Umgang mit Corona-Ängsten in Berlin: Immer mehr rufen bei Telefonseelsorge an
Alles ist so belastend. Die Telefonseelsorger hören zu. In diesen Tagen ist das besonders wichtig. Und der Tagesspiegel hilft.
Die SMS, die Uwe Müller am Dienstag auf seinem Handy entdeckte, war nicht lang. Müller las sie, dann war er „berührt“. Der Text lautete: „Ich habe mit Ihrer Sekretärin geplaudert, nur zehn Minuten lang, aber es war so schön, dass ich mit jemandem reden konnte.“
Müller leitet die Kirchliche Telefonseelsorge Berlin/Brandenburg, er ist es gewohnt, dass sich Menschen nach einem Gespräch entlastet fühlen. Nicht der Inhalt der SMS hat ihn in erster Linie bewegt. Es war die Frau, die diese Nachricht geschickt hatte.
Eine Mitarbeiterin von ihm. Eine professionelle Telefonseelsorgerin.
Die Frau ist Mitte 60, alleinstehend, sie lebt seit Tagen wegen des Coronavirus in Quarantäne, sie fühlt sich abgeschnitten von allen sozialen Kontakten, ohne Vorwarnung. „Wenn schon so jemand, ein Profi, das Gefühl von Einsamkeit hat“, sagt Müller, „dann ist das bezeichnend.“
Corona - das führende Thema am Telefon
Das Coronavirus beherrscht auch die Arbeit der Telefonseelsorge. „In der vergangenen Woche war es das Virus selber“, sagt Müller, „jetzt kommen die Folgen. Jetzt rufen Leute an, die Angst um ihre wirtschaftliche Existenz haben.
Oder es melden sich vor allem Mütter, die Angst haben, dass es bei ihnen zu häuslicher Gewalt kommt, weil man jetzt vor allem in der Wohnung bleiben soll.“ Es gibt Schichten bei der kirchlichen Telefonseelsorge, bei denen sich alle Telefonate nur um das Coronavirus drehen.
Die Berliner Telefonseelsorge e.V., der zweite Anbieter in Berlin, führt Statistiken zu den Themen der Anrufer, fast 50 Prozent haben derzeit mit dem Thema Coronavirus zu tun. „Tendenz steigend“, sagt Bettina Schwab, fachliche Leiterin. Der Tagesspiegel hat durch seine Spendenaktion die Telefonanlage zuletzt mitfinanziert.
Einsam - trotz Freunden
Und letztlich kreisen alle Fragen, alle Befürchtungen, alles, was mit dem Virus zu tun hat, um „Einsamkeit“ und „Angst“, auch wegen dem, was jetzt erlaubt ist und was nicht. Die Trennlinie zwischen diesen Begriffen liegt grob zwischen drei Altersgruppen. Vor allem Menschen, die jünger als 50 und älter als 80 Jahre sind, fühlen sich gefangen im Gefühl der Einsamkeit. Die Gruppe der 50- bis 79-Jährigen sei besonders mit Ängsten konfrontiert – so Statistiken der Berliner Telefonseelsorge.
Einsamkeit bei Menschen über 80 Jahren? Keine Überraschung. Aber Menschen unter 50? Menschen mit Job? Mit Freunden, Vereins- und Arbeitskollegen? Ja, haben sie alles. Aber das Coronavirus ändert alles. Es vollzieht einen so harten Schnitt im Leben wie ein heißes Messer, das durch Butter fährt. „Diese Menschen definieren sich noch viel über soziale Kontakte“, sagt Bettina Schwab. „Die erleben plötzlich ein Gefühl von Einsamkeit, mit dem sie nicht umgehen können.
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Sie können vielleicht nicht mehr aus der Wohnung, sie können kaum jemanden treffen.“ Natürlich könnten sie telefonieren, mit Freunden und Bekannten. Aber auch das könnte gerade zusätzlich belasten. Viele von ihnen wollen genau mit diesen Freunden und Bekannten jetzt gerade nicht über ihre Einsamkeit reden. Deshalb wählen sie ja die Nummer der Telefonseelsorge. „Sie wollen, dass ihnen jemand zuhört, sie wollen ungestört allein über ihre Gefühle reden können“, sagt Bettina Schwab.
Die Telefonseelsorge fängt dann emotional auf. „Und oft reicht es auch, dass man einfach nur zuhört“, sagt Schwab. Die Mitarbeiter spüren genau, wenn jemand Schweigen am anderen Ende der Leitung als Wohltat genießt.
