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Die Räumung der Liebig 34 am Freitag gilt vielen als Symbol dafür, dass Freiräume in der Stadt mehr und mehr verschwinden.
© JeanMW / imago

Räumung des Berliner Hausprojekts „Liebig34“: Für die einen Symbol der Freiheit, für die anderen Epizentrum der Krawalle

Mit der Räumung der „Liebig34“ wächst in der linken Szene Berlins das Gefühl der Ohnmacht – und der Wut. Unterstützer wollen Chaos, die Polizei rüstet auf.

Für die einen ist es ein Zuhause, ein sicherer Rückzugsort, ein Platz des Austauschs unter Gleichgesinnten. Für die anderen ist es eine Hochburg der linksautonomen Szene, Sammelbecken gewaltbereiter Radikaler, rechtsfreier Raum. Wenn an diesem Freitag, den 9. Oktober, das Haus in der Liebigstraße 34 in Friedrichshain – wohl unter massiven Protesten – geräumt wird, prallen zwei Welten aufeinander.

Da sind jene, die seit rund 30 Jahren in, um und mit dem Haus leben. 1990, kurz nach der Wende, wurde das Haus erstmals besetzt und kurz darauf mit Mietverträgen legalisiert. 28 Jahre lang war es eher still um die „Liebig 34“, seit 1999 ein selbsterklärtes „anarcha-queer-feministisches Hausprojekt“, in dem Frauen, trans- und intersexuelle Menschen in wechselnder Konstellation zusammenleben.

Wenige Meter weiter, in der Rigaer Straße, sorgen Krawalle, Aufmärsche, aber auch lautstarke Partys immer wieder für Konflikte mit Behörden und Nachbarn. Einige Anwohner sprechen vom „Terror“ durch Linksradikale, berichten von „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“. Sie beschreiben beschmierte Türen und Fassaden, eingeworfene Fenster und zum Teil auch körperliche Attacken.

Andere Anwohner sympathisieren offen mit den Bewohnern der zum Teil legalen, zum Teil besetzten Hausprojekte im Kiez. „Hier zu leben ist besser als Kino“, sagt eine Anwohnerin, die sich selbst als linkspolitisch beschreibt. Sie schätze den „alternativen Vibe“ im Viertel, den es so woanders in Berlin kaum noch gebe.

Erzieher des angrenzenden Kinderladens „Rock’n’Roll Zwerge“ beschreiben ihr Verhältnis zu den Bewohnern der Hausprojekte als geprägt von „nachbarschaftlichem Umgang, Respekt und Herzlichkeit“, die Polizei sorge hingegen für „Belagerungszustände“ im Kiez, die die Kitakinder traumatisierten.

Als am 2. Februar 2011 das Hausprojekt in der Liebigstraße 14, schräg gegenüber der „Liebig 34“, geräumt wurde, rückten 2500 Polizisten mit Wasserwerfern, Hubschraubern und Räumfahrzeugen an. Tagelang lieferten sich Autonome und Polizisten Straßenschlachten, Barrikaden brannten, Pflastersteine flogen. Noch Jahre später veranstalteten Unterstützer aus der Szene „Zombieparaden“ zum Jahrestag der Räumung.

Rigaer Straße 94: „Epizentrum der Krawalle“

Als Epizentrum der Krawalle galt auch damals schon die teilbesetzte Rigaer Straße 94 wenige Meter weiter, um die Eigentümer, Anwälte, Bewohner und Bezirk seit Jahren streiten. Der Verfassungsschutz sieht das Haus als „zentrale Institution der gewaltbereiten autonomen Szene Berlins“, als „Szeneort mit bundesweiter Bedeutung“.

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Einen Teil der Bewohner ordnen Sicherheitsbehörden „dem harten Kern militanter Linksextremisten“ zu. Daneben wohnen aber auch in diesem Haus Menschen mit regulären Mietverträgen, die juristisch nicht auffällig sind.

Um die „Liebig 34“ blieb es auch damals eher still. Der Hausverein der Bewohnerinnen hatte, nach mehreren Eigentümerwechseln, 2008 einen zehnjährigen Pachtvertrag mit dem umstrittenen Immobilieninvestor Gijora Padovicz unterzeichnet. Dieser soll das Haus für 600.000 Euro erworben haben.

