Mord im Wettcafé: 13 Rocker, acht Schüsse und eine verzweifelte Familie
Tahir Özbek wird 2014 in Berlin erschossen. Nun erwarten die angeklagten Hells Angels um Kadir Padir das Urteil. Und was ist mit der Familie des Opfers?
Mit Blaulicht und Sirene rasen drei Mercedes-Vito-Kleinbusse zum Berliner Kriminalgericht in Moabit. Die Seitenscheiben der Wagen sind getönt, die Fahrer tragen Masken.
Die ebenfalls maskierten Beifahrer halten Maschinenpistolen in der Hand: Das SEK, das Spezialeinsatzkommando der Polizei, bringt Kassra Z. zu seinem Prozess. Z. ist der an einem geheimen Ort inhaftierte Kronzeuge aus den Reihen der Hells Angels, den die Staatsanwaltschaft so dringend braucht.
In welchem der drei Busse der Kronzeuge sitzt, wissen nur die SEK-Personenschützer. Im Gerichtsgebäude eskortieren sie Z. an diesem Spätsommertag bis in den Saal 500. Die Zuschauer müssen ihre Telefone abgeben und sich von Justizbeamten in schusssicheren Westen mit Metalldetektoren absuchen lassen. Es gilt, Attentate, Ausbruchsversuche, Angriffe aller Art zu verhindern.
Im Saal 500 geht es um Mord. Seit fünf Jahren will die Staatsanwaltschaft beweisen, dass der 35 Jahre alte Kadir Padir die anderen Angeklagten angestiftet hat, Tahir Özbek in einem Wettcafé in der Residenzstraße zu töten.
Von dem Attentat gibt es ein Überwachungsvideo, der Clip wurde im Fernsehen und in Internetforen millionenfach gesehen. Die Tat hat zu stundenlangen Debatten im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses und zu Personalrochaden im Landeskriminalamt, dem LKA, geführt.
Reichen 350 Zeugen und 150 Stunden Abhörprotokolle?
Padir ist als machtbewusster Boss der Hells Angels in Berlins Nordwesten bundesweit bekannt geworden. Ob die Angeklagten tatsächlich auf seinen Wunsch handelten und weshalb Özbek sterben sollte, dazu wurden fast 350 Zeugen – Szenegänger, Polizisten, Angehörige – angehört und 150 Stunden Telefonüberwachung sowie Tausende SMS und Whatsapp-Nachrichten ausgewertet.
In den nächsten Tagen soll das Urteil fallen. Es entscheidet nicht nur über die Zukunft der Angeklagten, sondern wird den Alltag von Kriminellen, Polizisten und der Familie des Getöteten prägen. Bleiben die Rocker in Haft – verlieren sie dann ihren Einfluss im Milieu, und welche Kontrahenten übernehmen die von den Hells Angels unbestellten Geschäftsfelder? Wird die Familie des Opfers nach einem der aufwendigsten Verfahren der Berliner Justizgeschichte doch Frieden finden?
Özbeks Eltern haben jahrzehntelang in Berlin gearbeitet, meist Vollzeit. Er hatte drei Schwestern und einen Bruder. Als Zehnjähriger gerät der Bruder unter die U-Bahn, da ist Tahir fünf Jahre alt. Ihr Vater, sagt Özbeks mittlere Schwester, habe sich schon vom Tod des ersten Sohnes nie erholt. Die Schwester, 39, verheiratet, selbst drei Töchter, wohnt immer noch im Kiez um die Residenzstraße. Vor ein paar Wochen sitzt sie dort in einer Eisdiele. Ihren Namen will sie – Berliner Mischung: Kopftuch, Zigarette, Espresso – nicht in der Zeitung lesen.
