Vorstoß der Amtsärzte: Gruppenquarantäne in Berlins Schulen und Kitas soll enden
Kurswechsel im Kampf gegen Corona: Amtsärzte wollen nur noch Infizierte isolieren und auf Kontaktverfolgung verzichten. Es regt sich Kritik.
Berlins Amtsärzte ändern ihre Strategie im Umgang mit dem Coronavirus in Schulen und Kitas. Dies wurde am Freitag bekannt. Künftig sollen nur noch infizierte Beschäftigte und Schüler in Quarantäne geschickt werden sowie deren Haushaltsangehörige. Bisher galt die Quarantäne auch für die Lern- und Kitagruppen.
Diesen überraschenden Kurswechsel fassten die zwölf Amtsärzte in eine gemeinsame Stellungnahme, die dem Tagesspiegel vorliegt. Wie und wann diese Vorgaben der Amtsärzte gegenüber den Schulen kommuniziert wird, konnte die Bildungsverwaltung am Sonnabend noch nicht sagen.
Die Amtsärzte wollen dem Vernehmen nach bereits ab Montag keine Quarantäne mehr aussprechen. Allerdings gibt es nach Informationen des Tagesspiegels wegen der nahen Wahl in der SPD Befürchtungen, dass die daraus resultierende Unruhe an den Schulen zulasten der Sozialdemokraten gehen könnte, die das Gesundheits- und Bildungsressort verantworten. Was diese Sorgen für die Umsetzung des Amtsärztebeschlusses bedeutet, war am Samstagmittag noch nicht absehbar.
Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) würdigte, man habe nunmehr „eine einheitliche Vorgabe, auf die sich Eltern und Schulen einstellen können“. Landeselternsprecher Norman Heise meinte, der Beschluss komme „zu früh“. Die Meinungen der Eltern seien geteilt.
Die SPD-Spitzenkandidatin für die Abgeordnetenhauswahl Franziska Giffey sprach sich am Samstag gegen den laxeren Umgang mit der Quarantäne aus. „Angesichts steigender Zahlen in den jüngeren Altersgruppen können wir uns eine Aufweichung der Quarantäneregeln in Schulen und Kitas nicht leisten“, teilte die frühere Bundesfamilienministerin auf Twitter mit.
In der Begründung der Amtsärzte heißt es, dass die Nachverfolgung von Kontaktpersonen das Handeln der Gesundheitsämter nicht mehr bestimmen dürfe. Es gehe jetzt um „das Leben mit dem Virus“, da ansonsten „die Kollateralschäden den Nutzen deutlich übersteigen würden“, schreiben die Ärzte mit Hinweis auf die verbreiteten psychischen Probleme, die sich aus der langen Phase des Homeschoolings ergeben hätten.
"Wer krank ist, bleibt zu Hause. Alle anderen können lernen, spielen und arbeiten gehen"
Die Einschränkung der sozialen Kontakte schädige die kindliche Gesundheit, und zwar „mehr, als weiter tolerierbar ist“. Man müsse erkennen, dass in der jetzigen Situation „eine komplette Vermeidung von Covid-19 in diesen Altersgruppen unrealistisch ist“.
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Die vorherrschende Virusvariante vom Deltatyp sei „so ansteckend, dass mit einer sicheren Ansteckung der ungeimpften Kinder zwingend zu rechnen ist“. Unter Berücksichtigung der „im Regelfall ausbleibenden oder allenfalls milden Symptomatik“ bei Kindern und der für die Bevölkerung nicht als bedeutsam einzuschätzenden Infektiosität der Kinder, die ebenfalls vielfältig belegt sei, würden die Berliner Gesundheitsämter zukünftig nur noch Kinder, die einen positiven Covid-19-Nachweis haben, in Isolation schicken. (Die dreiseitige Vorgabe der Amtsärzte im Wortlaut gibt es hier.)
Die Begründung der Amtsärzte für den Richtungswechsel wurde von elf der zwölf Bezirksvertreter mitgetragen, während die Grundsatzentscheidung selbst von allen zwölf gefällt wurde. Das Schreiben ist auf den 25. August datiert, wurde aber erst am 27. August durch eine Mitteilung des Gesundheits- und Jugendstadtrates von Neukölln, Falko Liecke (CDU) bekannt. Der CDU-Politiker begrüßte die Vorgabe ausdrücklich: "Wer krank ist, bleibt zu Hause. Alle anderen können lernen, spielen und arbeiten gehen".
Drosten empfiehlt kurze, aber sofortige Quarantäne
Die Amtsärzte weichen mit ihrer Vorgabe von der Empfehlung des Charité-Virologen Christian Drosten ab, der zuletzt eine fünftägige Quarantäne angeraten hatte. Bisher sind es 14 Tage, was Drosten allerdings vor wenigen Tagen gegenüber der Deutschen Presseagentur als "unerträglich lang" bezeichnet hatte.
