Appell einer Geflüchteten: „Wir wollen arbeiten - doch Ihr gebt uns keine Chance“
Seit fünf Jahren lebt unsere syrische Autorin in Berlin. Ihr Mann ist Arzt und findet trotz Pandemie und Fachkräftemangel keinen Job. Ein Erfahrungsbericht.
Vor wenigen Monaten, als ich noch vor Corona-Pandemie und Reisebeschränkungen von einer internationalen Konferenz aus dem schwedischen Malmö zurückkehrte, warteten meine Kinder zu Hause mit einer ziemlich schlechten Nachricht auf mich.
Ihr Vater sei von der Arbeit entlassen worden, teilten sie mir zwischen warmen Küssen und einer sehr herzlichen Umarmung mit. Mein Mann selbst sagte nichts, drückte einfach nur meine Hand, so wie er es immer tut, wenn es einem von uns schlecht geht.
Wir kommen aus Syrien. Vor fünf Jahren flohen wir vor dem dortigen Bürgerkrieg und leben nun in Berlin. Wir haben alles gemacht, um uns gut einzuleben, uns anzupassen, aber dass wir uns noch immer nicht richtig aufgenommen fühlen, manifestiert sich in der Geschichte meines Mannes.
Mein Mann ist Arzt. In Deutschland gibt es einen eklatanten Ärztemangel. Doch selbst jetzt während der Corona-Pandemie findet er keine Arbeit in Deutschland.
Der Grund ist die Sprache – das sagen sie jedenfalls. Ich glaube eher, der Grund ist, dass man uns Flüchtlingsfamilien keine richtige Chance gibt. Dass man ausblendet, dass es vielleicht etwas Arbeit bedeuten könnte, damit wir in diesem System bestehen können. Dass wir mehr Unterstützung brauchen, um das wirklich zu schaffen.
Unsere Kinder werden besser aufgenommen
Für meine Kinder, die 14 und 16 Jahre alt sind, ist das Leben deutlich einfacher. Sie gehen beide aufs Gymnasium, haben gute Noten und viele Freunde. Alle anfänglichen Sprachbarrieren haben sie längst hinter sich gelassen. Ehrlich gesagt, scheinen sie niemals wirkliche Schwierigkeiten gehabt zu haben, mit anderen zu kommunizieren. Ganz im Gegenteil zu meinen 57 Jahre alten Mann.
Mein Mann hat 17 Jahre als Frauenarzt gearbeitet, sieben Jahre in Syrien und zehn Jahre in Saudi-Arabien. Mit viel Disziplin hat er Deutsch gelernt. Er hat alle wesentlichen Sprachzertifikate erhalten sowie die Fachsprachprüfung der Ärztekammer bestanden. Das Einzige, was meinem Mann fehlt, ist Übung und Geduld. Die Übung bekommt er, wenn er arbeiten darf. Aber die Geduld, die müssen die anderen mitbringen.
Zuletzt hat mein Mann drei Monate in einem Krankenhaus in Mecklenburg-Vorpommern gearbeitet. Während dieser Zeit hat er ungefähr 20 Spätdienste absolviert. Danach hat man ihm gesagt, dass man ihn nicht mehr braucht. Wieso kam diese Absage erst so spät? Sie sagen, es läge an der Sprache. In der Kündigung heißt es, man habe ihm viele Angebote gemacht, aber das stimmt nicht.
Ein Sprachkurs oder Möglichkeiten zur Weiterbildung wurden ihm nicht angeboten. Um all das hat er sich selber gekümmert, aber was er tatsächlich brauchen würde, ist einfach nur mehr Zeit. Die gibt es im deutschen Gesundheitssystem nicht.
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Für mich fühlt es sich so an, als ob alles umsonst war. Jetzt muss meine Familie von vorne anfangen – einen Job für den Vater meiner Kinder suchen. Das belastet unser Familienleben immens. Mein Mann möchte wie jeder andere Vater ein Vorbild sein. Seine Kinder möchten zu ihm aufschauen. Alle sorgen wir uns gleichermaßen und fühlen uns dadurch insgesamt als Familie ausgegrenzt.
Jens Spahn reist um die Welt, aber viele Ärzte sind schon da
Besonders unser 16-jähriger Sohn empört sich über vergangene Reisen von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), der in verschiedenste Länder fährt, um dort medizinische Fachkräfte nach Deutschland zu locken. „Warum all das?“, fragt er.
Wenn es doch hier in Deutschland so viele motivierte Menschen mit Erfahrungen gibt, in die investiert werden sollte, anstatt sie auszugrenzen. „Mein Vater kann immer noch arbeiten. Er sollte seine Chance bekommen. Es ist unfair, ihn nur zu entlassen, weil er nicht perfektes Deutsch spricht“, meint mein Sohn.
Tausende Syrer sind in den letzten Jahren mit ihren Familien nach Berlin gekommen. Damit wir uns alle verstehen, ist es nicht nur wichtig, dass wir eure Art zu Leben kennenlernen, sondern dass auch ihr eine Idee von unseren Alltagsproblemen und Ansichten bekommt.
Dies erinnert mich an eine Geschichte, in der eine Gruppe blinder Menschen auf einen Elefanten trifft. Jeder von ihnen beschreibt den Elefanten, ohne ihn sehen zu können, stattdessen ermöglicht dadurch, dass er mit der Hand einige Teile des Elefantenkörpers berührt. Alle glauben, dass sie durch ihre persönliche Erfahrung die absolute Wahrheit der Elefantenform besäßen. Und merken nicht, dass die anderen Personen jeweils eine andere Wahrheit besitzen.
Wenn wir nicht versuchen, die Distanz zwischen uns zu verringern, einen Dialog starten und endlich gemeinsam handeln, können wir kein gemeinsames und harmonisches Leben miteinander führen.
