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Lehrerverband kritisiert mangelnde Vorbereitung der Länder: „Wir warnen davor, an den Schulen unvorsichtig zu werden“

Drohende Durchseuchung von Kindern, fehlende Vorbereitung der Schulen auf die vierte Welle: Der Präsident des Lehrerverbandes kritisiert die KMK heftig.


Heinz-Peter Meidinger ist Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Das Interview wurde schriftlich per E-Mail geführt.

Herr Meidinger, sind die Schulen in Bezug auf die Pandemie besser auf das kommende Schuljahr vorbereitet als nach dem Sommer 2020?
Teils, teils. Zum einen haben wir im Gegensatz zum letzten Schuljahresstart im Herbst 2020 ein größeres Instrumentarium an Gesundheitsschutzmaßnahmen. Da wären zum einen die regelmäßigen Schnelltests zu nennen, die sich in der Breite gut etabliert haben und auch funktionieren, auf der anderen Seite ist inzwischen ein sehr hoher Prozentsatz von Lehrkräften vollständig geimpft. Dennoch bleiben nach wie vor große Defizite.

Welche meinen Sie?
Das gilt für die völlig ungenügende Ausstattung der Unterrichtsräume mit Raumluftfilteranlagen, das gilt für die immer noch schleppende Digitalisierung der Schulen (insbesondere was die IT-Grundstruktur anbelangt, nur die Hälfte der Schulen hat schnelles Internet) und das gilt für das Fehlen klarer Hygienestufenpläne. Derzeit ist völlig unklar, inwieweit sich die einzelnen Länder noch an Inzidenzen orientieren, welche anderen Parameter bei der Frage, ob vollständiger Präsenzunterricht möglich ist, herangezogen werden und auch, welche Quarantäneregeln bei Infektionsfällen gelten.

Ganz verkürzt gesagt geht es um die Frage, wieviel Durchseuchung der Schulen angesichts des geringeren Risikos für Kinder, schwer an Corona zu erkranken, die Politik hinzunehmen bereit ist. Das ist derzeit völlig unklar. Wir als Deutscher Lehrerverband warnen davor, jetzt an den Schulen unvorsichtig zu werden und die Kontrolle über das Infektionsgeschehen in der vierten Welle völlig aus der Hand zu geben. Dafür ist die Studienlage, wie hoch die Hospitalisierungsquote bei Kindern in Bezug auf die Deltavariante ist, zu dünn und auch die Erkenntnisse über LongCovid nicht ausreichend.

Haben die Kultusminister die Ferien genutzt, um die Schulen ausreichend vor der vierten Welle zu schützen?
Nein, eine ausreichende Vorbereitung hätte anders ausgesehen oder würde anders aussehen. Zur Ehrenrettung der Bildungspolitik muss man sagen, dass sie nicht für alle Defizite an Schulen verantwortlich ist. Da reden ja auch die Ministerpräsident/inn/en, die Gesundheitsbehörden oder im Fall der Raumluftfilteranlagen die Kommunen als Schulträger mit.

Welches Defizit monieren Sie besonders bei den Kultusministern?
Der größte Fehler der Kultusminister war wieder einmal, dass sie sich zu früh auf allein ein Szenario festgelegt haben, nämlich das Szenario des vollständigen Präsenzunterrichts, ohne dafür auch die notwendigen enormen Kraftanstrengungen zu unternehmen, was etwa Unterrichtsversorgung, Gesundheitsschutzmaßnahmen und entsprechende klare Hygienestufenpläne anbetrifft.

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Und wieder einmal wurde das Szenario B bei der Vorbereitung des neuen Schuljahres vernachlässigt. Anders ist es nicht zu erklären, dass immer noch viele Schulen auf klare Regeln für Distanzunterricht warten und dass immer noch nur ein Teil der Digitalpaktmittel an den Schulen angelangt ist.

Wie schätzen Sie den Stand der Digitalisierung nach anderthalb Jahren Pandemie ein?
Da gibt es Licht und Schatten. Mehr Licht angesichts des Digitalisierungsschubs bei den Lehrkräften, der besseren Ausstattung von Schülern mit Leihgeräten und von Lehrkräften mit Dienstlaptops. Allerdings gilt dies bislang nur für eine Minderheit der 800.000 Lehrkräfte in Deutschland.

Und der Schatten?
Schwieriger wird es schon bei der Frage der Lernplattformen und der Videokonferenzsysteme. Immer noch ist es so, dass die kommerziellen Produkte wie etwa Microsoft Teams vom Funktionsumfang und der Leistungsfähigkeit her den staatlichen Lösungen überlegen sind. Auf der anderen Seite bestehen eben ungelöste Datenschutzprobleme bei Produkten, deren Server zum Teil im Ausland stehen. Ärgerlich ist, dass es immer noch an der grundlegenden IT-Infrastruktur mangelt, also die Hälfte aller deutschen Schulen kein schnelles Internet hat.

Lang- und mittelfristig sehen wir als Lehrerverband die Hauptherausforderung aber weniger im Bereich der Technik sondern im Bereich der Pädagogik und Didaktik. Also bei der Frage, wie Digitalisierung dann auch ganz konkret für anspruchsvollen Fachunterricht fruchtbar gemacht werden kann. Eine gestreamte Unterrichtsstunde ist kein Gewähr für besseren Unterricht.

