Die Jugend von heute: "Generation"? Hört auf, uns zu klassifizieren!
„Generation Maybe“, „Generation Luxus“ – alles Quatsch. Die junge Generation lässt sich nicht in Schubladen pressen. Schließlich zeichnet uns gerade aus, dass es kein „Wir“ gibt. Simon Grothe über die Jugend von heute:
In einer Kunstklausur in der Oberstufe saß ich lange vor Edvard Munchs Gemälde „Der Schrei“. Auch wenn der Mann im Bild andere Sorgen hatte als ich, konnte ich mich gut in diese Figur einfühlen. Wenige Monate bis zum Abitur – und dann? Freiwilligendienst? Arbeiten auf einer australischen Kaktusfeigenplantage? Den Jakobsweg gehen? Eine Artistenausbildung machen? Ich schlug die Hände vor den Kopf, glücklicherweise entfuhr mir kein Schrei.
Manche Leute nennen uns Jugendliche orientierungslos. Das stimmt auch. Aber es ist auch gut so. Die Möglichkeiten, die viele junge Menschen in unserer Gesellschaft haben, sind grenzenlos. Nehmen wir zum Beispiel eine Person, die ich ziemlich gut kenne, glaube ich jedenfalls: mich. Ich habe Praktika bei Zeitungen gemacht, lerne täglich neue Leute kennen und leite nun den neuen Jugendblog des Tagesspiegels. Nach der 10. Klasse bin ich ein Jahr in Argentinien zur Schule gegangen, habe dort eine Brasilianerin kennengelernt, die nun während der Fußball-WM für uns aus São Paulo berichtet hat.
Würden wir nicht durch die Welt schweifen, blieben uns diese Möglichkeiten verwehrt. Sicher endet das auch manchmal damit, dass man in Australien wieder den Freunden vom Abi begegnet oder sich von einem Praktikum ins nächste flüchtet. Aber woher soll man sonst wissen, wohin man will? Die Suche bringt uns nach vorne.
Was mich nervt, sind diverse Medien und Soziologieprofessoren, die versuchen, „die Jugend“ in eine Schublade zu pressen. Da tritt eine ehemalige „Alles was zählt“-Schauspielerin bei einem Poetry Slam mit einem Text über verpasste Chancen auf – schon sind wir laut „Welt“ die „Generation Maybe“. Zur selben Zeit werden die Jahrgänge 1977 bis 1998 als „Generation Y“ bezeichnet, mit dem Attribut „Selbstbestimmung“ und Ich-sage-dem-Chef-wie-ich-arbeiten-will- Mentalität. Das passt nicht zusammen.
Probiert euch aus! Woher soll man sonst wissen, wohin man will?
RTL zeigte mal eine Serie mit dem Titel „Generation Luxus – Was kostet die Welt“. Sieben Teenager aus Hintertupfingen sind nach Afrika geflogen und haben vier Wochen da gearbeitet, wo ihre T-Shirts produziert werden. Natürlich flippen die aus angesichts der Arbeitsbedingungen, es fließen Tränen. Die Serie ist mir egal. Aber verdammt noch mal, ich bin kein Mitglied der „Generation Luxus“. Diese Generation gibt es nicht – und ich möchte nicht, dass mir meine Oma beim nächsten Familienfest besorgt erklärt, dass unsere T-Shirts in Afrika zu Dumpinglöhnen produziert werden.
Besonders skurrile Ausmaße hat die Klassifizierung in der Mode angenommen. Ein individueller Kleidungsstil ist mit dem Begriff „Hipster“ abgestempelt worden. Aber wenn jetzt junge Leute die Hosenträger und Hüte ablegen und sich wieder normal anziehen, sind sie gleich „Normcore“.
Schubladen für alles, was unsere Generation betrifft, sind anscheinend total „gediegen“, um das drittbeste „Jugendwort des Jahres“ 2013 zu zitieren. Langenscheidt versucht damit dasselbe wie die Generationsdefinierer aus der Soziologie – und liegt genauso daneben. „Gammelfleischparty“ (Ü30-Partys), „Foodgasm“ (besonders lecker) oder „Likegeilheit“ (Facebook) habe ich zum ersten Mal in der Nominierungsliste des Wörterbuchverlags gelesen.
Ich möchte mich nicht zum Sprecher einer Generation aufschwingen, der allen erklärt, wie „wir“ ticken. Dieses „Wir“ ist nicht vorhanden. Es gibt niemanden, der den Ton angibt. Wer ist der David Bowie des 21. Jahrhunderts? Der britische Literaturkritiker Mark Fisher sagte mal, das fehlende Zusammengehörigkeitsgefühl liege an den fehlenden Zeitmarkierungen. „Ich habe eine deutliche Vorstellung davon, wie 1974 klang oder 1984. Aber wie klingt der Sound von 2008?“
Alles verschwimmt. Man kann überall arbeiten, überall studieren. Deshalb kann man uns nicht klassifizieren. Obwohl … sind wir dann nicht die Generation der Möglichkeiten? Ach, lassen wir das. Ich beende diesen Text mit freundlichen Grüßen an die Langenscheidt-Redaktion und dem Jugendwort des Jahres 2012, einem Tipp an alle gestressten Jugendlichen: „Yolo!“
Simon Grothe