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Das eingeworfene Fenster des Bilderrahmenladens "Frame Work Berlin" in Kreuzberg. Immer wieder werden Händler im Kiez attackiert.
© Kai-Uwe Heinrich

Reichenberger Straße in Berlin-Kreuzberg: Google ist weg, Gentrifizierung geht weiter

Nach dem Rückzug des Internetkonzerns bleibt die Reichenberger Straße in Kreuzberg schmuddelig – und angesagt. Eine Reportage aus dem Konfliktgebiet.

Für ein paar Stunden scheint es, als herrsche Waffenruhe in der Reichenberger Straße. Es ist ein ungewöhnlich warmer Novembertag. Die Cafés haben ein letztes Mal auf den breiten Gehwegen gestuhlt, sogar an der Eisdiele ist Betrieb. Vor einem Laden für Holzrahmen bleibt eine ältere Dame mit ihrem Dackel stehen und begutachtet zwei Löcher in der Fensterscheibe. „Was ist denn hier passiert“, will sie von der Verkäuferin wissen, die mit ihrem Retriever vor der Tür sitzt.

„Wurde uns mit Steinen eingeworfen.“

„Wieso repariert ihr die nicht?“

„Ist schon das dritte Mal in wenigen Wochen.“

„Sauerei“, murmelt die Dame, schüttelt den Kopf und zieht mit ihrem Dackel weiter.

In der Reichenberger Straße brodelt es. Gerade erst wurde mit Besetzungen und Protesten die Ansiedlung eines Google-Campus verhindert. Anwohner hatten weiter steigende Mieten und Verdrängung gefürchtet und gegen den Weltkonzern mobil gemacht. David gegen Goliath. Kreuzberg gegen den Kapitalismus. Ein letzter Sieg? Anders als in vielen Ecken des Bezirks ist der Kampf in der Reichenberger Straße noch nicht entschieden. Doch die Stimmung ist angespannt. An fast jeder Hauswand wird zum Protest gegen Investoren und Miethaie aufgerufen.

Im Holzrahmenladen versteht Barbara Fellmann die jüngsten Attacken nicht. Seit drei Jahren gibt es das Geschäft, Ärger gab es noch nie. „Inzwischen komme ich morgens in den Laden und zähle erst einmal die Löcher“, sagt Fellmann, die seit zwölf Jahren im Kiez wohnt. An der Reichenberger gefällt ihr, dass die Zeit hier lange stehen geblieben schien. „Der Graefekiez hat sich entwickelt, hier ist immer noch alles ein bisschen schmuddelig“, sagt sie.

Tatsächlich ist die 2,5 Kilometer lange Straße, die quer durch das Kottbusser Tor immer parallel zum Maybachufer verläuft, keine der durchsanierten Flaniermeilen. Viele Fassaden bröckeln, es ist grau, Müll liegt auf der Straße. Aber auch Fellmann spürt die Veränderung. Vor wenigen Jahren schloss der Kohlenhändler an der Ecke, die Baulücke wird wohl bald geschlossen.

„Das Klientel hat sich geändert“

Hippe Cafés und Bio-Märkte haben sich in der Straße angesiedelt, auch stilvolle Läden für Kosmetik und Mode. „Das Klientel hat sich geändert“, sagt sie. Sich selbst zählt sie nicht dazu. „Wir haben doch nur ein kleines Kapital – ein richtiger Kiezladen“, sagt sie. Ob es wirklich Gentrifizierungsgegner waren, die ihnen die Scheiben eingeworfen haben, weiß sie nicht. Auch Kinder könnten die Steine geworfen haben oder ein unzufriedener Kunde. Möglich, immerhin kostet ein kleiner Bilderrahmen rund 35 Euro – wahrscheinlich ist das aber nicht.

