Neukölln: Franziska Giffey: Optimismus im "Problembezirk"
Franziska Giffey ist seit einem Jahr Bürgermeisterin von Neukölln. Sie benennt die Probleme im Bezirk und versucht dennoch, Optimismus zu versprühen.
Kurz vor Elf, Puschkinzimmer im Rathaus Neukölln, die Lokalpresse vollständig versammelt, die Referenten in Bereitschaft, das Thema ungewöhnlich: „1 Jahr Bezirksbürgermeisterin Dr. Franziska Giffey - Bilanz und Ausblick.“ Dazu wird ein 16-seitiges Papier gereicht. Alles nur Wahlkampf oder was?
In den Berliner Bezirksfürstentümern wird selten Hof gehalten, die Chefs bescheiden sich als Spitze eines Kollektivs, riskieren selten Pressekonferenzen, aus Angst, dass niemand kommt. Glanz und Gloria überlässt man eher den Senatoren. Doch Neukölln tickt anders, dafür sorgte schon der einst bekannteste Bezirksbürgermeister Deutschlands, Heinz Buschkowsky, Giffeys politischer Ziehvater und Vorgänger im Amt. Giffey betritt den Raum, die One-Woman-Show beginnt. Sie wird 40 Minuten am Stück sprechen, alle Politikbereiche streifen, um keine Zahl verlegen sein, alle Nachfragen beantworten. Die Referenten bleiben stumm.
Ein attraktiver Brennpunktkiez
Die Lage in Kürze: Neukölln wird von seinen 800 Millionen Euro im Bezirkshaushalt 76 Prozent für Transfer- und Sozialleistungen ausgeben, zwölf Prozent fürs eigene Personal und einen Prozent fürs Bauen. Die Arbeitslosigkeit ist weiter hoch, 15 Prozent, die Beschäftigungsquote niedrig, 43 Prozent. Der Anteil der Hartz-IV-Empfänger bei den Unter-25-Jährigen liegt bei 41 Prozent, im Berliner Durchschnitt sind es 27 Prozent. Bei den Schulabgängern ohne Abschluss, bei der Zahl der Analphabeten im Bezirk sieht es nicht viel besser aus. Giffey versucht nicht, die Zahlen zu relativieren, sie setzt ihnen nur eine umfangreiche Tätigkeitsbilanz entgegen: Schulen werden neu gebaut, Integrationsprojekte vorangetrieben, eine Jugendberufsagentur eingerichtet, Personal aufgestockt.
Um die Verdrängung wegen steigender Mieten zu stoppen, plant das Bezirksamt fünf weitere Milieuschutzgebiete in Nord-Neukölln: Flughafen-/Donaustraße, Rixdorf, Rollberg/Körnerpark, Treptower Straße/Herzbergplatz, Silbersteinstraße. In der Silbersteinstraße ballten sich früher die sozialen Probleme, inzwischen komme es in einzelnen Gründerzeitbauten zu „enormen Mietsteigerungen“, sagt Giffey. Eine neue Form von Parallelgesellschaft ist entstanden: Hartzer mit Bierflasche neben Filmstudenten im dritten Semester.
Das hippe Neukölln, mit Startup-Gründern, italienischen Modedesignern und Leuten aus der Werbebranche. Die Wirtschaftsförderung habe alle Hände voll zu tun, sagt Giffey. Neukölln sei Brennpunktkiez und gleichzeitig hochattraktiv. Dazu präsentiert sie keine Zahlen, vertraut allein auf ihre Überzeugungskraft.
15 Sperrmüll-„Hotspots“
Beim nächsten Kapitel von „Bilanz und Ausblick“ steigen unvermutet Dynamik und Tonlage in Giffeys Stimme. Jetzt kommt etwas, das sie wirklich erregt: „Müll und Hundekacke“. Das sei der Standardsatz, wenn man Neu-Neuköllner frage, was sie denn so störe im neuen Kiez. „Neukölln liegt in der bezirklichen Müllstatistik ganz oben.“ 800 Tonnen illegal abgelagerter Sperrmüll seien 2015 von der BSR abgefahren worden. Die Verfolgung der Übeltäter ende meistens ohne Erfolg, von 500 Verfahren seien nur sieben abgeschlossen worden.
Ausgediente Kühlschränke und Sofas auf der Straße abzustellen, sei „Usus in Neukölln“. „Uns ist das peinlich, wenn wir Gäste haben, und es sieht derart aus.“ Da spricht die Politikerin Giffey als halte sie ihrem Sohn gerade eine Standpauke, weil er sein Zimmer nicht aufgeräumt hat. Das kommt von Herzen. In „Bilanz und Ausblick“, Seite 12, steht: „Das Bezirksamt will dennoch nicht resignieren und hat die konzentrierte AKTION ANTIMÜLL des Ordnungsamtes Neukölln gestartet.“
15 Sperrmüll-„Hotspots“ wurden ermittelt, bis auf wenige Ausnahmen alle in Nord-Neukölln. Die Rangliste beginnt mit den schlimmsten Top-Five: Warthestraße, Weserstraße, Schillerkiez, Stuttgarter Straße, Mittelbuschweg. Alle zwei Tage sollen Außendienstler diese fünf Stellen ablaufen und Müllfunde sofort melden. Die übrigen Müll-Spots würden einmal die Woche kontrolliert. Kritik aus der CDU, das würde alles nichts bringen und man solle doch einfach Videokameras aufstellen, weist Giffey zurück. „Die Leute müssen ihr Verhalten ändern.“
Nicht viel habe sich verändert
Die Audienz ist auch nach einer Stunde noch längst nicht vorbei. Bildung, Notunterkünfte, kriminelle Großfamilien, Intensivtäter, Schrottimmobilien. Giffey lässt nichts aus. Selbst die Kitapflicht, für die ihr Vorgänger parteintern heftig gescholten wurde, hat sie nicht vergessen. Sie nennt das vergiftete Wort einfach „verbindlicher Kitabesuch“. Auch über zu wenige Sprachkurse für Flüchtlinge echauffiert sie sich. Man müsse sich halt fragen, wem man ihre Integration überlasse, staatlichen Institutionen oder arabischen Großfamilien. Das sitzt.
Vor einem Jahr, als sie Chefin wurde, habe sich eigentlich nicht viel verändert, sagt Giffey. Buschkowskys Büroeinrichtung inklusive Mitarbeiter habe sie einfach übernommen – „never change a winning team“. Die „Ánschauung vor Ort“ sei ihr wichtig, ganz im Sinne ihres Vorgängers, daher die vielen Außentermine, fast 400. Sie sei ja ein „Freund der Schwarmintelligenz“, sagt sie dann, „wenn mir 100 Leute sagen, wir haben ein Problem, ist es sehr wahrscheinlich, dass wir eins haben.“ Das nennt man wohl gelebte Demokratie.