„Wir alle haben uns dauernd gesehen, seit dem Tod unseres ersten Bruders klammerten wir Kinder uns aneinander“, erzählt sie. „Tahir ging immer in das Wettcafé – und ich habe in der Nähe an der Kasse gearbeitet, er hat mich oft besucht.“ Auch am 10. Januar 2014 habe Tahir vorbeigeschaut. Die Schwester weint, sagt höflich: „Ich muss mal ein paar Minuten spazieren.“
Die Hells Angel sitzen hinter Panzerglas
Die Verhandlungen starten an den meisten Tagen verspätet: Acht Angeklagte müssen aus ihren U-Haft-Zellen in die Panzerglaskabinen des Saals 500 gesetzt werden, Kronzeuge Z. kommt in eine Extrakabine. Ein zehnter Angeklagter befindet sich nicht in Haft und kommt eigenständig ins Gericht, einem elften wird wegen Krankheit getrennt der Prozess gemacht. Zwei Staatsanwälte, drei Richter, vier Nebenkläger, acht Gutachter, 22 Verteidiger befassen sich mit dem Fall, 30 Justizwachtmeister und 50 Polizisten halten sich für den Notfall bereit.
Staatsanwalt und Nebenkläger fordern für die in U-Haft befindlichen Rocker „lebenslänglich“, für den Kronzeugen zehn Jahre. Die Verteidiger fordern zwar keinen Freispruch, sagen aber: Mord sei es nicht gewesen.
Die Tat dauert nur ein paar Sekunden. 10. Januar 2014, fast 23 Uhr: 13 Männer marschieren in das Wettcafé „Expekt“ in der Residenzstraße, vorbei an Tresen, Spielautomaten, Gästen zum Hinterzimmer. Dort sitzt Tahir Özbek, 26, und spielt Karten. Er ist im Kiez als unerschrocken, einige sagen: als Gangster bekannt. Özbek ist der Polizei aber seit geraumer Zeit als Opfer, nicht als Täter aufgefallen.
Der erste Mann der Kolonne ist vermummt, zieht eine Pistole, drückt acht Mal ab. Seine eigene Waffe hat Özbek nicht griffbereit, seine schusssichere Weste hängt am Kleiderhaken. Özbek habe sich beides aus Angst besorgt, heißt es später vor Gericht. In den „Expekt“-Räumen befand sich einst eine Bank, die Fenster sind aus Panzerglas – vielleicht fühlt sich Özbek deshalb sicher. Nun aber steht der Schütze direkt vor ihm und feuert, Özbek stirbt.
Die 13 Männer stürmen aus dem Laden. Einige von ihnen, so ist es auf dem Video der Überwachungskamera zu sehen, wirken irritiert, andere dagegen fast gelassen. Wer die Männer sind, weiß die Polizei bald, sie kennt sie von Razzien. Einige Verdächtige fliehen in die Türkei, zehn Hells Angels und Yakup S. aus Spandau werden verhaftet.
Ein Spitzel berichtet dem LKA vom Racheplan
Padir und S. kennen sich gut, beide ärgert Özbeks Selbstbewusstsein. Drei Monate vor der Tat will Özbek mit Freunden das „Traffic“ in Mitte besuchen. Die Disco bewachen Hells Angels, an der Tür kommt es zum Streit. Özbek wird mit einer Stahlrute verletzt und sticht einem der Angreifer, dem Bruder von Yakup S., in die Hand. Bald berichten Spitzel aus dem Milieu dem LKA, S. und Padir wollten sich an Özbek rächen. In einem vom LKA abgehörten Telefonat fragt Padir: „Ist der Junge manisch, wie oft hat er Prügel von uns bekommen!?“
Zurück in der Eisdiele. Tahir Özbeks Schwester sagt, in den Wochen vor der Tat habe ihr Bruder erzählt, dass er schlecht schlafe, ihn Albträume und Magenschmerzen plagten. Nach dem Mord wird in den Boulevardmedien ein Foto gezeigt, auf dem ein grimmiger Tahir Özbek den Mittelfinger in die Kamera hält. Die Familie weint tagelang.
„Als die Typen dann nacheinander verhaftet wurden“, sagt die Schwester, „haben wir uns bei jeder Festnahme in den Armen gelegen.“ Die drei Schwestern beauftragen Anwälte damit, Nebenklage einzureichen, bei schweren Taten übernimmt der Staat dafür die Kosten.
