurzeit etwa 103.000 zugelassene Medikamente.

Doch nicht alle Lieferengpässe werden erfasst. Das liegt an den Kriterien. Laut BfArM muss das Mittel zum Beispiel einen Marktanteil von über 25 Prozent haben und der Wirkstoff muss bereits in der Vergangenheit betroffen gewesen sein.

Phönix, der größte Pharmagroßhändler Deutschlands, sieht vor allem die Hersteller in der Pflicht. „Pharmazeutische Unternehmer müssen den Großhandel besser über drohende und existierende Lieferengpässe informieren“, sagt ein Sprecher. Nur dann könne schnell Abhilfe geschaffen werden, etwa aus Lagerbeständen in anderen Bundesländern.

Welche Rolle spielen Rabattverträge mit der Pharmaindustrie?

Norbert Peter vom „Marketing Verein Deutscher Apotheker e.V.“ nennt eine weitere mögliche Ursache: Die Rabattverträge der Krankenkassen mit den Herstellern. Der Arzt werde dadurch verpflichtet, das günstigste Mittel zu verschreiben. Sei das nicht lieferbar, müsse der Apotheker die preiswertesten Alternativen ermitteln. Die ganze Recherche müsse im Detail dokumentiert werden. „Wir scheitern an der Bürokratie“, klagt Peter. Der Papierkram verbrauche etwa 15 Prozent der Arbeitszeit, schätzt er.

Außenansicht der Kreuzberger "Mozart-Apotheke" in der Wiener Straße in Berlin-Kreuzberg. Auch hier berichtet der Inhaber von Lieferschwierigkeiten.
Außenansicht der Kreuzberger "Mozart-Apotheke" in der Wiener Straße in Berlin-Kreuzberg. Auch hier berichtet der Inhaber von Lieferschwierigkeiten.
© Thilo Rückeis

Michael Bernatek, Sprecher des AOK-Bundesverbandes, widerspricht: „Rabattverträge tragen zu mehr Liefersicherheit bei.“ Die Hersteller verpflichteten sich darin, Engpässe zu melden und Vorräte anzulegen. Angesprochen auf den aktuellen Mangel an Venlafaxin, teilt Bernatek mit, es handle sich „um einen kurzfristigen Engpass aufgrund eines Produktionsrückstandes.“ Um das zukünftig zu verhindern, fordert er noch mehr Transparenz entlang der Lieferkette. Die Meldepflicht müsse ausgeweitet werden, „um eine möglichst vollständige Übersicht über die Bestände auf allen Ebenen zu erhalten, also bei Apotheken, im Großhandel und bei den Herstellern“, sagt der AOK-Sprecher.

Doch die Hersteller sehen die Krankenkassen in der Schuld. Hubertus Cranz, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller (BAH), fordert mehr Wettbewerb: „Bei Rabattverträgen sollten grundsätzlich drei Arzneimittel-Hersteller zum Zuge kommen.“ Denn wenn eine Krankenkasse einen Rabattvertrag mit einem bestimmten Hersteller abschließe, bedeute das „faktisch einen Lieferstopp“ für dessen Konkurrenten. Die würden ihre Produktion dann auf andere Präparate umstellen. „Fällt nun eines der Rabattvertragsunternehmen aus, können die anderen den plötzlichen Mehrbedarf nicht decken“, sagt Cranz.

Produktion am anderen Ende der Welt

Auch Apotheker Hansjörg Fabritz von der Regenbogen-Apotheke in Falkensee hat eine Vermutung, wie es zu Lieferengpässen kommen könnte: „Die Hersteller produzieren immer häufiger in Schwellenländern wie China und Indien“, sagt er. Bei einem Ausfall seien die Lieferzeiten für Ersatz lang. Für Fabritz ist klar: „Die Politik muss dafür sorgen, dass Medikamente in Europa produziert werden.“

Der bundesweite Verband der gesetzlichen Krankenversicherer, der GKV-Spitzenverband, sieht das ähnlich: „Arzneimittelhersteller agieren und produzieren weltweit“, teilt der Verband mit. „Die aktuellen Probleme allein auf deutsche Rabattverträge zurückzuführen, überschätzt deren Bedeutung. Dafür ist das deutsche Pharmageschäft mit einem Anteil von vier Prozent am Weltmarkt viel zu klein.“

Tatsächlich gäbe es Engpässe nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern, in denen die Gesundheitssysteme anders organisiert seien, betont Max Müller, Präsident des Verbandes der europäischen Versandapotheken (EAMSP). „Die Lösung muss auf EU-Ebene erfolgen“, sagt Müller. Wie sie aussehen könne, vermag er aber auch nicht zu sagen.

Es gibt jedoch einen Punkt, in dem sich alle Beteiligten einig sind: Die Produktion in wenigen, noch dazu weit entfernten Fabriken in Asien macht das System anfälliger. Sogar BAH-Chef Cranz wünscht sich, dass Wirkstoffe wieder in Europa produziert würden, doch „damit dies für Unternehmen wirtschaftlich machbar ist, bedarf es Anstrengungen der Politik.“

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