Interview mit Eberhard Diepgen: „In Berlin wurde falsch und zu viel gespart“
Nachfolge von Klaus Wowereit, altersgerechtes Wohnen und Fehler am Flughafen BER: Im großen Tagesspiegel-Interview plädiert Berlins ehemaliger Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen dafür, den Flughafen Tegel offenzuhalten.
Herr Diepgen, Sie bleiben Titelverteidiger als am längsten amtierender Regierender Bürgermeister. Nach dem angekündigten Rückzug von Klaus Wowereit – wird Sie noch irgendjemand einholen können?
Unwahrscheinlich. Angesichts der immer hektischer werdenden Medienlandschaft und der immer komplexeren Aufgabe würde ich sagen: Zehn Jahre sind heute genug. Selbst die größten Erfolge werden ganz schnell alt.
In seiner Rückzugserklärung hat Klaus Wowereit die Häme beklagt, mit der er als Regierender Bürgermeister überzogen worden sei, auch von Gülle hat er gesprochen. Haben Sie das ähnlich erlebt?
(lacht): Ja.
Haben Sie sich ungerecht behandelt gefühlt?
Gerecht und ungerecht, im Umgang mit Politikern sind das doch Fremdworte.
Grollen Sie noch wegen der Art und Weise, wie Wowereit Sie abgelöst hat?
Das ist 13 Jahre her. Er wollte damals die SPD mit dem Bruch der Koalition aus der babylonischen Gefangenschaft mit der CDU befreien; im Wettkampf der Parteien hatte ich dafür Verständnis. In der öffentlichen Kommentierung hätte ich mir mehr Sachlichkeit gewünscht.
Was beklagen Sie?
Es wurde – zum Teil ja auch noch heute – jede Menge Unsinn verbreitet. So wurde der Eindruck erweckt, wir seien schuld gewesen an den Schulden. Aber der Bund hatte Berlin in den Neunzigern auf einen kalten Entzug gesetzt und die Stadt trotz der Aufgaben beim Zusammenwachsen der wiedervereinigten Stadt in Schulden gezwungen. Massive Eingriffe gab es auch vor Wowereit. Denken Sie nur an die Abschaffung von elf Berliner Bezirken. Erst mit dem Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin am Ende meiner Amtszeit wurde es etwas besser. Inzwischen hat der Bund viele Kosten für das Berliner Kulturangebot und auch in der Sozialpolitik übernommen. Das hilft dem Haushalt.
Wofür steht die Ära Wowereit?
Er hat das Lebensgefühl und die Ausstrahlung und Anziehungskraft einer lebensfrohen Metropole geprägt. Aber das ist nur ein Teil der Stadt.
Was für einen Typ Bürgermeister braucht die Stadt jetzt?
Ich mische mich ungern in die Kandidatenauswahl der SPD ein. Gut wäre jemand, der sich mehr in die Sozial- und Bildungspolitik einmischt und für eine Idee in der baulichen Gestaltung der Stadt brennt. Und: Es geht nicht nur um die Metropole, sondern auch um Berlin als Hauptstadt.
Das bedeutet was?
Deutsche Hauptstadt hat auch etwas mit einer dienenden Rolle für die deutsche Nation im zusammenwachsenden Europa zu tun. Ein solches Selbstverständnis kann ich in der Berliner Landespolitik nicht entdecken. Das wird aber die bevorstehenden Entscheidungen zum Hauptstadtvertrag bestimmen. In der Stadtentwicklung fehlt zu oft der Blick aufs Ganze.
Was müsste konkret verändert werden?
Ein Beispiel: Die Stadtbaudirektorin versteht vielleicht etwas von Einzelbauten, aber welche Wirkung sie auf ihr Umfeld haben und dass in der Stadtplanung der Alex, der Platz vor dem Roten Rathaus und der Schlossplatz nur im Zusammenhang gesehen werden können, das alles scheint ihr fremd zu sein. Anderes Beispiel: Berlin braucht Touristen, aber das kann nicht alles sein. Die Stadt darf sich nicht nur attraktiv machen für Menschen, die von außen draufschauen, sie muss auch die sozialen Brennpunkte auflösen.
Bei den Themen Stadtentwicklung, Touristen oder Flüchtlinge haben Senat und Bezirke oft unterschiedliche Interessen.
Ja, aber es gibt rechtlich auch gesamtstädtische Aufgaben – und der Senat nimmt seine Möglichkeiten gegenüber den Bezirken nicht wahr. Er lässt die Dinge eskalieren. Der von Flüchtlingen lange besetzte Oranienplatz und die Gerhart-Hauptmann-Schule sind ja Beispiele dafür – oder auch die Bebauung am Spreeufer.
Sehen Sie am Ende der Ära Wowereit die Notwendigkeit für einen grundsätzlichen Wandel der Politik?
