Videoüberwachung in Berlin: Filmt mich doch!
Kameras verhindern keine Straftaten? Wer das sagt, glaubt nicht an unser Rechtssystem. Es ist Zeit, dass auch wir Überwachungsskeptiker die Dinge weniger dogmatisch sehen. Ein Kommentar.
Sommer 2017, S-Bahnhof Neukölln, spätabends. Lukasz W., 29, wartet auf die Ringbahn, als ein Mann an ihm vorbeiläuft. Der holt aus, zerschmettert eine Wodkaflasche auf seinem Kopf. Lukasz W. stürzt, wird von der einfahrenden Bahn mitgeschleift. Er kommt mit schwersten Verletzungen ins Krankenhaus, der mutmaßliche Täter wird vor Ort gefasst. Ein Kumpel des Mannes behauptet, der Verdächtige habe auch im Oktober am U-Bahnhof Hermannstraße eine Frau brutal die Treppe hinuntergetreten. Die Polizei versucht, das nachzuweisen. Vergeblich.
Herbst 2017, Spandau. Lucy G., 19, ist kurz vor Mitternacht auf dem Heimweg. Ein Mann zerrt sie in einen Park, vergewaltigt sie. Die Täterbeschreibung ähnelt der einer versuchten Vergewaltigung im September 2016. Die Ermittlungen bleiben erfolglos.
Videoüberwachung verhindert keine Straftaten? Diese vielleicht schon. Der mutmaßliche Täter vom U-Bahnhof Hermannstraße wurde dank Bildern aus einer Überwachungskamera festgenommen, genauso wie der Mann, der versucht haben soll, eine 15-Jährige in einem Hauseingang zu vergewaltigen. Die Mär aber, dass mit Kameras nichts gegen derartige Vorfälle auszurichten sei, gilt noch immer als ernstzunehmendes Argument.
Hält Pop die Idee, dass Strafe resozialisierend wirken kann, für so weltfremd?
Vor wenigen Tagen erst hat Wirtschaftssenatorin Ramona Pop im Tagesspiegel-Interview genau das gesagt: „Videoüberwachung verhindert keine Straftaten. Sie kann Ermittlungserfolge liefern.“ Glaubt sie tatsächlich, dass unter den Gewalttätern, die mithilfe von Bildern aus Überwachungskameras gefasst und verurteilt werden, keiner ist, der fortan Taten nicht begeht, die er sonst begangen hätte? Oder hält sie die Idee, dass Strafe resozialisierend wirken kann, für so weltfremd?
Die Videoüberwachung „auf das Nötigste“ zu beschränken versprach die Linkspartei in ihrem Wahlprogramm. Aber was ist das Nötigste? Laut Statistik können sich Berlinerinnen und Berliner sicher fühlen, tags wie nachts, fast überall in der Stadt. Kommt es deshalb auf die schweren Gewalttaten, die es eben doch gibt, nicht so richtig an? Natürlich nicht. Aber immer wieder ist zu hören, man müsse deren Zahl in Relation setzen zur Unüberschaubarkeit der Millionenstadt Berlin. Welch Zynismus gegenüber den Opfern.
Es passiert was mit dem persönlichen (Un-)Sicherheitsgefühl
„Wir wollen, dass sich alle Berliner*innen bei sich zu Hause und in der ganzen Stadt sicher fühlen“, hieß es bei den Grünen im Wahlprogramm. Erwischt! Wenn die Grünen mit Gefühl argumentieren, darf ich es auch. Ja, eine Tat wie die am U-Bahnhof Hermannstraße macht was mit dem persönlichen (Un-)Sicherheitsgefühl. Ja, ich habe mich in den Tagen, nachdem das Überwachungsvideo öffentlich wurde, einmal mehr umgeschaut, wenn ich abends mit der U-Bahn unterwegs war. Das war bestimmt Quatsch. Aber mein Bauchgefühl versteht sich nicht auf Statistik. Und dass mein Konterfei vorübergehend auf einem BVG-Video landet, bringt mein eigentlich durchaus bürgerrechtsbewegtes Herz irgendwie weniger zum Klopfen als die Vorstellung, miesen Typen auf dem Heimweg zu begegnen, wenn sie schon verurteilt und in Haft sein könnten.
Noch absurder wird es, wenn die Polizei wie nach dem Anschlag am Breitscheidplatz Augenzeugen bitten muss, Handy-Fotos und -Videos zur Verfügung zu stellen. Der Bürger ist als Hilfssheriff willkommen, damit die Polizei bloß keine eigenen Überwachungsvideos zur Verfügung hat? Das muss man nicht verstehen. Trotzdem hat sich Rot-Rot-Grün jüngst dagegen entschieden, dort dauerhaft Kameras zu installieren, wo erwiesenermaßen besonders viele Straftaten passieren. Dabei wäre genau das eine vernünftige – und gut zu vermittelnde – Art, Datenschutz und Sicherheit gegeneinander abzuwägen. Und so mancher Bürger würde sich im öffentlichen Raum wohler fühlen.
Natürlich muss Politik mehr tun, als Bauchgefühl zur Grundlage ihrer Entscheidungen zu machen. Ja, es gibt ernstzunehmende Argumente gegen Videoüberwachung, und eine Anti-Schurken-Wunderwaffe ist die auch nicht. Aber die Behauptung, Videoüberwachung verhindere keine Straftaten, gehört dringend aus der öffentlichen Debatte gestrichen. Das ist nämlich schlicht Unfug.
Dieser Text erschien am 14. Januar 2017 als Rant in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin.
Berlin debattiert über Videoüberwachung. Der rot-rot-grüne Senat will sie auf wenige Fälle begrenzen. Lesen Sie hier ein Interview mit dem Kriminologen Claudius Ohder zur Frage, ob mehr Kameras die Sicherheit erhöhen.