„Infektiologisch fast nichts bewirkt“: Berliner Amtsarzt Larscheid hält Klassen-Quarantäne für sinnlos
An Berliner Schulen sollen nur noch Infizierte isoliert werden. Reinickendorfs Amtsarzt begründet das mit drohenden Schäden durch eine Quarantäne für die Kinder.
Der PCR-Coronatest schlägt bei einem Kind positiv an und schon muss die ganze Klasse in Quarantäne? Das dürfte in Berlin bald der Vergangenheit angehören: Künftig sollen nur noch infizierte Beschäftigte und Schüler in Quarantäne geschickt werden, plus deren Haushaltsangehörige. Kontaktpersonen außerhalb der engsten Familie werden nicht mehr ermittelt.
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Diesen Strategiewechsel haben die zwölf Berliner Amtsärzte angestoßen.
Reinickendorfs Amtsarzt Patrick Larscheid begründet den Vorstoß auch mit dem Schutz von Kindern und Familien vor den sozialen und psychologischen Folgen einer Quarantäne. Diese seine bisher unterrepräsentiert gewesen.
„Vermitteln Sie mal einer alleinerziehenden Busfahrerin mit einer achtjährigen Tochter, dass diese im kommenden Jahr vier bis fünf Mal in Quarantäne muss. Und dass sie sich als Mutter mal bitte zu Hause darum kümmert, dass das Kind ordentlich betreut wird und lernt“, sagte er im Gespräch mit dem Tagesspiegel. „Das ist keine Kleinigkeit, das hat auch mit der Familiengesundheit zu tun.“
Solche „bevölkerungsmedizinischen Aspekte“ seien in die Stellungnahme der Berliner Amtsärzte einbezogen worden. Es müsse mehr Augenmerk auf den Schaden gelegt werden, den die Quarantäne durch das Fernbleiben von Lerngruppen langfristig verursache. „Wenn man mit der mehr oder weniger sinnlosen Quarantäne so weitermachen würde wie bisher, würden wir massive Lerngruppenschließungen in Kauf nehmen und müssten langfristige Schäden für die kommenden Jahre einpreisen“, sagte Larscheid.
Die Amtsärzte weichen mit ihrer Vorgabe von der Empfehlung des Charité-Virologen Christian Drosten ab. Dieser hatte zu einer fünftägigen Quarantäne der ganzen Klasse geraten. Bisher sind es 14 Tage. Diesen Zeitraum hatte Drosten vor wenigen Tagen als „unerträglich lang“ bezeichnet.
Zudem hatte der Virologe geäußert, man müsse wegen der Impfung der Erwachsenen nicht mehr jede nur denkbare Übertragung in den Schulen verhindern. Aber: „Besser ist Quarantäne für die ganze Klasse sofort beim ersten Fall, das aber kurz.“
Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach kritisierte die neue Strategie in der Hauptstadt. „Berlin kapituliert vor der Delta-Variante in Schulen“, schrieb er auf Twitter. „Damit ist komplette Durchseuchung der Kinder in Berlins Schulen wahrscheinlich.“
Lauterbach sprach sich stattdessen – wie Drosten – für eine fünftägige Quarantäne der ganze Klasse aus. Kinder sollten nicht dem Risiko von Long Covid ausgesetzt werden.
Larscheid betonte indes, dass für die Amtsärzte sehr wohl die Gesundheit der Kinder im Fokus stünde. „Wir wollen keineswegs durchseuchen", sagte er. "Wir sehen aber die Sinnlosigkeit unserer bisherigen Maßnahmen hinsichtlich der Quarantäne.
[Korrektur: In einer ersten Fassung hatten wir geschrieben, dass die Senatsverwaltung für Bildung und Jugend die Vorgabe zeitnah umsetzen will. Das ist nicht richtig: die Umsetzung erfolgt durch die Gesundheitsämter.]
Ansteckungen unter Kindern könnten nicht völlig vermieden werden. „Infektiologisch haben eigentlich unsere ganzen Schul- und Kitaquarantänen fast nichts bewirkt. Selbstkritisch müssen wir eingestehen, dass wir die allermeisten Kinder zu Unrecht in Quarantäne gesteckt haben“, sagte er. „Die Mehrzahl aller Kinder, also 95 Prozent, waren ja gesund.“
In der schriftlichen Stellungnahme der Berliner Amtsärzte heißt es zudem mit Blick auf die „im Regelfall ausbleibenden oder allenfalls milden Symptomatik“ bei Kindern, dass die Einschränkung der sozialen Kontakte die kindliche Gesundheit „mehr als weiter tolerierbar ist“ schädige. Und: Die vorherrschende Virusvariante vom Deltatyp sei „so ansteckend, dass mit einer sicheren Ansteckung der ungeimpften Kinder zwingend zu rechnen ist“.