Mode-Trend: Extrem Normal
Einst entdeckte der Hipster die Hornbrille für sich. Jetzt kommen weiße Socken in Sandalen: Normcore heißt das neue Modephänomen. Eine fachkundige Einführung.
Barack Obama steigt zum Stilvorbild auf. Weil er in ausgewaschenen Karotten-Jeans und Sportschuhen ein Interview gibt. Normcore, so nennen Medien diese Extremausstellung von Gewöhnlichkeit. Und schieben gleich hinterher: Der Hipster ist tot! Ein Trend ist geboren, ein anderer wird entsorgt. Wie unterscheiden wir als Außenstehende, wer noch den alten Moden nachhängt und wer schon die neuen trägt?
Fangen wir mit dem einfacheren an: dem Hipster. In den vergangenen fünf Jahren war er der Inbegriff des angesagten Großstädters. Er kaufte einen Großteil seiner Garderobe in Secondhandläden. Diese galten als ein Versprechen auf einen individuellen Kleidungsstil. Kein Bekleidungsstück glich dem anderen, alle waren grundverschieden – aufgrund von Herkunft und Gebrauchsspuren.
Doch mit der Nachfrage wurde aus dem Handel mit getragener Kleidung ein Erfolgsmodell, Secondhand selbst zur Massenware. Egal wo man war – in Paris, New York, Berlin – überall wurde das gleiche angeboten: abgewetzte Lederjacken, amerikanische College-Shirts und alte Lederstiefeletten. Die Kleidung verlor, was sie einst ausgemacht hatte: ihre Individualität.
Damit verknüpft war das Schicksal des Hipsters. Er wollte sich abgrenzen von der Masse, trug Holzfällerhemd, Hornbrille, Jutebeutel mit Spruch (ganz verwegen: „Jute statt Plastik“) über der rechten Schulter, dazu einen wild wuchernden Vollbart. Dieser Typ Mensch lehnte Hollywood-Blockbuster ab und quälte sich lieber tagelang durch das Programm kleiner Arthouse-Kinos. Die passende Musik zum Lifestyle war immer die, die sonst keiner kannte. Underground hieß sein Nonplusultra.
Doch irgendwann wurden der Nonkonformismus der Hipster, sein Look und seine Haltung zum Massentrend. Es kam, wie es kommen musste: zu einer Gegenbewegung. Im Oktober 2013 erfand die New Yorker Marketing-Agentur „K-Hole“ dafür den Begriff Normcore – ein Hybrid aus „Normal“ und „Hardcore“. In ihrer Veröffentlichung „Youth Mode: A Report on Freedom“, die jeder ganz modern auf ihrer Website herunterladen kann, berichten die Autoren von einer Lebenshaltung, deren Ziel nicht mehr die Differenz, sondern der größtmögliche Konformismus mit der Masse ist.
Hinter K-Hole stecken fünf Künstler respektive Schriftsteller: Greg Fong, Sean Monahan, Chris Sherron, Emily Segal und Dena Yago. Ihr Ziel ist die Vernetzung von Kunst und Marketing. Das K-Hole ist ursprünglich als Begriff bekannt, der den Zustand beschreibt, der nach einer Überdosis der Droge Ketamin, eines Pferdebetäubungsmittels, entsteht. Ein Moment eingeschränkter Wahrnehmung. Die fünf New Yorker wählten den Namen für ihre Agentur mit Bedacht. Sie wollten einen Tunnelblick auf kulturelle Phänomene entwickeln.
In ihrem 40 Seiten langen Bericht beschreiben sie Normcore als die Freiheit vom Besonderen. Das klingt etwas verschwurbelt so: „Normcore überwindet die Coolness, bei der es um Abgrenzung geht, und strebt eine neue, post-authentische Coolness an, die nach Gleichheit strebt. ... Wer wirklich Normcore sein will, muss wissen, dass es ‚das Normale‘ nicht gibt.“ Der Druck, originell sein zu müssen, fällt weg. Er schafft Platz für ein vergleichsweise unbeschwertes Sein. Während der hyperindividualisierte, in Secondhandmode verliebte Hipster mit seinen Freunden über französische Kunstfilme philosophiert, redet der Normcorer ganz einfach über das Wetter. Wie sagt Emily Segal von K-Hole: „Wir alle leiden darunter, permanent etwas Besonderes sein zu müssen.“
Doch in einer Welt, in der soziale Medien und Fast-Fashion-Ketten wie Primark jeden Trend sofort aufspüren, bleibt niemand lange allein mit seiner vermeintlichen Originalität. Jede Jugendkultur, egal ob Seapunk (Wassermotive im 90er-Jahre-Stil), Nu Rave (Wiederkehr der Tanzwütigen) oder eben Hipster, verlor in der Masse schnell ihre Authentizität und damit ihre Daseinsberechtigung. Denn was nutzt ein Vollbart, wenn auch Kai Diekmann ihn trägt?