Mit der Regierungsbildung von SPD und CDU vor gut zwei Jahren gab es ja bereits Kurskorrekturen. In dieser Stadt ist zu viel und an den falschen Stellen gespart worden. Viele Probleme, an denen wir heute leiden, sind die Folgen der Sarrazin’schen Sparpolitik: drastisch gestiegene Mieten wegen des Verzichts auf Wohnungsbau, marode Schulen und Straßen, die Qualität in der Verwaltung. Das hat man sich alles schöngeredet und mit der Orientierung auf die Außenwirkung übertüncht. Nun reagiert man oft hektisch und kurzsichtig, etwa in den Bezirken mit einem unausgewogenen Milieuschutz für bestimmte Kieze. Damit wird die Modernisierung von Wohnungen verhindert und Slum von morgen programmiert. Abwegig ist beispielsweise die Vorstellung, den Einbau einer Dusche zu verbieten, wenn eine Badewanne vorhanden ist. Dabei wäre das auch altersgerecht, wie ich Ihnen aus Erfahrung sagen kann.
Wie schätzen Sie denn die Stimmung in der Stadt gegenüber dem Senat ein?
Die Entscheidung zum Tempelhofer Feld war nicht nur eine Entscheidung über dieses Projekt. Alles hängt mit allem zusammen. Eines ist doch nicht zu übersehen: Der Ärger über die Bildungspolitik ist tief verankert. Man sieht es an der Flucht in die Privatschulen. Ich halte die Schulpolitik für katastrophal. Bewusst werden Leistungsanforderungen heruntergeschraubt, die Zahl von Abiturienten ist wichtiger als die Qualität der Abschlüsse. Das muss dann an Hochschulen nachgebessert werden. Berufliche Bildung wird gesellschaftspolitisch abgewertet, und auch beim aktuellen Lieblingsthema Inklusion liegt das Problem darin, dass alles über einen Kamm geschert wird. Der Soziologe Ralf Dahrendorf hat schon vor Jahren richtig festgestellt: Im Streben nach Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit ist Vielfalt das Lebenselixier der Freiheit. Bei dem Unbehagen gegen den Senat geht es für viele um die grundsätzliche gesellschaftspolitische Ausrichtung der Politik.
BER, Berlins Olympia-Bewerbung und die CDU
Ist die Kritik an Klaus Wowereit im Zusammenhang mit dem Flughafen BER eigentlich ungerecht?
Der BER ist das Symbol für viele Fehlentwicklungen und für das Gefühl: Die da oben können es nicht. Es sind riskante und auch falsche Entscheidungen getroffen worden – zum Beispiel die, auf einen Generalübernehmer zu verzichten sowie das Normalgeschäft des Flugbetriebes und das Bauvorhaben nicht sorgfältig voneinander zu trennen. In der Aufgabe, für ein ausreichendes Controlling zu sorgen, war der Aufsichtsrat nicht erfolgreich. Nächstes Problem: die Verschleppung der Lärmschutzmaßnahmen. Was mir aber am meisten Sorgen bereitet: dass es offenbar so weitergeht. Jeder weiß, dass die Kapazität des BER nicht reichen wird. Aber die notwendigen Voraussetzungen für eine Erweiterung, auch die rechtlichen, werden nicht angepackt.
Wird Berlin auf Dauer mit einem Flughafen auskommen?
Nein. Denn es ist absehbar, dass die Regierung in Brandenburg einen Ausbau von Schönefeld weiter behindern wird. Deswegen muss Tegel weiter als Möglichkeit offengehalten werden. Da hat Hartmut Mehdorn recht. Festgefahrene Denkmuster sollten infrage gestellt werden. Beispielsweise: Ist es sinnvoll, Tegel abzureißen und in Schönefeld mit noch mehr Geld aufzubauen? Oder auch: Ist es nach dem Planfeststellungsbeschluss wirklich zwingend, Tegel zu schließen, wenn in Schönefeld wegen der Kapazitätsengpässe ein ordnungsgemäßer Betrieb fraglich ist?
Sollte der nächste Regierende Bürgermeister auch wieder den Vorsitz des Aufsichtsrats übernehmen, oder hat auch da Mehdorn recht, wenn er eine „Entpolitisierung“ fordert?
Es ist schon erstaunlich, was der Geschäftsführer sich so alles gegen seine Brötchengeber herausnimmt! Als Aufsichtsratsmitglied würde ich das als Unverschämtheit einordnen. Hier hat er auch in der Sache unrecht. Bei den sehr unterschiedlichen Interessenlagen zwischen Berlin, Brandenburg und dem Bund muss der Regierende mit seiner Amtsautorität den Aufsichtsrat führen und die Interessen der Hauptstadt durchsetzen. Der neue Flughafen ist ein Infrastrukturprojekt und kein vor allem an Rendite orientiertes Unternehmen. Hier muss etwas ganz anderes passieren: Der BER braucht ein neues Controlling, die Trennung von Normalbetrieb und Bauprojekt, und ich würde auch jetzt noch prüfen, ob nicht ein Generalübernehmer mit den Restarbeiten beauftragt werden kann. So könnte ein wenig Ruhe in diese Front kommen.
