Pflege-Betrug in Berlin: Falsche Pflegefälle kosten Sozialkasse 50 Millionen Euro
Pflegedienste sollen in großem Stil an Betrugsfällen beteiligt sein. Besonders russische Berliner fallen dabei auf, sagt der Sozialstadtrat von Mitte. Berlinweit schätzt er den finanziellen Schaden auf 50 Millionen Euro.
Herr C., gebürtiger Russe, stand vor einem Jahr auf einer Berliner Bühne. Er fiedelte, sang und tanzte, zu sehen in einer Videoaufnahme. Gleichzeitig war Herr C. ein Pflegefall mit „massiven Bewegungseinschränkungen“. Er musste gekämmt, gewaschen, rasiert und zum Arzt begleitet werden. So stand es in den Unterlagen des Pflegedienstes, der vom Sozialamt Mitte und einer Pflegekasse bezahlt wurde. Der Schaden allein im Sozialamt: 12.300 Euro.
Ein krasser Fall von Sozialbetrug. Kein Einzelfall, wie Mittes Sozialstadtrat Stephan von Dassel (Grüne) am Donnerstag der Presse erklärte. Inzwischen ermittelt die Polizei berlinweit in 223 Fällen gegen 154 Pflegedienste. Wegen Aufdeckung von Betrugsfällen und verschärften Kontrollen, ob Leistungen überhaupt benötigt werden, seien die Ausgaben für ambulante Pflege 2014 um sechs Millionen auf 24 Millionen Euro gesunken. In Mitte. In der gesamten Stadt seien die Ausgaben weiter gestiegen. Von Dassel schätzt den Schaden durch Betrugsfälle auf 50 Millionen Euro im Jahr.
Russische Berliner werden sieben Mal häufiger zum Pflegefall als der Durchschnitt
Zu den Übeltätern gehören in Mitte vor allem Einwanderer aus Russland und der Türkei. Das ließ sich allein aus den Daten des Sozialamtes herleiten. Menschen mit russischem Pass oder Geburtsort in den ehemaligen Sowjetunion waren sieben Mal häufiger pflegebedürftig als der Durchschnitt. Und knapp zehn Jahre jünger. Bei den türkischen Patienten wurde der Faktor fünf ermittelt. Eine Häufung, die sich kaum durch kulturelle oder soziale Faktoren erklären lässt.
Nach den Recherchen des Bezirksamtes arbeiten 80 von 100 russischen Pflegediensten im Bezirk „unseriös“. Oft bildeten russische Ärzte, Patienten und Pflegedienste ein „geschlossenes Kartell“, das sich nach außen abgrenze. Einzelne Pflegedienste würden allein zum Abkassieren von Sozialleistungen gegründet. Steht eine Kontrolle durch das Sozialamt an, werde der angebliche Pflegefall aufwendig inszeniert – mit Bandagen, Rollator, Windeln und viel Wehklagen. Eine große schauspielerische Leistung wie beim Herrn C.
Ein 70-jähriger Pflegepatient wurde kerngesund angetroffen
In diesem Fall wurde der Betrug ganz einfach durch das Googeln des Namens aufgedeckt. Ähnlich lief es bei einem 70-Jährigen aus der Ukraine. Bei den Hausbesuchen fiel auf, dass er immer Wollmütze und Mundschutz trug und angeblich kein Wort Deutsch sprach. Im Internet fand sich derselbe Mann, aktiv in politischen Foren, in deutscher Sprache. Das Sozialamt schaltete die Polizei ein, die den Mann zu Hause kerngesund antraf.
Viele der Anzeigen führen zwar dazu, dass Leistungen gestrichen und Gelder – oft in fünfstelliger Höhe – zurückgefordert werden, aber gerichtsfest ließe sich der Betrug oft nicht dokumentieren. Das liegt nach Ansicht von Dassels auch an der Staatsanwaltschaft, die bislang kein auf Pflegebetrug spezialisiertes Team habe.
Parallel zum polizeilichen Besuch beim Pflegefall aus der Ukraine wurde auch sein Pflegedienst „Herz & Seele“ durchsucht. Dabei fanden sich nach Angaben des Bezirksamtes „Schwarzakten im Hinterzimmer“. Die Einnahmen teilten sich der angebliche Patient und der Pflegedienst. Oft gehören Mitarbeiter und Patient zur selben Familie und leben im gleichen Haus.
Sechs Mitarbeiter kontrollieren 300 Pflegedienste
Sechs Mitarbeiter im Sozialamt kümmern sich um die Kontrolle der 300 Pflegedienste im Bezirk. Verdacht schöpfen sie, wenn Tourenpläne einer Pflegehelferin auffällig erscheinen oder es angeblich keine Angehörigen gibt, die mithelfen könnten. Beim Kontrollieren eines Reisepasses fiel auf, dass der bettlägrige Patient des Öfteren Reisen in die alte Heimat unternahm. In einem anderen Fall wurden Pflegeleistungen während einer Kreuzfahrt abgerechnet.
Von Dassel fordert nun, von Pflegekräften ein polizeiliches Führungszeugnis anzufordern und den Abgleich von Daten zwischen Sozialämtern und Pflegekassen zu verbessern. Dazu gab es bereits 2013 eine Vereinbarung auf Landesebene. Allerdings stehe man bei der Vernetzung der Kostenträger noch ganz am Anfang.