Prozess gegen Hells Angels: Berliner Polizei soll Rocker-Mord in Kauf genommen haben
Das Landgericht hat im Mordprozess gegen mehrere Hells Angels festgestellt: Die Polizei unterließ es, das Leben des Rocker-Opfers Tahir Ö. zu schützen.
Der Verdacht steht schon eine Weile im Raum, nun aber ist es ein knallharter Vorwurf – und zwar gerichtsfest. Beamte des Landeskriminalamts Berlin haben demnach bewusst zwingend gebotene Maßnahmen unterlassen und zugleich billigend in Kauf genommen, dass ein Mensch getötet wurde, nur um die Täter dafür dann verfolgen zu können. Das hat das Landgericht Berlin im Mordprozess gegen mehrere Rocker jetzt kurz vor Ende der Beweisaufnahme in einem rechtlichen Hinweis festgehalten. Einen entsprechenden Bericht der „Bild“-Zeitung bestätigten Staatsanwaltschaft, Polizei und Opferanwälte dem Tagesspiegel.
Die Ermittler hatten Hinweise auf die drohende Tötung
Im Klartext bedeutet das: Aus Sicht des Gerichtes hätte der Mord an Tahir Ö. am 10. Januar 2014 durch einen Trupp um Rockerboss Kadir P. verhindert werden können, wenn die LKA-Ermittler eingeschritten wären. Zumal sie schon seit Ende Oktober 2013 Hinweise auf die drohende Tötung gehabt hätten. Der damals 26-Jährige Ö. war brutal hingerichtet worden. 13 Rocker der Hells Angels waren in ein Wettbüro in Reinickendorf gestürmt, Recep O. soll mehrere Mal auf Tahir Ö. gefeuert haben. Der Hauptangeklagt Kadir P., soll den Mord an Ö. in Auftrag gegeben haben, weil dieser die Rocker auch durch Angriffe provozierte. So soll Ö. im Oktober 2013 auf zwei Hells Angels eingestochen haben. Kadir P. soll daraufhin Rache geschworen und einen Mordauftrag erteilt haben. Als Boss der mehrheitlich türkischstämmigen Hells Angels aus Wedding und Reinickendorf hat Kadir P. aus Sicht der Anklage dazu die Macht gehabt.
Ein Opferanwalt kritisiert auch die Staatsanwaltschaft
Das Landgericht befasste sich in dem seit Herbst 2014 laufenden Mordprozess gegen elf Angeklagte auch mit dem Verhalten der Polizei – wobei die Staatsanwaltschaft an vielen Stellen versucht habe, dies abzublocken, wie Mehmet Daimagüler, der als einer von vier Anwälten die Familie des Opfers in der Nebenklage vertritt, dem Tagesspiegel sagte. „Die Staatsanwaltschaft hat oft bei der kritischen Befragung von Beamten interveniert.“ Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft sagte auf Nachfrage, man werde die Erklärung des Gerichts kommende Woche bewerten. In Justizkreisen heißt es, überraschend sei die Gerichtsfeststellung nicht. Schon im November 2017 hatte eine Ermittlerin vor Gericht die Aussage verweigert, um sich nicht selbst zu belasten.
Doch jetzt hat es das Gericht schwarz auf weiß aufgeschrieben: Dass die Ermittler schon Wochen vor dem Mord durch Kontaktmänner und abgehörte Telefonate von den Tötungsplänen gewusst haben, aber nichts dagegen getan haben, nur um Kadir P. hinter Gitter zu bringen. Die Nebenklageanwälte hätten mindestens 19 LKA-Beamte namentlich identifiziert, die darin verwickelt gewesen seien, sagte Daimagüler. Doch niemand sei bislang strafrechtlich dafür belangt worden.
Die Polizei fühlt sich schwer getroffen
Es ist keine Kleinigkeit, um die es hier geht, sondern eine Kernaufgabe der Staatsgewalt – nämlich der Schutz von Leib und Leben. Daimagüler sagte, es gehe hier um ein Tötungsdelikt durch Unterlassen. „Meine Mandanten sagen, dass das Verhalten der Polizei einen rassistischen Aspekt hat“, erklärte Daimagüler. Täter und Opfer seien Migranten. „Die Frage ist, ob sich die Polizei so verhalten hätte, wenn das Opfer Müller geheißen hätte.“
Die Polizei erklärte, die Schwere der Vorwürfe des Gerichts habe die Behörde schwer getroffen. „Wir sehen den Schutz von Leben und Gesundheit als elementaren Bestandteil und Kern unserer Aufgaben an“, sagte ein Sprecher. Nun werde mit der Staatsanwaltschaft geklärt, welche Erkenntnisse zum Hinweis des Gerichts führten. Die Staatsanwaltschaft werde über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens entscheiden, dabei gehe es auch um Konsequenzen. Schon 2014 seien beteiligte Beamte versetzt und Strukturen in der Polizei angepasst worden.
Disziplinarverfahren liefen bislang offenbar ins Leere
Doch warum wurden bislang keine Strafverfahren eingeleitet? Bei Tötungsledikten müsste das von Amts wegen geschehen. Nach Tagesspiegel-Informationen liefen auch Disziplinarverfahren ins Leere. Dabei hatte der damalige Innensenator Frank Henkel (CDU) schon im März 2014 erklärt, dass die Gefährdungslage für Tahir Ö. falsch bewertet und keine angemessenen Maßnahmen ergriffen worden seien. Es brauchte also mehr als vier Jahre nach dem Mord, bis Staatsanwaltschaft und Polizei durch die Feststellung des Gerichts gezwungen sein könnten, doch gegen Beamte vorgehen müssen . Mit einem rechtlichen Hinweis fassen Gerichte den Stand des Prozesses zusammen und geben Hinweise auf den Ausgang des Urteils. Für Kadir P. könnten die Folgen nun milder ausfallen. Denn weil die Polizei den Mord nicht verhindert hat, sieht das Gericht einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens. An der Schuld der Angeklagten muss das nichts ändern. Aber ein Teil der Strafe könnte für vollstreckt erklärt werden.
Alexander Fröhlich, Hannes Heine