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Blick in die neue Zentralbibliothek der Humboldt-Universität. Die Freiheit der Wissenschaft musste in beiden Teilen Berlins immer wieder hart erkämpft werden.
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Wissenschaft in Berlin: Exzellent gemacht

Kalter Krieg und Systemkonkurrenz, Studentenproteste und Existenzängste: Die Freiheit der Wissenschaft musste in beiden Teilen Berlins immer wieder hart erkämpft werden – bis zur heutigen Erfolgsstory war es ein weiter Weg.

Am Nachmittag des 17. Oktober 2005 schiebt Dieter Lenzen, der damalige Präsident der Freien Universität, den Physiker Stephen Hawking im Rollstuhl durch die Rostlaube. Kameraleute und Fotografen drängeln sich an die beiden heran, in drei brechend vollen Hörsälen wartet das Publikum auf den Weltstar der Astrophysik.

Stephen Hawking an der FU – der Besuch des „Master of the Universe“ soll symbolisch einen Wendepunkt markieren: Die FU will wissenschaftlich ganz oben mitmischen. „Wir sind die Besten!“, formuliert Präsident Lenzen in jener Zeit. Eine verwegene Behauptung. Der FU haftet der Ruf einer krank gesparten Massenuni an. Und sie steht im Schatten der Humboldt-Universität.

Doch zwei Jahre nach Hawkings Auftritt kommt es tatsächlich zu einer Überraschung: Die FU siegt als erste Berliner Uni im dramatischen Exzellenzwettbewerb. Im FU-Präsidium legen sie Beethovens Neunte auf. „Schon gehört? Wir sind Elite“!, ruft eine Romanistikprofessorin und rennt von Tür zu Tür.

Angesehene Fachgebiete wurden eingestampft

In Deutschland ist jetzt klar, dass mit Berlins Wissenschaft zu rechnen ist. Auch der Berliner Politik dämmert etwas. Seit dem Mauerfall haben Regierungen jeder Couleur die Hochschulen als Sparmasse betrachtet. Die Freie Universität und die TU Berlin büßten fast die Hälfte ihrer Professuren ein, während die Seminare überliefen, wurden angesehene Fachgebiete eingestampft. Nun, im Exzellenzwettbewerb, strahlen die Unis plötzlich Glanz aus, in dem die Politik sich sonnen kann.Auch für den Tagesspiegel ist Berlins Erfolg im Exzellenzwettbewerb ein besonderer Moment. Schließlich hat er die Berliner Unis jahrzehntelang durch Höhen und Tiefen begleitet. Als der Tagesspiegel 1945 gegründet wird, liegt Berlins einst weltberühmte Wissenschaft in Schutt und Asche. „Ein erschütternd Bild!“, schreibt er über den Zustand der Universität.

Im Januar 1946 wird der Lehrbetrieb Unter den Linden wieder aufgenommen. Tagesspiegel-Mitgründer Edwin Redslob erklärt in einem Artikel anlässlich der Eröffnung seine „Sehnsucht nach Erbarmen, Liebe und Gnade“ und beschwört „die Wiedergeburt des Menschen durch Menschlichkeit“.

Pläne zur Gründung einer freien Universität

Nur ein Drittel der Räumlichkeiten kann genutzt werden. Hatte die Uni früher 14 000 Studenten und einen Lehrkörper von 2000 Personen, startet sie nun mit 3200 Studienplätzen und 250 Lehrkräften – zwei Drittel der Bewerber können nicht zugelassen werden. Kühe weiden im Garten der Berliner Universität. Die Studentinnen und Studenten bringen Klappstühle und Glühbirnen mit in die Vorlesungen, aber Hefte gibt es nicht.

Auch vermissen die Studierenden „das Rückenmark“ der Uni, ihr „philosophisches Gerüst“: „Die Universität ersteht wieder, aber die universitas, die geistige Substanz, liegt noch unter Trümmern“, erklärt der Tagesspiegel.

Bevor sich die Berliner Universität aber geistig aus den Ruinen erheben kann, beginnt für sie die nächste Diktatur. Zwar führt sie den neuen Namen Humboldt-Universität, offiziell seit 1949. Doch unter der Sowjetischen Militäradministration wird sie eine kommunistische Hochschule. Missliebige Studenten und Dozenten werden ausgeschlossen, bespitzelt, verschleppt, zu langjähriger Zwangsarbeit verurteilt, erschossen. Das Tagesspiegel-Archiv muss 1948 eine eigene Rubrik „Disziplinierungsverfahren“ einrichten.

Zu dieser Zeit konkretisieren sich die Pläne zur Gründung einer freien Universität in West-Berlin. Der Ruf danach ist aber schon viel früher laut geworden. So berichtet der Tagesspiegel am 1. November 1946 über sechs „SPD-Studenten“, die aus politischen Gründen an der Berliner Universität nicht zugelassen wurden.

Es fehlt an Dozenten, Büchern, Instrumenten

Sie fordern, die Universität „aus dem Zonenverband zu lösen und dem Berliner Magistrat zu unterstellen“. Andernfalls würden sie eine neue Universität in Berlin verlangen. „Die von studentischen Kreisen der Universität Berlin erhobene Forderung nach einer neuen Universität wird vom Landesverband der SPD Berlin unterstützt“, ist in der Meldung zu lesen.

