Kindertransporte 1938-1939: „Ihre Kraft hat mich angespornt“
Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau engagiert sich fürs Gedenken an die Kindertransporte – auch in Zeiten der allein Flüchtenden.
80 Jahre ist es her: Mehr als 15.500 jüdische Babys, Kinder und Jugendliche bis 17 Jahre haben dank Kindertransporten zwischen dem 30. November 1938 und dem 31. August 1939 überlebt. Organisiert wurden die Rettungsreisen zu Pflegeeltern, Hostels oder Heimen sowie später zu Internierungslagern mit Genehmigung der britischen Regierung, etwa von jüdischen Gemeinden, der Anglikanischen Kirche und den Quäkern.
Es gab Sponsoren selbst aus Afrika. Das NS-Regime wiederum wollte jüdische Menschen außer Landes bekommen. Die Transporte starteten von Bahnhöfen aus ganz Deutschland, Polen, der Tschechoslowakei und Österreich. Mit Schiffen und Zügen ging es erst meist nach Großbritannien, aber auch in die Niederlande und nach Belgien, in die Schweiz – die später den Postkartenvertrieb organisierte.
Auch Irland, Dänemark, Schweden, Norwegen, Palästina, Australien und die USA nahmen Kinder auf – wie die heutige Therapeutin Ruth Westheimer, den internationalen Schriftsteller Walter Kaufmann, Berlin, und die amerikanische Autorin Lore Segal, Physiknobelpreisträger Arno Penzias oder den australischen Diplomaten Bern Brent.
Am Sonntag treffen sich ab 8.30 Uhr Zeitzeugen wie Paul Alexander, Angehörige, Rabbiner und 45 weitere Teilnehmer am Denkmal an der Friedrichsstraße/Georgenstraße. Ihre Radtour führt entlang der Strecke, die Alexander als Baby im Juli 1939 mit dem Zug bereiste: Vom Bahnhof Friedrichstraße bis nach Hoek van Holland zur Fähre nach England. Mitradler bitte melden: lisa.bechner@berlin.de.
Um 9 Uhr begrüßen Vize-Bundestagspräsidentin Petra Pau und der britische Botschafter Sir Sebastian Wood die Radler. In London empfängt die deutsche Botschafterin Tania von Uslar-Gleichen nächsten Freitag alle am Denkmal.
Frau Pau, wie kamen Sie dazu, sich für das Gedenken an die Kindertransporte einzusetzen?
Ich gestehe, ich wusste bis zu meiner ersten Begegnung mit Lisa Sophie Bechner, der Vorsitzenden der Kindertransport Organisation Deutschland e.V. und ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern, nichts über diesen Teil der Geschichte. Dann habe ich mich über die Biografien der damals geretteten Kinder, insbesondere auch Berliner Kinder und jener, die wieder in Berlin leben oder lebten, damit befasst.
Das traf zusammen mit den damaligen Plänen zur Aufstellung des Denkmals „Züge in das Leben – Züge in den Tod; trains to life – trains to death“ im Jahr 2008 am authentischen Ort am Bahnhof Friedrichstraße. Ich durfte das Werk des Künstlers Frank Meisler, der mir später selbst zum Freund wurde, am 30. November 2008, 70 Jahre nach dem Tag des ersten Kindertransports, selbst einweihen. Zu der Zeit waren auch 60 der Kindertransport-Kinder aus fünf Ländern in Berlin, ich habe Sie damals in den Bundestag eingeladen. Sie waren einst gerettet und nicht erschossen oder vergast worden.
Wie erlebten Sie die Begegnung mit den Überlebenden?
Einerseits ist es bedrückend, schon diese Vorstellung, die Eltern stehen vor der furchtbaren Entscheidung: Sie wissen oder sie ahnen, dass sie vom Tode bedroht sind, und ihre Kinder auch, und sie bekommen die Möglichkeit, eins oder auch zwei ihrer Kinder – vielleicht – zu retten. Es war für sie ja auch eine Fahrt ins Ungewisse, obgleich die Rettungsaktion vom Ausland aus organisiert worden war: Ich vertraue diese Kinder fremden Menschen an und weiß nicht, ob ich sie wiedersehe – und muss diesen Kindern dann auch noch eine Botschaft mitgeben, was jetzt passiert und warum sie sich trennen müssen – das alles ist ganz furchtbar.
Wenn ich mir die Lebensgeschichten ansehe, die des Ankommens zunächst in Großbritannien, aber dann auch immer die der Ungewissheit mancher auch Irrungen und Wirrungen, bis jeder seinen Platz dann gefunden hat, was für Geschichten! Oft stand auch erst nach 1945 die bittere Erkenntnis: Ich bin der einzige oder die einzige, die übrig geblieben ist und gerettet wurde.