Schlagartig in den Fokus geriet die „Liebig 34“ dann, als Ende 2018 der Pachtvertrag auslief. Vermittlungsversuche des Baustadtrates Florian Schmidt (Grüne) scheiterten, der Vertrag wurde nicht verlängert. Die Bewohnerinnen blieben. Der Eigentümer klagte, nach mehreren Gerichtsterminen – die zum Teil eskalierten – stand am Ende der Räumungstitel.

Der Räumungstitel ist rechtskräftig

Der Titel ist rechtskräfitig, auch wenn die Bewohnerinnen diesen weiterhin für rechtswidrig halten. Sie verweisen auf einen falschen Bewohnerverein, gegen den sich das Urteil richtet. Tatsächlich hat der beklagte Verein das Haus an einen anderen mutmaßlichen Verein untervermietet.

Seit Wochen bereiten Bewohnerinnen, Unterstützer und Autonome aus halb Europa sich nun auf den Showdown mit der Polizei vor, den sogenannten „Tag X“. Unter diesem Titel rufen Autonome seit Jahren bei jeder Räumung eines linken Szeneobjektes zu größtmöglichem Chaos und Sachbeschädigungen auf. Das Motto: „Jede Räumung zum Desaster machen!“

In Chatgruppen wird zu „dezentralen Aktionen“ im gesamten Stadtgebiet aufgerufen, um den „Preis der Räumung in die Höhe“ zu treiben. In den vergangenen Tagen attackierten Autonome unter anderem ein Gericht, ein Polizeirevier, zündeten Autos und Kabel der S-Bahn an, stets mit Verweis auf die Räumung der „Liebig 34“.

Unterstützer kündigen größtmögliches Chaos an

Im Interview mit dem Tagesspiegel kündigte eine Bewohnerin bereits vor einigen Monaten Auseinandersetzungen ähnlich jenen bei der Räumung der „Liebig 14“ an. Sie sprach von einem „legitimen Recht auf Selbstverteidigung“ – das auch Gewalt nicht ausschließe – wenn der Staat das Recht von Immobilienspekulanten schütze statt jenes der Bewohnerinnen.

In einem Aufruf zu Protesten gegen die Räumung kündigen Unterstützer größtmögliches Chaos an: „Die direkte Konfrontation mit durchmilitarisierten Bullen können wir nicht gewinnen. Durch Überraschung können wir kurzzeitig erfolgreich sein“, heißt es da.

Bewohnerinnen und Unterstützer eint die Angst, einen weiteren Rückzugsort zu verlieren. In einer Stadt, die einst für linke Hausbesetzer, günstige Mieten und kreative Freiräume bekannt war, schwinden Hausprojekte, linke Kneipen, Rückzugsorte.

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Zuletzt wurde im August die linke Kiezkneipe „Syndikat“ in Neukölln nach über 30 Jahren geräumt. Gegen das Kneipenkollektiv der Kreuzberger „Meuterei“ und den besetzten Jugendclub „Potse“ in Schöneberg liegen Räumungstitel vor.

Für die Polizei geht es um Durchsetzung von Recht, für die Bewohner um ein Symbol von Freiheit

Mit jeder Räumung, jeder Kündigung wächst in der Szene das Gefühl der Ohnmacht, aber auch die Wut. Dennoch wäre es falsch anzunehmen, dass es die Linksautonomen gibt. Der sogenannte „linksmilitante Kern“ der „Rigaer 94“ etwa gilt bei Szenekennern und auch Verfassungsschützern als relativ isoliert.

Und auch die Polizei rüstet auf: Der gesamte Kiez rund um die „Liebig 34“ wurde bereits am Donnerstag zum „Sperrgebiet“ erklärt. Die Einsatzleitung plant mit mehreren Tausend Beamten, Wasserwerfern, Höhenrettern und Spezialeinsatzkommandos. Die Autonomen werten dies als „ersten Erfolg“ – denn die Räumung werde zur „teuersten“ seit 1990.

Für die Polizei geht es um die juristisch legitimierte Durchsetzung eines Räumungstitels. Für die Bewohnerinnen gewissermaßen um ihre Utopie des richtigen Lebens. „Die Liebig ist vor allem eins der Symbole einer Stadt, wie sie sein könnte, wenn wir sie selber gestalten dürften“, schreiben die Bewohnerinnen in einer Erklärung. Von diesen Symbolen bleiben nicht mehr viele.

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