Krebserregende Schießstände?: Gewerkschaft: Berliner Polizei verlernt das Schießen
Gesundheitsgefährdende Schießstände, kaum noch Möglichkeiten, den Umgang mit der Waffe zu lernen: Gewerkschaft und Grüne warnen vor fatalen Folgen für Berlins Polizei.
Müssen im kommenden Jahr Berliner Polizisten ihre Waffen abgeben? Aus Sicht der Gewerkschaft der Polizei droht diese Gefahr. Denn bekanntlich sind die meisten Schießstände wegen Giftbelastung geschlossen. „Wenn es in den nächsten Monaten keine Lösung gibt, müssten wir im nächsten Jahr tausenden Kollegen die Waffe wegnehmen“, warnt GdP-Sprecher Benjamin Jendro. „Es ist höchste Eile geboten“, sagt auch der innenpolitische Sprecher der Grünen, Benedikt Lux. Lux bemängelte, dass es in den vergangenen Wochen keine Informationen mehr aus Innenverwaltung und Polizei gab, wie es weitergehen soll. Auf schriftliche Anfrage des Tagesspiegels, wann „neue / sanierte / provisorische Schießbahnen zur Verfügung stehen“, teilte das Präsidium mit: „Aufgrund des komplexen Verfahrens lässt sich derzeit keine verlässliche zeitliche Angabe treffen.“
Das Präsidium dementierte jedoch, dass im kommenden Jahr Polizisten ihre Waffe abgeben müssen. Ab September soll bei der Bundeswehr in Lehnin geschossen werden, noch in 2016 auch in Plessow beim Zoll. Beides ist jedoch mit einer erheblichen Anfahrt verbunden. Vorgeschrieben ist für jeden Polizisten einmal jährlich ein Schießen mit scharfer Munition. Nach Angaben der GdP sind derzeit nur noch elf Schießbahnen in Betrieb (acht in Ruhleben und drei in der Kruppstraße). Es waren einmal 73, von denen in den vergangenen Jahren immer mehr wegen unterschiedlicher Gesundheitsgefahren geschlossen werden mussten. Die verbliebenen sind deshalb völlig überlastet. Zuletzt hatte Polizeipräsident Klaus Kandt Ende April eine weitere Nutzung der 23 Bahnen in Wannsee untersagt. Dort soll Krebs verursachendes Dämmmaterial verbaut sein.
Kandt hatte im April angekündigt, dass fünf neue Trainingszentren gebaut werden, von denen vier bis 2019 fertig sein sollen. Nun ist zur Beschleunigung die Rede von „modularen Raumschießanlagen“, quasi eine Fertiganlage im Container. Doch auch die könnten frühestens in 18 Monaten einsatzbereit sein – also nicht mehr im Jahr 2017. Lux forderte, dass diese Module „deutlich schneller“ beschafft werden müssen. Seiner Kenntnis nach ist die Beschaffung noch nicht einmal ausgeschrieben worden.
Ende 2015, als das Problem drängender wurde, hatte der Polizeipräsident verfügt, dass das sogenannte Lasersimulationsschießen das Schießen mit scharfer Waffe gleichwertig ersetzt. Viele Polizisten grinsen über das „Playstation-Schießen“. Und auch GdP-Sprecher Jendro sagt: „Es ist nicht mal ansatzweise eine Alternative.“
Auch aus Sicht der Grünen ist das Absenken der Standards keine gute Lösung, um zu verhindern, dass Polizisten ihre Waffe abgeben müssen. „Dann haben wir spätestens dann ein Problem, wenn etwas schiefläuft“, sagte Lux – also ein Beamter schief schießt. Schon im März dieses Jahres hatten Grüne und Gewerkschaften den Vorwurf mangelnden Trainings erhoben, nachdem ein flüchtiger Einbrecher in Marzahn erschossen worden war. „Die Absenkung der Standards wäre ein hohes Risiko“, sagte Lux. Polizeipräsident Klaus Kandt hatte im April im Innenausschuss eine „Taskforce“ angekündigt, die „mit Hochdruck Lösungen erarbeiten“ soll, um einerseits eine weitere Gesundheitgefährdung der Beamten auszuschließen und andererseits das Schießtraining zu ermöglichen.
Bislang galt die Aussage, dass die alten Schießbahnen nicht mehr saniert werden sollen, die teilweise, wie die Anlage in Wannsee, nur gemietet sind. Das Thema war im Frühjahr mehrfach Thema im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses. Im April hatte Innensenator Frank Henkel (CDU) angekündigt, dass alle 1532 Polizisten medizinisch untersucht werden sollen, die möglicherweise mit giftigen Stoffen in Berührung gekommen sind. Diese sind mittlerweile angeschrieben worden. Wie berichtet hatte Henkel allen Polizisten versichert, dass sie sich nicht „durch alle Instanzen klagen müssen“, ihnen solle schnell geholfen werden.
Berlins Polizei hat derzeit viele Baustellen - eine Übersicht:
VERGIFTETE BEAMTE
In den vergangenen Jahren haben alle Polizisten in schadstoffbelasteten Schießständen geübt. Wie vergiftet die Beamten sind, ist unklar. Es gibt 102 Dienstunfallanzeigen, die von den Beamten auf das Schießtraining zurückgeführt werden. Die Betroffenen sollen zuerst medizinisch untersucht werden. Dann folgen 1400 Beamte, die viel Zeit in den Schießständen verbracht haben, also Trainer und Spezialeinheiten.
NEUE BEAMTE
Sind offenbar schwer zu finden. Am Montag verlängerte die Polizei die Bewerbungsfrist für die nächste Einstellungsrunde. Auch in den vergangenen Jahren war die Frist immer wieder verlängert worden, damit sich mehr Kandidaten melden. Genommen werden auch „Lebensältere“ (bis 39 Jahre). Berlin ist unattraktiv: Andere Bundesländer oder die Bundespolizei zahlen besser.
DIGITALFUNK
Funktioniert auch nach vielen Jahren nicht richtig. Die Zahl der Stationsmasten ist viel zu gering, in Gebäuden oder in Tunneln gibt es keinen Empfang. Dies zeigte sich gerade bei den tödlichen Schüssen im Steglitzer Klinikum: Die Beamten konnten nicht funken.
NOTRUF 110
Die Leitstelle der Polizei ist überlastet: Nur 78 Prozent der Anrufer der Nummer 110 konnten im ersten Quartal innerhalb der vorgegebenen zehn Sekunden angenommen werden. 22 Prozent ärgern sich also über die Warteschleife.
AUFKLÄRUNGSQUOTE
Im ersten Quartal 2016 wurden nur noch 43 Prozent der Straftaten aufgeklärt. Die Polizei hatte sich in ihrer internen „Zielvereinbarung“ zu 45 Prozent verpflichtet. Schuld an der Diskrepanz sei die enorm (plus 39 Prozent) gestiegene Zahl der Taschendiebstähle, die so gut wie nie geklärt werden.
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