Da kommt Normcore ins Spiel – und dreht den Spieß einfach um. Der Normcorer passt sich ästhetisch an. Er sieht aus und verhält sich wie sein eigener Vater im Italienurlaub. Mit seinem Look geht er in der Masse unter. Diese Uncoolness sorgt für eine bis dato unbekannte Freiheit. Ein Besuch in Berlins Shoppingmall Alexa? Normcore. Ein Wellness-Weekend mit der Freundin im Tropical-Islands-Resort? Normcore. Wasserflasche am Rucksack? Normcore, Normcore, Normcore!
Die New Yorker Agentur K-Hole hat in ihrem Bericht darauf hingewiesen, dass sich eine ganze Generation von Hipstern durch ihr Streben nach maximaler Individualität letztlich dadurch ihrer Freiheit beraubte. Normcore ist weniger modisches Ideal als vielmehr eine Haltung, die wieder Luft zum Atmen verschafft.
Erst im Februar dieses Jahres ging Fiona Duncan vom „New York Magazine“ weiter und beschrieb Normcore als Modebewegung. Durch ihren Artikel „Fashion For Those Who Realize They’re One in 7 Billion“ (Mode für diejenigen, die verstehen, dass sie einer von sieben Milliarden sind) wurde der Begriff zum Schlagwort. Fiona Duncan sah auf New Yorks Straßen immer öfter Menschen, bei denen sie von hinten nicht mehr unterscheiden konnte, ob es sich dabei um einen progressiven Kunststudenten oder einen gewöhnlichen Touristen handelte. Sie alle trugen etwas zu große Jeans, Fleece-Pullover, Sandalen, Baseballcaps und Turnschuhe ohne Markenlogos.
Nachdem Duncan die Modeerscheinung definiert hatte, erschienen mehr als 5000 Texte in Blogs, Magazinen und Zeitungen. Menschen, die bislang mit Mode so wenig zu tun hatten wie Karl Lagerfeld mit Understatement, wurden im Internet als stilprägend gefeiert. Jerry Seinfeld beispielsweise. Der US-Seriendarsteller, bekannt geworden durch die gleichnamige Sitcom in den 90er Jahren, verkündete per Twitter, dass er das Normcore-Ding super finde, sich jedoch frage, wie man dabei zeigen könne, dass die eigene Nachlässigkeit gewollt ist.
Der verstorbene Apple-Gründer Steve Jobs erhielt postum das Etikett des Trendsetters. Seine Uniform bestand aus einem schwarzen Rollkragenpullover, einer ausgewaschenen Levi’s 501 und ausgelatschten Turnschuhen von New Balance. Ein Mainstream Look. Doch Jobs überließ in puncto Garderobe nichts dem Zufall. Er trug nicht x-beliebige Rollis, sondern ausschließlich ein Modell von Issey Miyake. Der japanische Designer fertigte für Jobs mehr als 100 identische schwarze Pullover an.
Euphorisch verkündeten Journalisten, dass nun Normalos wie sie, nein, jeder „in“ ist. Mitnichten. Der ambitionierte Normcorer – der Modefan, nicht der Idealist – trägt bestimmte Marken und Kombinationen. Sein Ziel ist nicht die komplette Auflösung in der Masse, sondern lediglich eine Angleichung an sie, um eine Chiffre zu erschaffen, die nur für Insider zu lesen ist. Marken, die für Funktionalität stehen, erfreuen sich bei ihnen großer Beliebtheit. Daunenjacken von The North Face, Fleece-Pullover von Patagonia und Wandersandalen von Teva. Der US-amerikanische Hersteller entwickelt mit dem schicken New Yorker Concept-Store „Opening Ceremony“ eine Kollektion. The North Face, Weltmarktführer für Outdoor-Bekleidung, arbeitet seit einigen Jahren mit der beliebten Streetwear-Marke Supreme zusammen.
Neben Obamas Karotten-Jeans gehört die Kombination von Socken und Sandalen zum modernen Look. Lange Zeit galt sie als Zeichen von Stillosigkeit. Doch schon seit zwei Jahren propagieren ihn Marken wie Raf Simons, Miuccia Prada oder Bernhard Willhelm auf dem Laufsteg. Normcore ist damit wie sein modischer Vorgänger Anti-Fashion. Bei den Hipstern zählten dazu die entstellenden Hornbrillen und Bärte, im Normcore sind es die Dreiviertelhosen, denen es unter Garantie gelingt, die unschöne Seite eines jeden Männerbeins hervorzubringen.
Socken und Sandalen. Daran wird deutlich, dass es im Normcore nicht ernsthaft darum geht, die „normale Gesellschaft“ zu kopieren, sondern eine Hardcore-Version von ihr abzubilden. Die Kombination selbst ist ja ein Zitat: ein Relikt aus der Vergangenheit. Der Tourist im Italienurlaub trägt das nicht mehr. Das ist natürlich nicht schlimm, denn zumindest zwei Dinge verdanken wir diesem Trend bereits: den Tod des Hipsters – und dass Papi endlich auch mal cool sein darf.
Die Autoren sind Gründer des renommierten Modeblogs Dandydiary: www.dandydiary.de
Jakob Haupt, David Roth
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