75 Visionen für Berlin - Folge 10: „Handwerksbetriebe sind die grünen Engel“
Die Chefin der Handwerkskammer sieht Berlin als Stadt der Tradition und Innovation. Das Handwerk spielt dabei eine große Rolle.
Carola Zarth, 55, ist seit Mai 2019 Präsidentin der Handwerkskammer. Zudem leitet sie die Auto-Elektrik Günter Holzt GmbH und Co. KG.
Mein Berlin der Zukunft steht auf sicheren Fundamenten, denn es ist nicht nur handwerklich gut gemacht, sondern verbindet erfolgreich Tradition mit Innovation, so wie das in vielen Handwerksbereichen der Fall ist.
Das beginnt bei der Schulausbildung: Auf dem Stundenplan sind die Wörter Werkunterricht oder Wirtschaft-Arbeit-Technik nicht nur Fächer, die Schülerinnen und Schülern eine Auszeit vom Schreibtisch gönnen.
Schulen, und nicht nur Waldorf- oder Montessorischulen, verfügen über top ausgestattete Werkstätten, in denen Jugendliche verschiedene Handwerksberufe kennenlernen und Werkzeuge mindestens genauso gut handhaben können wie ihr Smartphone.
Fachleute aus Handwerk und Wirtschaft stehen Lehrkräften im Unterricht als „Co-Piloten“ in Sachen Berufsorientierung zur Seite.
[Vor 75 Jahren ist der Tagesspiegel als erste Berliner Zeitung nach dem Krieg gegründet worden. Wir bitten 75 engagierte Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik, Kultur, Sport und Zivilgesellschaft, uns ihre Ideen für die Zukunft dieser Stadt zu schildern. Alle bisher erschienenen Beiträge dieser Serie lesen Sie hier.]
Ein stetiger Prozess, der nicht erst kurz vor dem Schulabschluss einsetzt und – wie in diesem Jahr geschehen – einer Pandemie zum Opfer fällt.
Zahllose Jugendliche befanden und befinden sich im freien Fall, ohne Vorstellungen zur Berufswahl.
Das darf sich nicht wiederholen, denn viele Betriebe im Handwerk engagieren sich auch in der Krise für Ausbildung. Und das ist keine Vision. Das ist die Realität.
[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Aber noch mal einen Schritt zurück: Selbstverständlich hat es das Berlin der Zukunft geschafft, alle eingeplanten Milliarden für Schulsanierungen zielgerichtet einzusetzen: Marode Toiletten, zugige Fenster und kaputte Wände wurden instandgesetzt.
In den Bezirken konnten alle entsprechenden Stellen mit Expertinnen und Experten besetzt und öffentliche Ausschreibungen zügig durchgeführt werden.
Handwerksbetriebe helfen dabei, den CO2-Ausstoß zu senken
Die Digitalisierung hat in Klassenräume Einzug gehalten. Lehrkräfte sind digital so gut weitergebildet, dass sie ihre Klassen anleiten können und nicht umgekehrt.
Nur Zukunftsmusik? Hoffentlich nicht.
Wir schreiben das Jahr 2050. Berlin hat seine Klimaziele erreicht und ist komplett klimaneutral.
Das ist eine schöne Vision. Nachzulesen in einer Machbarkeitsstudie des Berliner Senats.
Eine wesentliche Rolle spielt die energetische Sanierung von Gebäuden
Aber: Gelingen wird das nur mit Beteiligung des Handwerks. Denn Handwerksbetriebe sind die heimlichen „grünen Engel“.
Sie können mithelfen, den CO2-Ausstoß zu senken, denn eine wesentliche Rolle spielt die energetische Sanierung von Gebäuden.
Hier kommen viele Gewerke ins Spiel: Dachdecker-, Schornsteinfeger-, Maler- und Lackiererhandwerk, Heizungs- und Klimatechniker und viele weitere.
Eine Studie der Nymoen-Strategieberatung hat die Höhe notwendiger Investitionen berechnet, um den Berliner Wohngebäudebestand energetisch zu sanieren.
Demnach sind bis 2050 Ausgaben von 145 Milliarden Euro nötig. Vermieter einer Mietwohnung in einem Mehrfamilienhaus müssen nach dieser Rechnung pro Quadratmeter und Monat mit 2,89 Euro Extrakosten für die energetische Sanierung kalkulieren.
Handwerksbetriebe halten in der aktuellen Krise die Stadt am Laufen
Einen Strich durch diese Rechnung macht der Berliner Senat mit seinem Mietendeckel-Gesetz. Denn während seiner Geltungsdauer dürfen Vermieter nur einen Euro pro Quadratmeter und Monat auf die Miete umlegen.
Was bleibt? Dämmung, die die nur teilweise die Wände bedeckt? Halbgedeckte Dächer, Heizungen aus grauer Vorzeit? Welche düstere Vision!
Aber: Viele Berliner Handwerksbetriebe halten in der aktuellen Krise die Stadt am Laufen. Die Corona-Pandemie hat Flexibilität und Pfiffigkeit herausgefordert.
Das Handwerk hat geliefert. Erinnern Sie sich noch an das Frühjahr? Werbetechniker haben handwerkliche Alltags-Masken produziert – und das zu einem Zeitpunkt, als industriell hergestellte Masken Mangelware waren.