„Das erste Mal habe ich die Veränderung gespürt, als die Leute bereit waren, einen Euro für die Kugel Demeter-Eis zu bezahlen“, sagt Carola Rönneburg. Zehn Jahre ist das nun her. Für sie eine zwiespältige Erfahrung. 1990 kam sie zur Ausbildung nach Berlin, seitdem wohnt sie in ihrer kleinen Wohnung im Kiez. Anfangs noch mit Kohlenheizung und ohne Bad. „Hier gab es gar nichts“, erinnert sie sich. Eigentlich freut sie sich über neue Bars und Supermärkte – früher musste sie noch alles bei Karstadt am Hermannplatz besorgen.

Auch die Verlängerung der Tram M10 wäre eigentlich eine Erleichterung, denn bislang ist die Straße nur vom chronisch chaotischen M29 Bus angebunden. Doch mit jeder Veränderung wird der Kiez aufgewertet und interessanter. Rönneburg beobachtet inzwischen sogar, wie Nachbarn ihre Häuser absichtlich vernachlässigen und Sperrmüll vor der Tür lagern – Hauptsache niemand findet die Gegend attraktiv. „Es ist doch traurig, wenn man Angst hat, weil eine Baumscheibe bepflanzt wird.“

Immer weniger Kinder haben Migrationshintergrund

Doch Interesse am Kiez gibt es trotzdem. Mit dem Mauerfall wurde die Reichenberger vom letzten Eck Kreuzbergs in die Mitte einer aufstrebenden Metropole katapultiert. Wo früher Künstler, Gastarbeiter und Geringverdiener wohnten, wie sie humorvoll in Sven Regeners neustem Roman „Wiener Straße“ beschrieben werden, kommen nun immer mehr junge Familien mit Eigentumswohnungen und hoch qualifizierte Facharbeiter aus der ganzen Welt dazu. Angezogen vom Kreuzberger Flair, verändern sie es Stück für Stück. Rönneburg beobachtet die Veränderungen jeden Tag. Teure Autos sieht sie nun. Die Hinterhöfe haben jetzt Tore. In der Kita gibt es immer weniger Kinder mit Migrationshintergrund. Ihre Bilanz: „Die Kreuzberger Mischung kippt.“

Um den knappen Wohnraum wird in Kreuzberg erbittert gestritten.
Um den knappen Wohnraum wird in Kreuzberg erbittert gestritten.
© Kai-Uwe Heinrich

Im Januar 2017 ist für Rönneburg und viele Nachbarn eine Grenze erreicht. Dem Filou, einer Bäckerei an der Ecke Glogauer Straße, war gekündigt worden. Zuvor hatte ein britischer Investor das Haus saniert und mit Ferienwohnungen ausgebaut. Wenn, dann solle eine ordentliche Bäckerei, die ihre Brötchen selbst backt, in die Räume, hatte der Besitzer den Inhabern gesagt. „Da war so eine klare Verdrängung – wir waren alle so sauer“, sagt Rönneburg. Schon eine Stunde vor einer Infoveranstaltung im Café ist der Laden vollkommen überfüllt. Zusammen gründen sie die Initiative „Gloreiche“ – ein Akronym aus Glogauer und Reichenberger – und können mit großer medialer Aufmerksamkeit und der Vermittlung von Grünen-Urgestein Hans-Christian Ströbele das Filou retten.

Einfache und hippe Läden existieren nebeneinander

„Für mich ist der Kiez dadurch noch ein bisschen mehr Heimat geworden“, sagt Daniel Spülbeck. Ihm gehört das Café, in dem an einem regnerischen Morgen ein paar ältere Damen sitzen, klassische Musik hören und die selbstgekochte Kartoffelsuppe löffeln. Seit dem Protest hat Spülbeck einen Mustermietvertrag. Mieterhöhungen werden der Inflationsrate angepasst, gekündigt werden kann ihm quasi nicht. Spülbeck, der schon länger mit seiner Frau und den drei Kindern in Brandenburg wohnt, hofft, dass seine Geschichte anderen Anwohnern Mut macht. „Man ist nicht machtlos ausgeliefert. Noch haben wir keine Londoner Verhältnisse.“ Noch.