Sie haben vor einigen Wochen zu einem „Chaos“ an den Schulen gewarnt. Halten Sie an dieser Warnung fest?
Wenn sich die Länder mit dem Bund nicht schnell auf einheitliche Kriterien in der Frage eines verantwortbaren Schulbetriebs einigen, in dem Gesundheitsschutz und Unterrichtsauftrag gleichermaßen berücksichtigt werden, droht ein neuer Flickenteppich in Deutschland, der die Akzeptanz politischer Maßnahmen erschüttern wird. Selbst wenn am vollständigen Präsenzunterricht auch bei sehr hohen Inzidenzen festgehalten wird, werden wir sehr hohe Quarantänezahlen im Herbst bekommen, falls die vierte Welle Inzidenzen um 400 oder 800 erreichen wird, wobei die Inzidenz in der Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen dann dort auch das Zwei- bis Dreifache erreichen könnte.

In Großbritannien sind Schulen offen, aber letzte Woche waren eine Million Schülerinnen und Schüler jeweils auch in Quarantäne. Ich hoffe nicht, dass dies zu chaotischen Zuständen führen wird. Klar ist aber auch, dass verharmlosende Prognosen, wie sie manche Schulbehörde vom Stapel ließ,  den großen Herausforderungen auch nicht gerecht wird.

Wie schätzen Sie die Impfbereitschaft unter Lehrkräften ein?
Auch wenn es keine amtliche Statistik gibt, wegen der fehlenden Meldepflicht auch gar nicht geben kann, gehen wir aufgrund von Mitgliederbefragungen und Rückmeldungen aus vielen Lehrerkollegien davon aus, dass die inzwischen erreichten Impfquoten sehr hoch sind, zwischen 85 und 96 Prozent. Das wäre dann eine der höchsten Impfquoten unter allen Berufsgruppen in Deutschland.

Bei der kleinen Gruppe der Ungeimpften handelt es sich auch in der Regel nicht um generelle und fundamentale Impfgegner, sondern da gibt es meist nachvollziehbare medizinische oder individuelle Gründe. Deshalb ist es auch wenig hilfreich, eine Impfpflichtdiskussion in Bezug auf Lehrkräfte zu beginnen. Etwas geringer ist wohl die Impfquote bei Kitaerzieherinnen, aber auch hier dürften es rund Dreiviertel aller Beschäftigten sein.

Wie geht es mit der Schule nach den Sommerferien weiter?
Wie geht es mit der Schule nach den Sommerferien weiter?
© Matthias Balk/dpa

Wie bewerten Sie das Agieren der Politik beim Thema Impfungen von Jugendlichen?
Die Expertise dafür liegt bei den Gesundheitsbehörden, dem RKI und der Stiko. Natürlich wäre eine hohe Impfquote bei Kindern und Jugendlichen ein sehr großer Gewinn für mehr Gesundheitsschutz an Schulen.

Wir würden es begrüßen, wenn hier Politik und die Stiko zu einer einheitlichen Bewertung kommen würden. Bis dahin sollte allerdings den Eltern, die ihre Kinder nach ärztlicher Beratung impfen lassen wollen, ein niedrigschwelliges Impfangebot, eventuell auch im Umfeld von Schulen und Unterricht gemacht werden, etwa durch den Einsatz mobiler Impfteams vor und nach dem Unterricht. Wir glauben, dass es eine höhere Impfbereitschaft dafür gibt, als die Zahlen (rund 20 Prozent Geimpfte in der Altersgruppe 12 bis 17) suggerieren.

Wie auf der Internetseite der Stiko nachzulesen ist, gab es für die fehlende allgemeine Impfempfehlung für diese Altersgruppe bei der letzten Überprüfung im Juni zwei Gründe. Zuwenig Impfstoff (und dadurch eine Konkurrenz zu Älteren) und zu wenig Erfahrungen und Studien. 

Das mit dem fehlenden Impfstoff ist Geschichte und nachdem inzwischen 20 Millionen Kinder in den USA geimpft worden sind, müsste sich auch die Studienlage verbessert haben. Widersprüchliche Signale bringen nur immer mehr Verunsicherung.

Wie müssten Quarantäneregeln in den Schulen umgesetzt werden?
Wenn man eine Durchseuchung der Schulen verhindern will, dann muss man auch auf festgestellte Infektionsfälle mit Quarantänemaßnahmen reagieren, sonst kann man sich die regelmäßigen Schnelltests gleich sparen. Die Frage ist, wie umfangreich diese Maßnahmen aussehen. Die Politik hat ein starkes Interesse daran, Quarantänemaßnahmen zu begrenzen, also eventuell ganz darauf zu verzichten oder vielleicht nur die unmittelbaren Banknachbarn nach Hause zu schicken.

Wenn man die Infektionsgefahr durch Aerosole (neben dem direkten Kontakt) ernst nimmt, dann führt an Quarantänemaßnahmen für ganze Lerngruppen oder in der Oberstufe für ganze Jahrgangsstufen kein Weg vorbei.

Zu überlegen ist, ob das Vorhandensein von Raumluftfilteranlagen Einfluss auf den Umfang von Quarantänemaßahmen haben soll und ob geimpfte Kinder davon auszunehmen sind. Auch die Frage, ob man sich durch PCR-Tests freitesten kann, ist dabei relevant. Letztendlich haben aber hierbei die örtlichen Gesundheitsämter den Hut auf und verantworten diese Maßnahmen.

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