„Genießen nicht mehr Priorität“: IHK Berlin beklagt schwindenden Einfluss
Enteignungsdebatte und Mietendeckel belasten das Verhältnis zwischen Senat und der Wirtschaftskammer. Dort rätselt man, warum die Politik nicht auf ihren Rat hört.
Jedes Jahr in der Adventszeit zieht die Industrie- und Handelskammer (IHK) bei einem Abendessen mit Vertretern aller großen Medienhäuser der Stadt Bilanz. In der Regel geht es da weniger um die Arbeit innerhalb der Kammer mit ihren vielen haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern. Im Vordergrund steht die Bewertung der Arbeit des Berliner Senats und der Bezirke, die gemeinsam ja einen wichtigen Teil der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Unternehmen setzen.
Traditionell verteilen die beiden führenden Köpfe der größten Berliner Wirtschaftskammer aus diesem Anlass eher sparsam Lob - und üben mehr Kritik. Dies liegt in der Natur der Sache, denn daraus ziehen alle Kammern und Verbände schließlich ihre Legitimation. Bei ihrem Rück- und Ausblick am Montagabend in einem Hotelrestaurant am Potsdamer Platz aber gaben sich IHK-Präsidentin Beatrice Kramm und Hauptgeschäftsführer Jan Eder so pessimistisch wie seit Jahren nicht mehr.
Anlass für ihre Aussagen seien der im Herbst veröffentliche Konjunkturbericht auf Basis einer Unternehmerumfrage so wie zahllose Gespräche mit Entscheidungsträgern in der Stadt. Fazit: „Die Zahlen lügen nicht. Die Konjunkturlaune trübt sich ein“, sagte Kramm.
Eder erinnerte an den über Jahre anhaltenden Aufschwung und die wirtschaftliche Aufholjagd, die Berlin im Vergleich zu den 15 anderen Bundesländern unternommen habe. So sei die Wirtschaft seit dem Jahr 2010 hier insgesamt um fast ein Viertel (23,5 Prozent) gewachsen. Im Bundesdurchschnitt lag das Plus nur bei 15,3 Prozent. Bereits seit 2006 wachse Berlins Wirtschaft überdurchschnittlich stark.
Auch wegen dieser guten Geschäfte der Unternehmen seien Berlins Steuereinnahmen binnen neun Jahren von 10,5 auf 17 Milliarden Euro pro Jahr gestiegen. Geld, das Senat und Bezirke investieren und zum Reduzieren des Schuldenberges (knapp 58 Milliarden Euro) nutzen könnten.
Nicht nur die beiden großen Investitionsankündigungen von Siemens und zuletzt Tesla würden belegen, „dass die Wirtschaftsregion Berlin in hohem Maße attraktiv ist“, wie Kramm sagte. Zugleich hätten die jüngst verkündeten Stellenstreichungspläne der Industriekonzerne Bosch und Osram klar gemacht, dass der Senat sich nicht ausruhen dürfe.
Aber das tut er in Augen der beiden Kammerchefs. Vielleicht schlimmer noch: Alle drei Koalitionsparteien, SPD, Grüne und Linke, würden sich einen Überbietungswettstreit leisten mit Vorschlägen, um ihre (linke) Wählerklientel zu befriedigen – und zwar mit „umstrittenen Projekten mit fragwürdiger Wirkung“ (Kramm). Gemeint sind vor allem die Vorhaben zur Enteignung großer Wohnungsbaugesellschaften und der nun erst im Senat beschlossene Mietendeckel.
Prognose: Senat scheitert mit Mietendeckel und Enteignungen vor Gericht
Beide Maßnahmen würden vor Gericht keinen Bestand haben, sagte der studierte Jurist Eder voraus. Aber der politische Plan zersetze das Vertrauen aller Investoren in den Standort – ohne das Problem schnell steigender Mieten zu lösen. Wobei auch dieses Problem relativ sei: „Bei der Kammer in München schütteln die nur mit dem Kopf und fragen, wo unser Problem ist.“
Anders als man vermuten könnte, pflegt die Kammer keine grundsätzliche Ablehnung linker Politikprojekte. Das wäre auch nicht besonders konstruktiv angesichts einer seit bald zwei Jahrzehnten stabilen Mehrheit der Parteien links der Mitte. Bis heute hält man große Stücke auf die pragmatische Politik des ehemaligen Links-Politikers Harald Wolf (Linke), der bis 2011 als Wirtschaftssenator amtierte. Aber auch die am Dienstag vorgestellten Pläne zum Vergabemindestlohn und zum Vergabegesetz gehen für die Kammer in die völlig falsche Richtung.
Nicht nur bei diesem Abend und im Gespräch mit diesen Funktionsträgern ist zu spüren, wie tief die Anfang 2019 erstmals diskutierten Maßnahmen von Rot-Rot-Grün das Vertrauen von Wirtschaftsvertretern in den Standort Berlin erschüttern. Nicht nur, aber vor allem in der Bauwirtschaft, die doch für die wachsende Stadt bauen müsse, wie Eder sagt. „Ja, der Mietendeckel gilt zur Zeit nicht für Neubauten“, bemerkte er. „Aber wer sagt denn, dass dieser Senat das nicht ändert? Würden Sie Ihr Geld hier in einen Neubau investieren?“.
„Haben wir als Unternehmen so schlecht gehandelt, dass der Senat meint, uns so enge Grenzen setzen zu müssen?“, fragte Kammer-Präsidentin Kramm. „Wir sind es, die Arbeitsplätze schaffen und Steuern zahlen“, erklärte sie als Inhaberin und Geschäftsführerin einer großen TV-Produktionsfirma. Kramm richtete einen dringenden Appell an dem Senat. Sie nannte einige Punkte, die Berlins Landesregierung zwingend noch im Jahr 2020 erfüllen müsse, wolle er die Kurve kriegen:
So müsse der Senat gemeinsam seine Enteignungspolitik überdenken. Er müsse auch in die Zukunftsfähigkeit investieren – also zum Beispiel den Zuzug von Fachkräften, die Senkung der drastisch hohen Schulabbrecherquote von zehn Prozent. Auch brauche Berlin für jeden Bezirk ein eigenes Gewerbeflächensicherungskonzept. Der Senat müsse zusätzliche Flächen sichern.
Der Senat müsse auch die Bauordnung aus den 1960er Jahren grundlegend erneuern. Es brauche zudem eine neue Verkehrspolitik, die auch den Wirtschaftsverkehr einschließt, anstatt sie zu ignorieren, beziehungsweise nur als Anhang der Fahrradpolitik zu begreifen. „Autos werden über Jahrzehnt integrativer Bestandteil des Stadtverkehrs bleiben“, sagte Kramm. Das wolle man auch Verkehrs- und Umweltsenatorin Regine Günther (Grüne) bei einem Treffen am Mittwoch sagen.
Kramm und Eder, die ihre Kammer als „wirtschaftspolitisches Gewissen der Stadt" bezeichneten, ließen erkennen, dass sie sich ärgern, dass sich Mitglieder des Senats konsequent über wirtschaftspolitische Bedenken hinwegsetzen. „Unsere Themen werden wahrgenommen von den Mitgliedern des Senats“, sagte Kramm. „Aber sie genießen offenbar nicht mehr die Priorität wie früher“.