Aber warum eigentlich, warum ich? Manchmal haben sie dieses Glück sogar ihren eigenen Kindern aus schlechtem Gewissen den Ermordeten gegenüber verheimlicht. Mit diesen Traumata der doch geretteten Kinder habe ich mich beschäftigt – einerseits. Anderseits kam dann die Begegnung hier im Bundestag anlässlich einer Ausstellungseröffnung mit einem Fototermin an der Spree.
Da trafen hochbetagte Frauen und Männer zusammen, mit diesem Schicksal, aber auch sehr fröhlich auftretend und einem unglaublich lebensbejahenden Umgang damit – diese Energie haben sie an mich weitergegeben. Wo sie diese Kraft her mobilisiert haben, das war für mich auch ein Ansporn und ich habe Motivation daraus geschöpft, mich da selbst zu engagieren. Die Themen Bürgerrechte und Demokratie sind ja schon lange meine Pro-Themen und meine Contra-Themen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus.
Rassismus und Antisemitismus sind wegen aktueller Vorfälle auch in Berlin leider wieder gegenwärtig...
...wir leben ja in Zeiten, in denen wir uns nicht sicher sein können, dass Entwicklungen wie damals nicht wieder geschehen – ganz im Gegenteil. Mir ist aber noch etwas wichtig. Als das Berliner Denkmal aufgestellt wurde, hat der damalige Polizeipräsident Dieter Glietsch angeregt, dass Berliner Polizeischüler in Kooperation mit der damaligen Landespolizeischule nicht nur die Patenschaft über das Denkmal übernehmen, sondern dass sie die Geschichten der geretteten Kindertransportkinder etwa durch Interviews dokumentieren und sich so auch selbst damit konfrontieren.
Mein Eindruck war nach Gesprächen, dass das sehr nachhaltige Erlebnisse waren. Es geht ja auch immer um die Themen Verantwortung – und Zivilcourage. Wir wissen inzwischen, wie viele Deutsche als Nachbarn, als Polizisten und in anderen Funktionen beteiligt waren an dem Unfassbaren, das wir heute Holocaust nennen.
Kindertransport: ein sperriger Begriff, eine bewegende Rettungsaktion. So wenig ist davon in Museen, in Filmen, in Schulbüchern zu finden – schade.
Es ist ja leider noch nicht so lange her, dass die organisierten Rettungsreisen von insgesamt 15.500 Säuglingen, Kindern und Jugendlichen bis zu 16 Jahren aus Deutschland, Polen, Österreich und anderen Ländern über England zu Pflegeeltern, Hostels oder Heimen in 16 Ländern überhaupt nicht im Bewusstsein waren. Und jetzt stolpert man im Wortsinne über das Denkmal in Berlin sowie weitere in London, Hamburg, Gdansk und Hoek van Holland. Es liegen dort immer Blumen, das Gedenken ist lebendig.
Das zeigt, das Konzept des Denkmals ist aufgegangen. Für mich war auch ganz bewegend – und da kommen wir jetzt auch auf Aktuelles –, dass, als ich im Vorhafen von Rotterdam, Hoek von Holland, war zur Einweihung eines Denkmals, der dortige muslimische Bürgermeister mit seinem Stadtparlament diesen Gedenkakt organisiert und verantwortet hat.
Das ist mir wichtig: Es geht um das Überkonfessionelle, und es geht um Menschen und um Menschlichkeit. Es geht um den Artikel eins des Grundgesetzes, die Würde des Menschen ist unantastbar. Das halte ich für ungeheuer wichtig. Vielleicht könnte diese Geschichte der Kindertransporte zumindest diejenigen, die im Herzen noch erreichbar sind, aufschließen für dieses das Thema, was unsere Verantwortung betrifft für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge heute.
Im Übrigen endet diese Verantwortung auch nicht mit dem Erreichen des 18. Lebensjahres. Ihre Traumata, ihre Fluchtgeschichten, haben wirklich alle Unterstützung dieser Welt verdient. Und all diejenigen, die sich um sie kümmern und ihnen helfen, sie stützen, verdienen unser aller Respekt.
Was können Sie als Vize-Bundestagspräsidentin anregen, damit die Kindertransporte auch über die Jubiläumsmonate hinaus in der Erinnerung präsent bleiben?
Da gibt es einiges, was mir in den Kopf kommt, was ich bewegen möchte. Etwas Konkretes, als erste Schritte: Ich möchte den Berliner Verein Kindertransport Organisation Deutschland und Frau Bechner gern mit den Initiatoren der Kultusministerkonferenz für das neue Lernportal mit einer Materialsammlung für Lehrkräfte zur besseren Vermittlung des Judentums bekannt machen.
Abrufbar sind sie über die Seite des Zentralrates der Juden in Deutschland. Da sind auch viele Forschungseinrichtungen und Lehrerbildungsinstitute beteiligt. Das Portal soll weiterentwickelt werden, die weltumfassende Rettungsaktion könnte als Inhalt hinzugefügt werden.
Noch etwas: 2011 war der erste Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus erschienen und in den vielen Empfehlungen ging es auch um Unterrichtsmaterialien, damit sich Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher überhaupt diesem Thema annähern.
