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Das Kriminalgerichts in Moabit: Hier wurden nach mehr als 300 Verhandlungstagen die Urteile im Mordprozess gegen zehn Rocker gesprochen.
© Paul Zinken

Acht Mal lebenslange Haft: Hells-Angels-Mord könnte Bundesgerichtshof beschäftigen

Die Staatsanwaltschaft nennt das Urteil im Berliner Rockermord-Prozess „ungewöhnlich und spektakulär“. Doch sie kritisiert den Strafrabatt wegen Polizeipannen.

Die Berliner Staatsanwaltschaft prüft, ob sie gegen das Urteil des Landgerichts gegen acht Hells-Angels-Rocker zu lebenslanger Haft Revision vor dem Bundesgerichtshof einlegt. Grund ist der vom Gericht gewährte Strafrabatt von zwei Jahren wegen Ermittlungspannen der Polizei. Es geht um den Vorwurf, dass Beamte des Landeskriminalamts (LKA) zwingend gebotene Maßnahmen unterlassen und somit 2014 womöglich den Mord in einem Reinickendorfer Wettbüro billigend in Kauf genommen hätten. Auch die Verteidiger ließen durchblicken, dass sie gegen das Urteil vorgehen wollen.

„Das Urteil entspricht im Wesentlichen dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Nur die von der Kammer getroffene Vollstreckungslösung, dass Ermittlungsfehler der Polizei zum Strafrabatt führen, teilen wir nicht“, sagte der zuständige Oberstaatsanwalt Sjors Kamstra dem Tagesspiegel am Mittwoch. „Wir werden prüfen, ob wir wegen dieser Lösung Revision vor dem Bundesgerichtshof einlegen.“ Die Abschlagsentscheidung sei rechtlich absolutes Neuland.

Am Dienstag hatte das Berliner Landgericht sieben Rocker wegen gemeinschaftlichen Mordes sowie deren Chef Kadir P. wegen Anstiftung zum Mord nach knapp fünfjährigem Prozess verurteilt. Ein 26-Jähriger wurde laut Urteil von einem „Überfallkommando“ erschossen, um die „Ehre des Clubs“ zu wahren.

Trotz der Zweifel wegen des Strafrabatts sind aus Sicht von Kamstra mit dem Urteil neue Maßstäbe gesetzt worden. „Ich halte dieses Verfahren und den Ausgang schon für ungewöhnlich und spektakulär. Es ist selten, dass in einem Verfahren nahezu alle Verurteilten zu lebenslanger Haft verurteilt wurden“, sagte Kamstra. „Es ist auch ein strategischer Höhepunkt des Verfahrens, wenn ein gesamtes Charter von der Straße genommen und dann auch noch der Präsident verurteilt wird.“

Allerdings ist Kamstra nach dem Urteil weniger zuversichtlich als Innensenator Andreas Geisel. Der hatte erklärt, er hoffe auf eine Signalwirkung, die von dem Schuldspruch ausgehe: „Berlin ist das falsche Pflaster für Bandenkriege oder andere Formen der brutalen Gewalt, die aus zweifelhaften Motiven heraus begangen werden.“

Oberstaatsanwalt: Andere Banden werden nachrücken

Oberstaatsanwalt Kamstra macht sich da weniger Illusionen. „Nach meiner Erfahrung und jahrelangen Kenntnis aus OK-Verfahren werden andere Gruppen nachrücken, wenn eine Gruppe ihr Jagdrevier freimacht. Das müsse dann aber nicht wieder Rocker sein“, sagte Kamstra. „Offenbar hat die Szene auch abgewartet, bis halbwegs Klarheit herrscht in dem Verfahren gegen die Hells Angels. Das Urteil könnte daher auch eine Zäsur sein.“ Ermittler gehen davon aus, dass andere Gruppen nun versuchen dürften, die Geschäftsfelder – vor allem Drogenhandel – zu übernehmen.

Zu den Pannen der Polizei bei den Ermittlungen wollte sich Oberstaatsanwalt Kamstra nicht näher äußern. „Ich möchte mich vorsichtig ausdrücken. Es hätten ein paar Dinge besser laufen können“, sagte Kamstra. Zugleich nahm der Polizei in Schutz: „Auch das Opfer wusste, dass ihm nach dem Leben getrachtet wurde. Und am Ende haben die Hells Angels auf ihn geschossen, nicht die Berliner Polizei.“

Schon 2013 gab es Hinweise auf Tötung

Das Landgericht hatte bereits im Sommer 2018 in einem rechtlichen Hinweis befunden, dass LKA-Beamte bewusst zwingend gebotene Maßnahmen unterlassen und damit im Jahr 2014 einen Mord billigend in Kauf genommen haben sollen. Der Mord an Tahir Ö. am 10. Januar 2014 durch einen Trupp um Rockerboss Kadir P. hätte nach Ansicht des Gerichts verhindert werden können, wenn die LKA-Ermittler eingeschritten wären. Zumal sie schon seit Ende Oktober 2013 Hinweise auf die drohende Tötung gehabt hätten.