„Den Prozess schaue ich mir aber nicht an“, sagt die Schwester. „Ich könnte das nicht ertragen.“ Nicht nur die Dauer des Verfahrens macht es der Familie schwer: Im Februar 2016 werden Handys in den Zellen einiger Angeklagter in der U-Haft-Anstalt Moabit gefunden – und das in einem Hochsicherheitsprozess.
Drei Monate danach wird Yakup S., laut Anklage ebenfalls Auftraggeber der Tat, aus der U-Haft entlassen; der Verdacht ließ sich nicht erhärten. Im Juli 2018 beginnt die Staatsanwaltschaft, wegen Verdachts des Totschlags durch Unterlassen gegen drei LKA-Fahnder zu ermitteln: Versäumten die Beamten es, Özbek vor einem Attentat zu schützen?
„Ja, wir sind enttäuscht, dass die Polizei geschlampt haben soll“, sagt dessen Schwester. „Die schusssichere Weste war wohl nötig.“ Vater und Mutter seien völlig zerrüttet, lebten nun meist in der Türkei. In Kayseri in Zentralanatolien sind ihre Söhne beerdigt.
"Die Männer verlieren jede Bodenhaftung"
Der als Kopf des Komplotts angeklagte Padir gilt schon als Teenager als charismatisch, aber cholerisch. Er hat 50 Ermittlungsverfahren überstanden und kann sich seine Gefolgsleute aussuchen. Nach der Tat im „Expekt“ jedoch hat einer von ihnen genug: Kassra Z., damals 26, bietet sich nach der Festnahme als Kronzeuge an und hofft auf Strafrabatt.
Vor den Schüssen hätten sich alle in einem Café in der Weddinger Gerichtstraße getroffen, berichtet Z., dem inoffiziellen Vereinsheim. Padir habe gesagt, man solle Präsenz zeigen, nichts Konkreteres. Der Kronzeuge sagt, er selbst sei als achter Mann der 13er-Kolonne ins Wettcafé marschiert, Padir sei nicht dabei gewesen. Geschossen habe Recep O., ein junger Angels-Anfänger.
Präsenz zeigen? Werden so Mordaufträge formuliert – oder sollte der Aufmarsch im Wettcafé bloß Drohgebärde sein? Recep O. schreibt dem Gericht, er habe aus eigenem Antrieb geschossen. Daran zweifeln Fahnder, aber auch Leute im Milieu. Padir habe immer die Kontrolle behalten wollen, sagt der Kronzeuge.
Das bringt das Amt mit sich: Rocker tragen die Kluft einer Armee, auf ihren Lederwesten sind das Charter, so werden die örtlichen Ableger des Clubs genannt, und die Stellung in der Hierarchie abzulesen – auf Padirs Kutte steht „President“.
Padir, in Berlin geboren, tritt mit Anfang 20 den Bandidos bei, damals der tonangebende Rockerclub in der Stadt. Nach einem Streit wechselt er im Februar 2010 samt Entourage zu den Hells Angels, die nun Berlin dominieren. Danach, sagt ein szenekundiger Gastronom, hätten die Männer aus der Residenzstraße jede Bodenhaftung verloren.
Das merkt bald auch die Polizei, in einem LKA-Vermerk vom Dezember 2011 heißt es: „Es liegen Hinweise darauf vor, dass Einsatzkräfte bei sich bietenden Gelegenheiten körperlich attackiert werden sollen.“ Düpieren lassen will sich die Truppe nicht von Polizisten, nicht von arabischen Großfamilien, schon gar nicht von einem Karten spielenden Großmaul. Die Rocker pflegen ihr brutales Image, es ist ihre Geschäftsgrundlage.
Aus Sicherheitsgründen greifen Polizeistreifen nicht zu, wenn Rockertreffs kontrolliert werden sollen, sondern rufen das SEK – so bleibt Extrazeit, um Verdächtiges verschwinden zu lassen. Discobetreiber überlassen Rockern die Türsteherjobs, allerlei Kleinkriminelle akzeptieren die von ihnen diktierten Konditionen.
