Auferstanden aus Grafikkarten: Hier reisen Sie mit VR-Brille ins geteilte Berlin
Am Freitag eröffnet das Museum „TimeRide“ am Checkpoint Charlie. Es bietet eine Bus-Zeitreise in die geteilte Stadt – dank täuschend echter Virtual Reality.
Das zieht sich mal wieder. Die Grenzer wühlen sich grimmig-genüsslich durch die Ausweispapiere am Checkpoint Charlie, dann geht der Schlagbaum hoch, der Setra-Bus ruckelt, guck mal da, ein Mauerhase!; und schon schaukelt man los über den Rumpelasphalt, auf dem Trabbis tuckern und an dessen Rändern Menschen nach Orangen anstehen.
Es geht vorbei an Blechbauzäunen und gelben Zeitungskiosken, die die offiziell veröffentlichten Errungenschaften des Sozialismus verkaufen, ostwärts in Richtung Leipziger Straße, auf der so gut wie keine Autos fahren, in Richtung Palast der Republik, dessen getönte Scheiben die Sonne gleißend widerspiegeln. Willkommen in Ost-Berlin! Willkommen bei der ersten Zeitreise in die Hauptstadt der DDR.
„Uns ist schon klar, dass es keine echten Zeitreisen gibt“, erzählt Jonas Rothe, „aber wir wollen der Illusion so nahe wie möglich sein.“ Der 32-Jährige steht am Checkpoint Charlie auf der Baustelle des von ihm gegründeten „TimeRide“-Museums, das am Freitag feierlich eröffnet wird. Der Tagesspiegel ist Partner des neuartigen Projekts, Geschichte zu erleben.
Hütchenspieler statt authentischen Mauererinnerungen
In der Gegenwart draußen suchen Touristengruppen nach irgendwie authentischen Mauererinnerungen (finden aber nur Hütchenspieler und Trabi-Safaris); drinnen schrauben Bühnenbildner gerade noch an einem Stück Mauer, das im neuen Zeitreisemuseum auch nur aus Holz besteht, angespritzt mit Betonfarbe. „So lässt sich das auch besser reinigen“, sagt Rothe. So ist es eben seit 30 Jahren in Berlin: Geschichte wird gemacht.
Aber selten so täuschend echt wie hier. Denn ausgestattet mit einer VR-Brille und platziert in einer alten Busreihe kann man eine Viertelstunde lang eine Stadtrundfahrt durch beide Hälften der einst geteilten Stadt machen – über den Gendarmenmarkt, auf dem die beiden Dome gerade restauriert werden für die 750-Jahr-Feier, bei der die DDR 1987 plötzlich ihr preußisches Erbe hervorzeigte.
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Vorbei am „Ahornblatt“, der längst abgerissenen futuristisch-sozialistischen Gaststätte an der Fischerinsel – bis hin zu dem Palast, der als „Erichs Lampenladen“ und „Palazzo Prozzo“ ebenso beliebt wie verschrien war und der nun einer Schloss-Attrappe weicht, mit der Berlin wenig anzufangen weiß.
Es ist eine Reise mitten durch die längst weggentrifizierte und durchtouristizierte Stadtmitte, dessen Herz nicht mehr schlägt wie einst, aber doch vielen Menschen im Herzen verborgen geblieben ist. Weil man hier gelebt, geliebt, gelacht, geweint hat. Weil man hier zuhause war. Weil man in die andere Stadt, die die gleiche war, sowieso nie kam. Der Checkpoint Charlie blieb für die Menschen von Ost-Berlin unerreichbares Todesland. Bis endlich die DDR über sich selbst fiel und mit ihr die Mauer, die Leben teilte.