Ein paar Kopfsteinpflaster-Meter weiter schallt in einem kleinen Laden Indie-Musik aus einer Musikanlage. An der Wand hängen alte Weltkarten. Ein Anzugträger erklärt einem jungen, bärtigen Mann mit Seemannsmütze wie er sein Geld in Investmentfonds in Dubai anlegen kann, zwei junge Frauen fotografieren ihren Granola-Erdbeer-Joghurt für Instagram. Seit 2010 existiert das Café Five Elephant, das für den selbstgerösteten Bio-Fair-Trade Kaffee und den Käsekuchen gerühmt wird.

Viele im Kiez sagen, das Szene-Café ganz am Ende der Reichenberger Straße war ein Katalysator der Gentrifizierung. „Ungewollt sind wir natürlich ein Teil der Entwicklung“, gibt Sophie Schackman zu. Die gebürtige Wienerin hat das Five Elephant gegründet. Schackman, die seit fast 15 Jahren im Kiez wohnt, bewertet die Veränderungen in Kreuzberg positiv. „Wenn man möchte, dass alles gleichbleibt, sollte man auf das Land ziehen. Hier bewegt sich was, deshalb bin ich nach Berlin gekommen.“

Wer wenig Geld hat, zahlt auch weniger

Als Gentrifiziererin sieht sie sich nicht, immerhin gehe man auf die Anwohner zu. Für Menschen mit geringem Einkommen gibt es im Five Elephant Kaffee für einen Euro. Von ihren Nachbarn fühlt sie sich akzeptiert. „Nur in den ersten zwei Jahren gab es Angriffe“, erinnert sie sich. Stinkbomben, Farbbeutel, versuchte Einbrüche. Aufgeben wollten sie nie.

Auch Carola Rönneburg will nicht aufgeben. „Wenn wir unsere jetzige Wohnung verlieren, werden wir hier nichts mehr finden.“ Der Erfolg im Filou hat die 54-Jährige politisiert. „Im letzten Jahr bin ich mehr Demokilometer abgelatscht als in den vergangenen 20 Jahren.“ Auch gegen den Google-Campus ist sie aktiv geworden. „Nach dem Aus haben wir erst einmal eine Flasche Sekt aufgemacht“, sagt sie. Triumphgefühle verspüre sie aber nicht. Zu groß bleibe der Druck auf dem Kiez, dessen Bewohner dadurch immer weiter zusammengerückt sind. Selbst Besetzungen schließt sie für sich inzwischen nicht mehr aus.

Noch 196 Tage, dann endet die "Meuterei"

Und der nächste Kampf steht schon bevor. In der Meuterei, einer linken Kollektivkneipe in der Nummer 58, tickt hinterm Tresen in roten Ziffern der Countdown. Noch 196 Tage bis die Kneipe nach zehn Jahren schließen muss. Der Gewerbemietvertrag läuft aus und wird nicht verlängert. Andere Räume wird man sich nicht leisten können, dabei ist die Meuterei tief im Kiez verwurzelt. Regelmäßig gibt es kostenfreie Rechts- und Schuldenberatung, das gesammelte Trinkgeld geht jeden Monat an ein anderes soziales Projekt.

Das Licht ist schummrig, der Rauch steht, aus den Boxen klingt abwechselnd Punk und der Liedermacher Rainald Grebe. Vor allem links-alternatives Publikum fühlt sich angezogen, aber auch viele gestrandete Gestalten. Doch die Nische soll verschwinden. „Ist eben eine der angesagtesten Ecken“, sagt der Wirt. Noch hoffen sie und machen mobil. „Keine Beute mit der Meute“, steht auf Plakaten im ganzen Kiez. „Ich will nicht, dass die Reichenberger endet wie der Prenzlauer Berg“, sagt ein Gast und schaut tief in sein Bierglas. Die Uhr springt um. Noch 195 Tage.

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