Die nächste Baustelle ist Olympia: Ist das überhaupt der richtige Zeitpunkt für eine Bewerbung?
Ja, leider können das IOC und der Deutsche Olympische Sportbund in ihren Terminvorgaben nicht auf Berliner Innenpolitik Rücksicht nehmen. Ja, unter anderem deswegen, weil viele Sportstätten ohnehin bald saniert werden müssen, ebenso Straßen, Gebäude, die Infrastruktur. Dieses Normalgeschäft kann Berlin mit einer Idee verbinden und zusätzliche Finanzmöglichkeiten finden. Olympia ist eine große Chance für die Stadt, sie kann von ihrem Image profitieren und darauf aufbauen. Alleine schon die Bewerbung ist eine Werbung für Berlin.
Wie schätzen Sie die Chancen Berlins beim IOC ein?
Offen. Es muss einen Paradigmenwechsel beim IOC geben, weg von der Kommerzialisierung und den absurden Anforderungen an die Austragungsstädte, dann kann es gehen. Auf alle Fälle besser als eine deutsche Bewerbung mit Hamburg. Aber klar ist auch: Wer sich bewirbt, muss bereit sein, das mehrmals zu tun.
Warum haben Sie das damals dann nicht gemacht?
Die öffentliche Diskussion war zu negativ, und wir haben die Bereitschaft in Deutschland überschätzt, Berlin zu unterstützen. Gleichzeitig Hauptstadt und Olympiastadt zu werden, das war zu viel, das konnte die Rheinbundrepublik nicht verkraften.
Wäre Wowereit ein guter Botschafter für Olympia in Berlin?
(Pause, dann:) Botschafter für Berlin müssen wir alle sein. Und mit weiteren Personalien will ich die Diskussion besser nicht beleben.
Warum versucht die CDU nach Wowereits Rücktritt eigentlich nicht, mehr aus der Situation zu machen, als nur ihren Sommerurlaub zu verlängern?
(Lange Pause, dann:) Wenn Sie fragen würden: Könnte die CDU nicht jetzt ein paar Themen setzen, zum Beispiel Bildung, Sicherheit und Flüchtlinge – da würde ich nicht widersprechen.
Dass die SPD-Mitglieder alleine entscheiden, wer Regierender Bürgermeister wird, stört Sie nicht?
Die SPD macht dem Parlament nur einen Personalvorschlag.
Sie wurden damals während der Legislaturperiode gestürzt, dann gab es Neuwahlen. Das ist für die CDU jetzt keine Option?
Als Politikberater der Grünen würde ich nach Neuwahlen rufen und herausstellen, dass Wowereit das Zugpferd der SPD bei den letzten Wahlen war. Aber dahinter steckt ein Missverständnis der Grundsätze parlamentarischer Demokratie. Außerdem weiß die CDU, dass sie zwar stärkste Kraft werden könnte, aber dann wohl ein Koalitionspartner fehlen würde.
Über alles Mögliche sollen und wollen die Bürger abstimmen, aber wenn nach 14 Jahren außerplanmäßig ein neuer Regierender Bürgermeister kommt, haben sie das zu akzeptieren?
Ich glaube, es wird zurzeit ein wenig übersehen, dass Demokratie auch ein Herrschaftssystem ist. Man muss auch mal Entscheidungen gegen eine vermutete Mehrheit treffen, wenn man sie für richtig hält. Und nicht jede Auswechslung eines Spitzenpolitikers darf in einer Neuwahl-Debatte enden. Das macht nämlich das Auswechseln schwieriger.
Und die Machtperspektive der CDU in Berlin bleibt auf Dauer, der kleine Partner der SPD zu sein?
Nein. Auch politische Strukturen einer Stadt verändern sich. Die Machtperspektive der CDU als mögliche stärkste Kraft ist in den nächsten Jahren eine zur Vernunft gekommene Partei der Grünen. Solange dort aber linke Traditionalisten wie Hans-Christian Ströbele starken Einfluss haben, sehe ich für einen wirklichen Wechsel, also einen Senat ohne die SPD, wenig Chancen.
Zur Person Eberhard Diepgen
Wedding
Der 1941 geborene Eberhard Diepgen wuchs im Arbeiterbezirk Wedding auf.
Freie Universität
Ein Jahr vor Mauerbau begann Diepgen ein Jurastudium an der Freien Universität, das sein politisches Wirken maßgeblich beeinflusste. Mit Kommilitonen wie Klaus-Rüdiger Landowsky oder Peter Kittelmann prägte er lange Jahre die Berliner CDU.
Senat
1984 wurde er zum Regierenden Bürgermeister gewählt. Die Wahlen 1989 verlor Diepgen gegen Walter Momper, aber schon 1991 war er wieder im Amt. 2001 kündigte der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende Klaus Wowereit die große Koalition auf.