Zeitreisen können anstrengend sein, das zeigen die Augenringe
„Ossis und Wessis – dit jibt’s doch gar nicht mehr“, ruft ein Bahnarbeiter, der gerade noch an einem Bussitz herumschraubt. Von der Decke des Museums hängt Kabelsalat, den eine Technikerin mit Grafikkarten verdrahtet, damit die virtuelle Reise auch Wirklichkeit werden kann. „Alle halbe Stunde sieht es hier anders aus“, erzählt Standortleiterin Cordula Torner. „Zur Eröffnung werden wohl hinten die letzten Bauarbeiter rausgehen, während vorne die ersten Gäste reinkommen.“ Zeitreisen können anstrengend sein, vor allem wenn man sie organisieren muss; so erzählen es zumindest Torners Augenringe.
Dabei ist die meiste Arbeit ja längst getan: Neun Monate lang wurden mehr als 7.000 Objekte dreidimensional am Computer nachgebaut. Die Grundlage bilden historische Fotos und Videos. Mehr als 500 alte Gebäude sind am Computer wieder entstanden, dazu 2000 Autos, die auf der mehr als zwei Kilometer langen Stecke rollen. Alles wirkt – mit der VR-Brille auf dem Kopf und einem Rundum-Blick vor Augen – nahezu real bis selbst zu den Rostflecken an den Laternen.
Nur die Menschen aus der Zukunft, die auf den Straßen der Vergangenheit herumlaufen, bewegen sich noch ein bisschen roboterhaft. „Mehr ist technisch nicht möglich, wenn man einen Rundum-Blick haben will“, sagt Rothe. „Denn jeder Kopfschwenk der Besucher nach links oder rechts wird in Echtzeit berechnet.“
Ein teures Abenteuer
Einen siebenstelligen Betrag hat sich das Start-up „Timeride“, mit dem man auch durch Kölns Kaiserzeit und den Dresdner Barock gondeln kann, sein Berliner Abenteuer kosten lassen. Die Ladenmiete in der Zimmerstraße 91 ist „Geschäftsgeheimnis“, sagt Rothe. Auf dem neuen, dicht bebauten Hinterhof sind schon die ersten Eigentumswohnungen bezogen – auch hier draußen ließe sich eine Zeitreise machen: zum beengten Luxuswohnraum der Zukunft.
Drinnen aber wird noch an der Vergangenheit geschraubt. Und inmitten des zeitlosen Maschinenlärms reist Rothe im Kopf zurück. Der gebürtige Dresdner war erst drei Jahre alt, als die Mauer fiel, er kann sich nur noch an schlabbrigen Joghurt erinnern und daran, „dass meine Eltern Probleme hatten, weil ich als Baby nur Bananenbrei essen wollte“.
Als alle Grenzen gefallen und alle Schulstunden geschafft waren, machte auch Rothe rüber in den neuen Westen: in Freiburg und München wurde er Kulturmanager. Und wenn er heute in seine alte Heimat zurückkehrt, spürt er die Frustrationen, die die Zeitenwende für viele gebracht hat. „Früher war nicht alles schlecht, das stimmt ja schon“, sagt Rothe und meint damit etwa die vielen Kindergärten. „Doch ich weiß, welche Freiheiten wir nur heute haben.“
40 Zeitzeugen-Interviews für die Zeitreise
Vom Gewühle in den Gefühlen berichten auch die Protagonisten, die man bei der Busfahrt durch Ost-Berlin im Ohr hat. Dafür wurden 40 Zeitzeugen-Interviews geführt. „Kiek mal da“, ruft also Kalle, „da hocken sie im Auto, die Stasis.“ Und man schaut nach links und sieht zwei Menschen im Lada sitzen, der auf dem Bordstein parkt, so auffällig unauffällig wie einst.
Und obwohl man weiß, dass es diese Menschen nicht mehr gibt und einem der dreckige Duft von Ost-Berlin in der Nase fehlt, so ereilt einen doch ein kleiner klarer Schauer des Unwohlseins. Wie damals in der Vergangenheit. Im eigenen Leben in der eigenen Stadt, als sie noch zwei war.