Hilfe zur Selbsthilfe
Wenn es Dialoge gibt, dann sind sie einfühlsam, die Mitarbeiter der Telefonseelsorge nehmen die Themen der Anrufer sensibel auf. Deshalb sind auch Ratschläge tabu. „Wir sind keine Psychotherapie, und wir bieten keine Lösungen an“, sagt Bettina Schwab. „Wir versuchen, den Anrufer langsam auf die Ebene zu führen, auf der er ein Stück weit selber herausfinden kann, was ihm guttut.“
Oft fühlen sich Anrufer von der Flut der Coronavirus-Nachrichten überrollt und überfordert, jede klingt noch schlimmer als die vorangegangene. „Aber wir erklären bestimmt nicht, was jemand dagegen tun soll“, sagt Bettina Schwab. Stattdessen lässt man dem anderen die Autonomie.
Also hört der zum Beispiel den Satz: „Vielleicht fallen ihnen drei Möglichkeiten ein, wie man das ändern kann.“ Vielleicht fallen ihm nur zwei ein, egal. Aber der Anrufer macht sich selber Gedanken, er ist Herr der Lage, ihm bleibt das Gefühl, dass er der Reizüberflutung aus eigenem Antrieb etwas entgegensetzt.
Nicht von morgens bis abends schlechte Nachrichten konsumieren
Oder der Mitarbeiter der Telefonseelsorge sagt: „Was würde Ihnen denn ihr Bruder raten, damit Sie diese ganzen schrecklichen Nachrichten nicht mehr wie bisher aufsaugen?“ – „Na, das ist ganz einfach, der würde mir sagen, dass ich lieber mal ein Buch lesen soll, statt Nachrichten und Talkshows zu schauen.“ Das sind genau die Empfehlungen, die auch Psychologen und Psychotherapeuten geben.
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Die Anrufer ahnen freilich nicht, wie sehr das Coronavirus auch die Menschen beeinflusst, mit denen sie gerade so einfühlsam am Telefon reden. Telefonseelsorger haben gelernt, in ihrer Schicht die eigenen Alltagssorgen auszublenden. Aber jetzt geht das nicht so einfach.
Die allgemeine Unsicherheit, was als Nächstes kommt, lässt auch Profis nicht kalt. Sie kennen so eine Pandemie genauso wenig wie die Anrufer. „Es ist jetzt eine Herausforderung, emotional Distanz zu halten“, sagt Bettina Schwab.
Doch die Zuhörer am anderen Ende wollen und sollen emotionaler Halt sein in Zeiten wie diesen. Denn wer anruft, „will einfach nur, dass einem jemand die Seele streichelt“.
Corona-Aussprachebedarf: Hier können Sie anrufen
Bei den geschulten Freiwilligen der kirchlichen Telefonseelsorge aussprechen? Telefon 0800-1110222.
Die Telefonseelsorge hat die Rufnummer 0800-1110111 bzw. - 222. Dank der Spenden der Leserinnen und Leser des Tagesspiegels konnte der Spendenverein bei der vorvergangenen Aktion „Menschen helfen!“ die jetzt aktuelle Arbeit dank 6889,90 Euro unterstützen – für einen neuen Server für stabile Telefonleitungen, neue verschlüsselte Back-ups gemäß EU-Datenschutzverordnung, für die Notstromversorgung und einen neuen benötigten Serverraum.
Bei der aktuellen 27. Runde von „Menschen helfen!“ wollen wir das Senioren-Telefon Silbernetz fördern, mit 3050 Euro für den Ausbau der Telefonhotline – eigentlich für über 60-Jährige, jetzt rufen aber auch ab 45-Jährige an.
„Niemand da zum Reden?“ –- Silbernetz verbindet, kostenlos, anonym, täglich von 8 bis- 22 Uhr, 0800 4 70 80 90. Seit zehn Tagen sind sie deutschlandweit erreichbar und verzeichnen die fünffache Anzahl von Anrufen. Normalerweise sind es 30 Prozent regelmäßige Anrufer, die durch Krankheit isoliert sind, sie haben jetzt zusätzliche Sorgen.
Anrufer aller Altersgruppen beschäftigen Fragen wie diese: Muss ich alleine in meiner Wohnung sterben? Woher bekomme ich meine Rezepte, wenn mein Arzt nicht erreichbar ist und ich das Haus nicht verlassen kann wegen der Ansteckungsgefahr?
Für junge Menschen mit Selbsttötungsgedanken bietet die Beratungseinrichtung Neuhland auf www.das-beratungsnetz.de, 030 873 0111, mo. bis fr. 9-18 einen Chat an.
Corona: Was Psychologen raten
Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde hat Tipps, die der Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint veröffentlichte: Vertrauenswürdige Info-Quellen nutzen und exzessiven Medienkonsum vermeiden. Routineabläufe mit festen Zeiten für Schlaf und Mahlzeiten helfen, innere Stabilität zu bewahren.
Sich austauschen und einander helfen. Man sollte sich Überforderung, Stress und Sorgen zugestehen. Gleichzeitig aber auf Aktivitäten konzentrieren, die positive Gefühle auslösen: der Kaffee am Morgen oder Musik. Wenn es sehr schlecht geht: professionelle Hilfe suchen. (mit Aliki Kalanzis)