Traumatisierte Flüchtlinge: „Ich dachte, ich schaffe es hier nicht“
Viele Geflüchtete haben schwere psychische Probleme. Doch nur selten erhalten sie professionelle Hilfe.
Wenn Ibrahim K. S- oder U-Bahn fährt, beschäftigt er sich mit irgendetwas auf seinem Handy. Er kann es nicht ertragen, für einen Moment nichts zu tun. Er möchte nicht denken und nichts spüren. Denn dann wird er sehr traurig und bekommt Angst.
Ibrahim, 29 Jahre alt, ist vor sechs Jahren vor dem Krieg aus Syrien geflohen. Drei Wochen lang ist er zu Fuß von Griechenland nach Deutschland gegangen, hat auf der Straße geschlafen und Hunger erlebt. Auf dem Weg entwickelt er eine Hautkrankheit. Dann kommt er nach Berlin, schläft in einer Halle, erhält Essen, und seine Haut wird behandelt. Trotzdem geht es ihm nicht gut. Nacht für Nacht hat Ibrahim Albträume, in denen er den Krieg erneut erlebt: Bomben fallen, er wird schwer verletzt oder gar erschossen. Wie viele Geflüchtete kann er seine Erinnerungen nicht abschütteln. Auch Jahre nach der Flucht leiden die Betroffenen unter ihren Erfahrungen, der Trennung von Familienangehörigen, um die sie sich sorgen, dem Verlust von Freunden und Heimat.
Ibrahim, der in Syrien Politikwissenschaft studiert hat, versucht, sich abzulenken, er möchte den Krieg vergessen und ein neues Leben aufbauen. Fleißig büffelt er Deutsch, findet eine Wohnung, lernt viele Leute kennen und beginnt, zu jobben. Einmal begleitet er einen Freund zu einem Theaterworkshop. Sofort ist ihm klar: Er will Theaterschauspieler werden.
Einer von drei Geflüchteten gilt als psychisch stark belastet
Also: Alles läuft. Aber etwas stimmt nicht. „Sobald ich etwas Stabilität gefühlt habe, kamen die unterdrückten Gefühle hoch“, sagt er. Sein Herz schmerzt, im übertragenen und im körperlichen Sinne. „Ich habe oft das Gefühl, mein Herz drückt so stark. Manchmal denke ich, es wird explodieren.“ Er lässt sich untersuchen. Alle Organe sind gesund. Die Ärzte empfehlen ihm, einen Psychologen aufzusuchen, doch er bekommt keinen Therapieplatz.
Damit ist er nicht allein. Einer von drei geflüchteten Menschen gilt als psychisch stark belastet, sagt Thomas Elbert, Professor für klinische Psychologie und Neuropsychologie an der Universität Konstanz und Sprecher der Arbeitsgruppe „Psychische Gesundheit Geflüchteter“ in der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Das heißt, sie können nachts nicht schlafen, sich nicht konzentrieren und fühlen sich oft bedroht. Sie brauchen professionelle Hilfe – die sie aber selten bekommen. „In einer neuen Gesellschaft mit neuer Sprache anzukommen, ist ein harter Prozess. Dafür muss man voll leistungsfähig und seelisch gesund sein.“ Neben dem allgemein bestehenden Mangel an psychiatrisch-psychotherapeutischer Versorgung gibt es nicht genügend ausgebildete Psychotherapeut*innen, die für die Behandlung von Trauma-Folgestörungen qualifiziert sind. Es mangelt auch an Finanzierung für qualifizierte Dolmetscher, die für die Therapie oft unabdingbar sind.
Menschen mit Fluchterfahrung könnten „Peer-Berater“ werden
Im Jahr 2018 hat Elberts Arbeitsgruppe eine Stellungnahme mit dem Titel „Traumatisierte Flüchtlinge – Schnelle Hilfe ist jetzt nötig“ erarbeitet. Das Papier enthält Lösungsvorschläge. In weniger schweren Fällen könnten einfachere Angebote von großer Bedeutung sein, heißt es darin. Die Forscher empfehlen unter anderem, Personen mit eigenen Fluchterfahrungen oder Migrationshintergrund zu schulen, um „Peer-Beraterinnen und –Berater“ zu werden. Sie könnten psychisch belastete Flüchtlinge begleiten, für sie übersetzen, ihnen helfen einen Therapieplatz zu finden und soziale Kontakte zu knüpfen. Diese Verhaltensaktivierung und soziale Einbindung könnten vielfach ebenso wirksam sein wie eine Therapie.
Nach einer zusätzlichen intensiven Schulung könnten die „Peer-Beraterinnen und –Berater“ auch „Trauma-Berater“ werden. In enger Zusammenarbeit und unter Supervision eines Psychotherapeuten könnten sie selbstständig mit den Betroffenen arbeiten, um ihnen Informationen über eventuell entstandene Erkrankungen zu vermitteln und Kurzzeitbehandlungen anzubieten.
Seit der Stellungnahme sei jedoch wenig passiert, betont Elbert: Bürokratie und Überregulierung verlangsamten alles. Dabei sei eine psychologische Therapie kein Luxus. „Viele Menschen denken bei psychischen Krankheiten, dass sie sich zusammenreißen sollen und dann wird es schon. Das ist falsch. Bei geflüchteten Menschen kommt erschwerend hinzu: In ihren Herkunftsländern ist es oft nicht üblich, bei seelischen Problemen professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.“
„Ich möchte nicht obdachlos werden“
Die geflüchteten Menschen, die eine Therapie erhalten haben, haben Elbert zufolge davon profitiert: Bei 70 Prozent von ihnen hat sich der Zustand deutlich verbessert, bei 30 Prozent gering. „Das hängt natürlich auch davon ab, ob sie die passende Behandlung und Medikamente erhalten haben.“
Ibrahim hat einen Platz an einer privaten Theaterschule ergattert. Das Geld ist knapp, daher muss er nebenbei viel arbeiten, um es zu schaffen. In den ersten Monaten verliert er seinen Nebenjob und kann seine Miete nicht bezahlen. Sofort erwachen in ihm alte Ängste: Als er einmal in der U-Bahn Obdachlose sieht, fürchtet er ein ähnliches Schicksal, ihm wird plötzlich heiß, und er wird ohnmächtig. „Ich dachte: Ich schaffe es hier nicht. Ich möchte nicht obdachlos werden.“ Zum Glück findet er danach einen neuen Job, der sogar gut bezahlt wird.
Es gibt nun einen Ort, wo er seine Gefühle herauslassen kann: die Theaterbühne. „Ich bin froh, dass ich Theaterschauspieler bin. Auf der Bühne kann ich weinen und schreien und alles, was ich sonst unterdrücke, rauslassen.“
Hend Taher