Die Hells Angels dominieren damals die Nachrichten, so wie es heute die arabischen Clans tun. Als Innensenator Frank Henkel, CDU, das Charter im Mai 2012 verbietet, sind Padirs Leute vorgewarnt. Am Tag zuvor geht im Polizeipräsidium ein Fax ein: Der „Hells Angels MC Berlin City“ habe sich aufgelöst. Im Vereinsheim in der Residenzstraße finden die Beamten nur alte Fitnessgeräte und ranzige Möbel. Padir schließt sich den dänischen Hells Angels an, fährt einmal die Woche in den Norden.
Ein Rocker ruft zu Kadir Padir: "We love you!"
„Seit dem Verbot“, sagt Padir im Dezember 2012, „rennen sie uns die Tür ein.“ In Berlin sind die Rocker nun Kult. Sie posieren im Clip „Echte Männer“ des Musikers Fler, Padir tritt in Bushidos erfolgreichem Rap-Video „Mitten in der Nacht“ auf. Auch nach 300 Prozesstagen sitzen immer wieder Anhänger auf den Zuschauerbänken. Padir winkt aus seiner Kabine ins Publikum, drei Kumpels sind gerührt, ein angereister Däne ruft: „We love you!“ Freude im Saal 500.
„Und ich habe meine Eltern seit der Tat nie ohne Schmerz in den Augen gesehen“, sagt die Schwester. Auch sie selbst habe kämpfen müssen. Ihren Job an der Kasse setzt sie damals aus, begibt sich in Therapie. Die älteste ihrer Töchter sollte auf das Gymnasium, scheitert nach dem Mord plötzlich in der Schule: „Sie hat mir gesagt, sie hat nur einen Wunsch, nämlich sich von Onkel Tahir zu verabschieden.“
Tahir habe sich nichts gefallen lassen, sagt seine Schwester, ein Mörder aber sei er nicht. Zuletzt habe er davon gesprochen, ein Lokal für Muschelgerichte zu eröffnen: „Er hatte sogar schon einmal für uns alle Muscheln gemacht, so als Probeessen für sein Lokal, die fanden wir super.“
Wie viele Angeklagte für das Töten von Tahir Özbek verurteilt werden? Im Mai 2019 spricht einer der per Haftbefehl gesuchten Rocker aus der Türkei zum Gericht, das Videotelefonat wird auf Großbildschirme in Saal 500 übertragen. Er sagt, der Schütze habe ohne Absprache gehandelt: „Herr Richter, glauben Sie mir, wir waren alle schockiert!“
Im LKA hofft man auf ein Signal: „lebenslang“ für diejenigen, die am Abend dabei waren – und für Kadir Padir. Sollte nur der vermummte Schütze verurteilt werden, sagt ein Ermittler, wäre das eine „Katastrophe“ – dann erlange Rockerboss Padir vollends Kultstatus und könnte versuchen, die Szene im Berliner Norden wieder zu dominieren.
Werden alle Angeklagten verurteilt, wird der Einfluss seiner in Freiheit verbliebenen Gefolgsleute schwinden. Schon im Oktober 2015 stürmte eine Gang eine einst von Padir geführte Bar in Wedding und verprügelte die anwesenden Hells Angels. Unter Szenekennern weitgehend unstrittig ist, dass die bekannten Großfamilien die Hoheit über Rotlichtlokale und Kleindealer der Rocker übernehmen werden, sollten die Angeklagten in Haft bleiben.
An dem Spätsommertag, an dem Padir seinen Fans zuwinkt, spricht der Staatsanwalt von einer „Choreografie des Tötungsplans“, und das Gericht hat bislang nicht erkennen lassen, dass es das anders sieht – sollte es also doch gemeinschaftlicher Mord gewesen sein? Özbeks Schwester möchte nicht spekulieren. „Das Gericht soll diejenigen verurteilen, die meinen Bruder getötet haben“, sagt sie. „Ich vertraue diesem Staat.“