Ein Lehrer sagte zu mir, wir brauchen das, weil meine Schülerinnen und Schüler das erste Mal etwas über Juden hören, wenn sie im Geschichtsunterricht oder anderswo etwas über die Jahre 1933 bis 1945 erfahren – das heißt, Jüdinnen und Juden als Opfer kennenlernen.
Das Portal setzt anders an, es geht um jüdische Kultur, Geschichte, Religion – man erahnt, was hier vernichtet wurde an kulturellen Wurzeln, an Kulturgut. Es wird auch Wissen über Israel vermittelt. Im zweiten Expertenbericht ist der Befund enthalten, das Lehrerinnen und Lehrer der heutigen Generation in ihrer Ausbildung nicht befähigt wurden, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen.
Doch das Thema Antisemitismus ist leider hoch aktuell. Das Gedenken an die Kindertransporte liegt mir auch als Mitglied des Kuratoriums für das Denkmal für die ermordeten Juden am Herzen. Die bewegenden Geschichten der Kindertransportkinder, von denen einige wenige nur noch wenige Jahre als Zeitzeugen berichten können, sollten auch in andere bestehende und schon vorhandene Angebote aufgearbeitet und eingebracht werden, etwa bei der Bundesstiftung für das Holocaust-Denkmal, bei Gedenkveranstaltungen und beim Verbund der Berlin-Brandenburger Gedenkstättenleiter.
Wie in Lehrpläne und Schulbücher. Ich erlebe bei Frau Bechner und ihren ja wenigen Vereinsmitgliedern eine ungeheure Energie und viele Ideen, die ich immer wieder faszinierend finde, die ich aber verstetigen und verbreitern will. Dem Verein wünsche ich mehr Unterstützung.
Wie stehen Sie zur Debatte um die heute allein und teils auch wegen des Familiennachzugs geschickten Flüchtlingskinder? Zeitzeugen und Kindertransport-Gedenkvertreter sagen, damals sei es etwas anderes gewesen. Alle hatten den sicheren Tod des Kindes vor Augen, es waren organisierte Verschickungen zu Pflegefamilien oder Heimen. Das Land wollte auch die Kontrolle haben darüber, dass möglichst viele Juden gehen. Heute würden Kinder in Richtung des reichen, versorgenden Deutschlands geschickt, aber mit Schleppern über lebensgefährliche, oft erst traumatisierende Routen?
Solche einen Vergleich würde ich nie in den Vordergrund stellen, weil schlussendlich damals wie heute die Frage steht, die niemand leichtfertig beantwortet: Wohin schicke ich mein Kind, sehe ich es jemals wieder? Und wenn in irgendeiner Abwägung jemand sagt, es hat vielleicht die Chance, zu überleben, wer maßt sich an, über diese Entscheidung zu richten?
Ich begebe mich erst gar nicht in dieses Fahrwasser. Eine solche Entscheidung kann keiner bewerten und auch nachvollziehen, der nicht in einer vergleichbaren Lage war oder ist. Für mich stehen die Kinder und Jugendlichen und ihr Schicksal hier und heute mit allen Herausforderungen im Mittelpunkt.
Wir müssen uns als Gesellschaft genauer fragen, was wir mit Blick auf die minderjährigen Unbegleiteten im Umgang mit ihnen hinbekommen haben und was noch fehlt. Es kommen immer noch Kinder und Jugendliche aus Kriegs- und Krisenländern mit teils traumatisierenden Erfahrungen im Herkunftsland oder auf der Flucht an.
Sie brauchen noch viel mehr Zuwendung, Förderung, Therapie, Schulplätze und ein Miteinander mit Gleichaltrigen, die hier sozialisiert wurden. Wir sollten die jetzige Situation sachlich betrachten und debattieren. Die UN-Kinderrechtskonvention und andere Gesetzlichkeit garantieren etwa das Recht auf Familie.
Doch da konnte ich vielen Betroffenen im Gespräch schon keine Hoffnungen machen und kann es mit der jetzigen Regelung zum subsidiären Schutz noch weniger. Den Aspekt im gesellschaftlichen Bewusstsein zu verankern, dass die Kinder die ersten Opfer sind, sie nichts für ihre Lage können und wir eine besondere Verantwortung haben, das ist mein Ziel.
Wünsche des Vereins
Wie schön wären Gedenktafeln an Bahnhöfen, die Beleuchtung des Denkmals, eine Pflegekooperation mit der BSR in Berlin, eine Schulpartnerschaft. Bald wird es einen Frank-Meisler-Preis geben; von den Kindern des verstorbenen Künstlers. Recherchestipendium, Spenden, qualifizierte Unterstützer – gern gesehen bei Lisa Sophie Bechner, Leiterin Kindertransport-Organisation Deutschland e.V., Tel. 49 (0) 30 604 010 21, lisa.bechner@berlin.de, www.kindertransporte-1938-39.eu