Hier wurde Tahir Ö im Januar 2014 erschossen.
Hier wurde Tahir Ö im Januar 2014 erschossen.
© Maurizio Gambarini

Auch in seiner Urteilsbegründung erinnerte das Gericht am Dienstag an die Vorgänge. Dem für Vertrauenspersonen, kurz VP, zuständigen LKA-Kommissariat 651 habe Denis W., damals eine V-Person, im Jahr 2013 mitgeteilt, dass Kadir P. an einen Mordauftrag denke. Auch das für organisierte Kriminalität zuständige LKA-Dezernat 28 und die operativen Einheiten beim LKA 6 wurden demnach informiert.

Warum wurde Tahir Ö. nicht gewarnt?

Nach einem Gespräch am 1. November 2013 seien die beteiligten Beamten zu dem Ergebnis gekommen, dass präventive Schritte unterbleiben könnten, weil Tahir Ö. nicht in Berlin sei – „was nicht stimmte“, wie das Gericht feststellte. Ohne nachvollziehbaren Grund sei die Gefährdungslage für Ö. auf Stufe 4 heruntergesetzt worden. Am 6. November 2013 hätten Beamte erfahren, dass Ö. wieder in Berlin sei.

Mitte November sei in einer LKA–„Rockerrunde“ überlegt worden, ein Strafverfahren wegen einer geplanter Tötung einzuleiten. Es sei eine Telefonüberwachung und Observation beschlossen worden. Der Richter erklärte: „Eine Observation aber wurde nicht einmal versucht.“ Anfang Januar 2014 sei in einem abgehörten Telefonat der Name Tahir gefallen. Die von der Polizei eingesetzte Dolmetscherin habe das „ausdrücklich warnend“ mitgeteilt. „Gefährderansprachen wurden jedoch unterlassen, obwohl erforderlich und üblich. Nach Tahir Ö. wurde nicht gesucht“, erklärte das Gericht nun.

Gegen drei Polizisten läuft ein Ermittlungsverfahren

Der Umgang mit dem Fall ist in vielerlei Hinsicht kurios. Nach dem Hinweisbeschluss vom Sommer 2018 zu den Versäumnissen, hat die Staatsanwaltschaft gegen drei Beamte Ermittlungen wegen des Verdachts auf Totschlag durch Unterlassen eröffnet. Die Ermittlungen laufen noch, wie eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft am Donnerstag sagte.

Daneben hatte die Polizeiführung den Beamten im Sommer 2018 ein Verbot der Führung der Dienstgeschäfte ausgesprochen, auch Disziplinarverfahren wurden eingeleitet, die noch laufen. Aktuell dürfen sie aber wieder ihren Dienst ausüben, sagte ein Polizeisprecher am Donnerstag.

Die Mutter des Mordopfers, hielt vor dem Gerichtssaal im Kriminalgericht in Berlin-Moabit ein Bild ihres getöteten Sohns in ihren Händen.
Die Mutter des Mordopfers, hielt vor dem Gerichtssaal im Kriminalgericht in Berlin-Moabit ein Bild ihres getöteten Sohns in ihren Händen.
© Matthias Balk

Dabei waren schon 2014 Disziplinarverfahren eingeleitet worden. Die Behördenleitung um die damalige Polizeivizepräsidenten Margarete Koppers, die für Personal zuständig war und seit März 2018 Generalstaatsanwältin ist, hatte laut Innensenator Andreas Geisel das Verfahren an sich gezogen. Es lief aber ins Leere und wurde ohne Folgen für die Beamten eingestellt.

Koppers hatte die Beamten nicht angezeigt

Und auch die Staatsanwaltschaft war schon kurz nach dem Mord mit dem Verdacht gegen LKA-Beamte befasst. Die damalige Polizeivizepräsidentin Koppers hatte die Staatsanwaltschaft um eine Prüfung gebeten – eine Anzeige hatte sie jedoch nicht erstattet.

Damals hatte die Staatsanwaltschaft keine Anhaltspunkte für eine Straftat gesehen und daher keine Ermittlungen eingeleitet. Im Februar 2017 dann bekam die Staatsanwaltschaft neue Anhaltspunkte durch einen Sonderermittler der Polizei, der Disziplinarverfahren geführt hat, die eingestellt worden waren.

Erst 2018 wurde ein Anfangsverdacht festgestellt 

Konkret ging es schon damals um den Vorwurf der fahrlässigen Tötung. Doch das war zu dieser Zeit schon verjährt. Ermittelt wurde nicht. Durch die Erkenntnisse, die das Gericht in dem seit November 2014 laufenden Prozess zu den Vorgängen bei der Polizei gewonnen hat, wurde dann 2018 doch noch – durch den Hinweis des Gerichts - ein Anfangsverdacht festgestellt. Die Staatsanwaltschaft befand: Das LKA hätte nach den Hinweisen auf eine geplante Tötung eingreifen müssen, es sei eine falsche Gefährdungsprognose für das Opfer erstellt worden.

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