Zudem hatte der Virologe geäußert, man müsse wegen der Impfung der Erwachsenen nicht mehr jede nur denkbare Übertragung in den Schulen verhindern. Es solle aber künftig nicht wie bisher mit der Quarantäne gewartet werden, bis ein zweiter Covid-19-Fall in der Klasse vorliege. „Besser ist Quarantäne für die ganze Klasse sofort beim ersten Fall, das aber kurz.“ Von dieser Empfehlung Drostens ist bei den Amtsärzten nichts zu finden.
Beim großflächigen Testen soll es bleiben
Nicht folgen will die Bildungsverwaltung den Amtsärzten hinsichtlich ihrer Ausführungen zum Testen. Am geplanten zweimaligen Testen pro Woche an den Schulen wolle man festhalten, sagte ein Sprecher. Es gebe zudem Gespräche im Senat über ein großflächiges Testen in den Kitas.
Hingegen raten die Amtsärzte vom massenhaften Testen ab. Bei hohen Fallzahlen in der Bevölkerung führten die Testungen in Schulen „zwangsläufig zur Identifizierung von Fällen bei Kindern und Jugendlichen“. Diese in der Regel gesunden Personen würden dann für 14 Tage „in Isolation gesetzt“. Aufwand und Schaden für die Betroffenen und der Nutzen – nämlich die Verhinderung der Ausbreitung des Virus – stünden in keinem Verhältnis. Es gebe eher „Nachteile für die Inzidenzen im Herbst, in den diese dann verschoben werden“.
Aktuell gibt es 960 Infektionen an Schulen
Am Freitag wurden von der Bildungsverwaltung auch die neuen Infektionszahlen für die Schulen bekannt gegeben. Demnach sind aktuell rund 920 Schüler infiziert sowie 40 Beschäftigte. In Quarantäne sind 87 Lerngruppen, in der Vorwoche waren es 82.
Auch die Kultusminister meldeten sich am Freitag zu Wort und votierten gegen intensive Quarantänemaßnahme oder gar erneute Schulschließungen.
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Dabei bezogen sie sich auf den Beitrag von sechs Wissenschaftlern, der am Freitag auf "Zeit-Online" erschienen war. Die Wissenschaftler hatten angesichts der Impfangebote darauf verwiesen, dass Erwachsene den Schutz vor schwerer Covid-19-Erkrankung "nun weitgehend selbst in der Hand" hätten. Er müsse daher nicht weiter durch Kontaktbeschränkungen bei Kindern erreicht werden.
"Infektionen nicht um jeden Preis verhindern"
"Aus diesem Grund und da Kinder nur sehr selten schwer an Covid-19 erkranken, ist es nicht mehr sinnvoll, jede einzelne Infektion in der Schule um jeden Preis verhindern zu wollen", schreiben die Wissenschaftler. Es handelt sich um
- Reinhard Berner, Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Dresden
- Jörg Dötsch, Professor für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Köln und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin
- Gerd Fätkenheuer, Professor für Infektiologie am Universitätsklinikum Köln
- .Florian Klein, Professor für Virologie am Universitätsklinikum Köln
- Gérard Krause, Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig sowie
- Berit Lange, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig.
Die sechs Forscher erinnern daran, dass sich bisher "alle Maßnahmen in den Schulen an der Maxime orientieren, möglichst jede Infektion im dortigen Kontext zu verhindern". Inzwischen hätten sich die Grundbedingungen geändert, "sodass dieses Prinzip auf den Prüfstand gestellt werden sollte".
Forscher fordern "begrenzte Umgebungsquarantäne"
Denn großflächige Quarantäne schaffe "große Verunsicherung bei Schülern, Eltern und Lehrern". Für Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen solle deshalb ein spezifisches Kontaktpersonenmanagement eingeführt werden, "das eine angemessene Balance findet zwischen der Zahl verhinderbarer Erkrankungen und der durch Quarantäne ausgefallenen Unterrichtstage".
Eine sofortige, aber begrenzte Umgebungsquarantäne bei Nachweis eines Falls oder eine kontrollierte, systematische Testung sichere Unterrichtstage und verhindere "die meisten, wenn auch nicht alle Infektionsfälle in einer Klasse". Wie eine solche Umgebungsquarantäne genau ausgestaltet werde, welche Schüler bei einem positiven Fall also in Quarantäne sollten, müsse diskutiert werden, sollte aber die oben genannte Balance wesentlich im Auge behalten.
Lob vom den Kultusministern
Britta Ernst (SPD), Präsidentin der Kultusministerkonferenz und brandenburgische Ministerin für Bildung und Jugend nannte die Ausführungen einen "sehr wichtigen Beitrag von führenden Wissenschaftlern". Sie freue sich, "dass damit der Kurs die Schulen offenzuhalten unterstützt wird". Wichtig seien auch die Hinweise zur Quarantäne im Sinne einer größtmöglichen Offenhaltung von Schulen zu überdenken.
Die KMK-Vizepräsidentin und Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Schleswig-Holstein, Karin Prien (CDU) begrüßte, dass die Wissenschaftler die KMK in ihrem Weg unterstützen, "den Schülerinnen und Schülern so viel Normalität wir möglich zu ermöglichen".
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