[In unseren Leute-Newslettern berichten wir wöchentlich aus den zwölf Berliner Bezirken. Die Newsletter können Sie hier kostenlos bestellen: leute.tagesspiegel.de]
Andere haben anstelle von Küchenrückwänden Plexiglas-Trennwände angefertigt. Eine Konditorei erfand die „Durchhalte-Boxen“, ein süßer Trost voller Pralinen und Plätzchen – online zu ordern und zu versenden an liebe Menschen, die gerade nicht besucht werden konnten.
Auf meiner Sommertour durch das Berliner Handwerk haben mir viele Unternehmerinnen und Unternehmer von ihrem betrieblichen Alltag in Corona-Zeiten erzählt: Von den Hürden, wenn Genehmigungen auf sich warten ließen, wie etwa für ein Gerüst auf dem Bürgersteig und die dafür notwendigen Halteverbote. Meine Vision dazu: schnelles Verwaltungshandeln, damit das Handwerk da, wo es selbst in einer Pandemie funktioniert, ungehindert arbeiten kann.
Aber mir ist auch viel Positives begegnet: Ein Friseurmeister beispielsweise, der nach dem Lockdown nun wieder die „Barber Angels“ organisiert. Diese „Engel“ frisieren in ihrer Freizeit obdachlose Menschen in unserer Stadt und geben ihnen damit ein Stück Menschenwürde zurück. Oder der Tischlermeister, der seinen Ausbildungsbetrieb von seinem Meister übernehmen konnte und heute die Fachkräfte von morgen ausbildet.
Und da ist die Lackiererei, die in Sachen Digitalisierung ganz vorne mitspielt: mit 3-D-Technologie und Robotik. Kurzum: Das Berliner Handwerk lebt bereits jetzt die Zukunft.
Das Nebeneinander von Kleingewerbe und Wohnen steht auf dem Spiel
Gleichzeitig mache ich mir große Sorgen um die Zukunft des Handwerks in der Innenstadt. Hier steht die berühmte Berliner Kiezmischung auf dem Spiel – also das Nebeneinander von Kleingewerbe und Wohnen.
Wir lieben alle unsere Bäckerei um die Ecke mit ihrem Duft nach frischen Backwaren, das Fleischerfachgeschäft mit seinen regionalen Produkten oder die Schuhmacherei in direkter Nachbarschaft.
Aber die Mieten in der Innenstadt gehen durch die Decke und Gewerbemieter haben häufig befristete Verträge, der Milieuschutz mit seinem verankerten Vorkaufsrecht bezieht sich vor allem auf Wohnhäuser.
Kieze mit der Mischung aus Wohnen und Handwerk müssen erhalten bleiben
Das Handwerk wird aus der City verdrängt. Deshalb brauchen wir kleine Einheiten für Handwerksbetriebe, damit unsere Kieze mit der gut funktionierenden Mischung aus Wohnen und Handwerk erhalten bleiben.
Wie wichtig außerdem ein funktionierender Wirtschaftsverkehr gerade in Zeiten der Krise ist, haben die vergangenen Monate gezeigt.
Für Betriebe ist es unabdingbar, dass sie ihre Baustellen und Betriebsstandorte auch mit schweren Lasten erreichen können.
Die Qualität der Schulen und Kitas muss sich verbessern
Wir brauchen Lieferzonen an den Hauptgeschäftsstraßen, aber auch bei den Endkunden. Die Mobilität der Zukunft kann die Wirtschaft nur partnerschaftlich mit allen anderen Verkehrsteilnehmern organisieren.
Unsere Ausbildungsbetriebe sind sehr engagiert und fördern ihre Auszubildenden, sie können aber auch nicht alle Versäumnisse der Bildungspolitik ausgleichen.
Das hat der jüngste Bericht zur Bildungsqualität noch einmal sehr deutlich gemacht.
Berlin gibt zwar so viel Geld für Bildung aus wie kaum ein anderes Bundesland.
Das schlägt sich aber nicht in hoher Qualität in Kitas und Schulen nieder. Hier verlassen mehr Menschen die Schule ohne Abschluss als anderswo. Da müssen wir unbedingt besser werden.
"Im Handwerk könnt Ihr Eure Zukunft mit eigenen Händen aufbauen!"
Coronabedingt sind ja alle Berufsorientierungsmessen ausgefallen. Aber viele Berliner Handwerksbetriebe bieten noch Ausbildungsplätze an, auch in der Krise.
Deshalb haben wir in der Handwerkskammer im Sommer das „KarriereMobil“ gestartet. Damit war ein Team der Kammer in Berlin unterwegs und hat zu offenen Ausbildungsplätzen im Handwerk beraten.
Unterstützt wurden wir von Bezirksämtern und der Jugendberufsagentur Berlin.
Das war ein großartiger Erfolg.
Nun werden wir das „KarriereMobil“ updaten und im nächsten Jahr wieder neu starten. Jungen Menschen am Beginn ihres Berufslebens raten wir: Im Handwerk könnt Ihr Eure Zukunft mit eigenen Händen aufbauen!
Lebt Eure Träume und entwickelt eigene Visionen!
Carola Zarth