Deutsch ist eine schwierige Sprache - wir brauchen Zeit
Mein Mann ist nur einer von vielen Geflüchteten und gut ausgebildeten Syrern, die in Berlin oder anderen Orten in Deutschland leben und trotz umfassender Ausbildung den Einstieg in ein normales Berufsleben nicht schaffen.
Niemand kann leugnen, dass es in der deutschen Gesundheitsbranche einen großen Bedarf an Fachkräften gibt. Die Medien berichten regelmäßig davon. Das Land Berlin weist bei den Gesundheitsämtern und in vielen Bereichen ein Personaldefizit auf. Viele Kliniken suchen nach Mitarbeitern. Die Geburtsstationen klagen, dass sie überlastet sind. Ich sage nicht, dass den Geflüchteten überhaupt keine Chance gegeben wird, aber häufig wird ihnen zu wenig Zeit geboten.
Mein Mann arbeitete für einige Monate in einer Geburtsklinik in Brandenburg. Der Druck war groß und das Arbeitsumfeld nicht angenehm. Mein Mann tat, was er konnte und mehr. Manchmal besuchte er nach der Arbeit Sprachkurse, um sein Niveau zu verbessern. An anderen Tagen kehrte er nachts ins Krankenhaus zurück, um zu lernen, wie Patienteninformationen und -daten in das elektronische System des Krankenhauses eingegeben werden.
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Um so etwas zu lernen, braucht man Zeit, nichts weiter. Das Krankenhaus hat ihm diese Chance nicht gegeben. Meine Kinder empfinden das als ungerecht und betrachten es als einen Mangel an Respekt.
Doch es gibt auch Ausnahmen. Vor einiger Zeit traf mein Mann einen Arzt, der eine schöne „Spur“ in unserem Leben hinterließ, wie wir in Syrien sagen würden. Wir trafen ihn ganz zufällig. Mein Mann erklärte ihm seinen Wunsch, in einem Krankenhaus ein Praktikum zu absolvieren, um das deutsche System besser kennenzulernen. Dieser Arzt gab ihm spontan die Möglichkeit dazu.
Wenn eine Person wieder in dem Beruf arbeiten darf, der ihr einst verloren gegangen ist, dann gibt das dieser Person die Anerkennung zurück, den Respekt, den sie braucht, um sich als gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft zu fühlen – ohne weiterhin bemitleidet zu werden.
Wir wollen arbeiten und kein Geld vom Staat bekommen
Nach einem Jahr Praktikum erhielt mein Mann eine Arbeitserlaubnis, aber leider hatte das Krankenhaus, in dem er arbeitete, zu dem Zeitpunkt keine freie Stelle. Daraufhin musste mein Mann woanders suchen, aber er fand nicht mehr das gleiche Arbeitsumfeld, wie in der Klinik des netten Arztes.
Ich schätze das deutsche Sozialsystem, aber für uns Eltern ist es schwer, dass wir teilweise, auch wenn ich arbeite, nun darauf angewiesen sind, seitdem mein Mann seinen Job nicht mehr hat.
Meine Tochter sollte ursprünglich auf eine Schulreise nach Frankreich aufbrechen, die 650 Euro kosten sollte. Wir hätten uns über das Jobcenter den Flug finanzieren lassen können, aber gut fühlt sich so etwas für uns nicht an.
Alle Geflüchteten sind in Deutschland gut untergebracht. Niemand der arbeitslos wird, wird obdachlos. Das ist ein hohes Gut. In den ärmeren Teilen der Welt arbeitet ein Mensch atemlos bis zum Ende seines Lebens, um für sich und seine Kinder seinen Lebensunterhalt zu sichern.
Das Gefühl, eine Arbeit zu haben, ermöglicht aber den Menschen auch das Gefühl, ein Teil dieses Systems zu sein. Es ist ein Recht und eine Pflicht zugleich. Es ist daher wichtig, dass alle Arbeitgeber den neuen Menschen in diesem Land ausreichend Zeit geben, damit sie die deutsche Sprache lernen können. Denn nur über die Arbeit selbst können die Menschen mit anderen Leuten in Kontakt treten und lernen dabei die Strukturen der Arbeit kennen. Zu Hause werden sie sie jedenfalls nicht lernen.
Einwanderung muss ein Weg der Hoffnung sein
Dieses Thema ist kein individuelles Problem meines Mannes oder meiner Familie. Ich kenne viele Syrer und andere Geflüchtete, die viel Berufserfahrung mitbringen, denen aber der Spracherwerb große Probleme bereitet. Es ist Sache des deutschen Staates und des Landes Berlin, Lösungen dafür zu finden, dass Arbeitgeber diesen Menschen mehr Zeit geben können und sie einarbeiten können.
Wie will der Staat also Menschen in die Arbeit integrieren, wenn die Entscheidungsträger in den Einrichtungen und Krankenhäusern dies nicht beabsichtigen. Dafür muss es – statt Ausgrenzung – Lösungen geben. Und wie der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, einmal sagte: „Wir wollen, dass die Einwanderung ein Weg der Hoffnung und kein Grund zur Verzweiflung ist.“
Selbstverständlich hat sich mein Mann für die neue Berliner Covid-19-Klinik beworben, die auf dem Messegelände in Charlottenburg entstanden ist. Wie und wann und ob er überhaupt dort gebraucht wird, wird sich zeigen. Bisher hat man ihm gesagt, er solle noch abwarten.
Amloud Alamir, 44, ist Redakteurin bei „Amal, Berlin!“, einer Onlineplattform mit Nachrichten auf Arabisch und Persisch. Übersetzung: Muhamad Abdi
Amloud Alamir