Am 19. November 1946 verwahrt sich die „Berliner Zeitung“ im sowjetischen Sektor gegen die Idee einer neuen Universität: „Die Vorstöße gewisser westlicher Kreise gegen die Universität Berlin wollen nicht aufhören. Sie gefallen sich darin, von einer ,Krise der Universität’ zu reden, was durchaus unsinnig ist (…). Aus diesem Grunde ist es auch ganz abwegig, die Gründung einer zweiten Berliner Universität zu verlangen.

Das ist schon in materieller Hinsicht eine Ungeheuerlichkeit. Die Technische Hochschule Charlottenburg ringt selber noch mit den größten Kalamitäten. Dächer und Fenster sind mit wenigen Ausnahmen noch offen, es fehlt an Dozenten, Büchern, Instrumenten usw. Wie will man auf die noch vorhandenen Ruinen eine zweite Hochschule aufpfropfen?“

Mitte der sechziger Jahre wird es unruhig

Aber am 4. Dezember 1948, im Blockadewinter, ist es so weit. Die FU wird feierlich im Steglitzer Titania-Palast gegründet. Schon im April 1949 erklärt die „Berliner Zeitung“ im Ostsektor die Neugründung jedoch für gescheitert, denn die finanziellen Mittel würden „an keiner Stelle“ reichen: „Die ,Freie Universität’ geht zugrunde – es ist nicht schade um sie.“

Mit dem Mauerbau ist die Humboldt-Universität für den Tagesspiegel schwer zugänglich. Manches erfährt er über sie aus dem „Neuen Deutschland“ oder von der „Zonen-Agentur ADN“. So ist etwa im Januar 1966 zu lesen, die Humboldt-Universität habe eine Vereinbarung zur Einführung der Wehrerziehung „als festem Bestandteil der sozialistischen Erziehung“ unterzeichnet.

Mitte der sechziger Jahre wird es unruhig an den West-Berliner Unis. Ihre Studierenden nehmen an Demonstrationen auf dem Wittenbergplatz und auf dem Kurfürstendamm teil, es kommt zu Krawallen. Am 2. Juni 1967 wird der FU-Student Benno Ohnesorg bei einer Demonstration gegen den Schah an der Deutschen Oper erschossen, am 11. April 1968 ein Attentat auf den FU-Studenten Rudi Dutschke verübt.

Abschlüsse werden nicht mehr anerkannt

„Linke und Konservative stehen sich jetzt an der FU unversöhnlicher als zuvor gegenüber“, schreibt Tagesspiegel-Redakteur Uwe Schlicht am 13. August 1970 über die FU: Die straff organisierten studentischen „Roten Zellen“ versuchten, „Marxisten auf Tutoren-, Assistenten- und Hochschullehrerstellen zu bringen“. Mit „go-ins“ störten sie Veranstaltungen. So seien unlängst Seminare von Wissenschaftlern gesprengt worden, die für die Einstellung von zwei Assistenten im Fach Altenglisch gestimmt hatten.

Auf der anderen Seite steht die strikt antikommunistische „Notgemeinschaft für eine freie Universität“. Sie vermittelt in der Öffentlichkeit den Eindruck, an der Freien Universität sei ein normaler Betrieb nicht mehr möglich. FU-Studierende müssten damit rechnen, dass ihre Abschlüsse von der Industrie nicht mehr als vollwertig anerkannt werden. Der TU gelinge es nicht mehr, Ordentliche Professoren zu berufen.

Die Mauer fällt

Im November 1976 berichtet der Tagesspiegel: „Die in Westdeutschland noch immer verbreitete Einschätzung der Freien Universität als links hält FU-Präsident Kreibich ,heute für schlichtweg falsch’.“ Die FU sei eine „,im wesentlichen normal arbeitende Hochschule mit teilweise sehr guten Leistungen’“. Tatsächlich beginnen politische Auseinandersetzungen in der Berichterstattung des Tagesspiegels in den Hintergrund zu treten.

Ende Oktober 1989. Die Mauer steht noch. Aber die Fraktion der Alternativen Liste (AL) lädt Wissenschaftlerinnen der Humboldt-Universität nach West-Berlin ein, „um über ,Leben und Darstellung von Frauen in der DDR’ zu diskutieren“. „Ja“, sagt eine von ihnen, „der Genosse Krenz führt jetzt viele Gespräche, aber nur mit Männern.“ Tagesspiegel-Redakteurin Dorothee Nolte erklärt: „Denn auch in einem Staat, in dem – Wunschvorstellungen westlicher Feministinnen gemäß – fast alle Frauen berufstätig und vom Mann wirtschaftlich unabhängig sind, sind die Frauen von einer tatsächlichen Gleichstellung weit entfernt.“

Dann fällt die Mauer. Die Humboldt-Universität wird umgewälzt. Politisch als belastet geltende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden entlassen oder in den Ruhestand geschickt, aber auch positiv evaluierte Forscher müssen gehen oder kommen auf Überhanglisten. Die Humboldt-Universität muss massenhaft Stellen abbauen – von 5165 auf 3780 Beschäftigte.

An der FU geht die Existenzangst um

Der Vormarsch der Wessis im Lehrkörper führt zu Reibungen: „Fremde rücken in das Gebiet der indigenen Stammeskultur vor, sie übernehmen dort die Schlüsselpositionen der Häuptlinge und Medizinmänner, zerstören einheimische Traditionen, verkünden neue Riten“, schreibt der Ethnologieprofessor Wolfgang Kaschuba im März 1993 in einem Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“: „Ost meets West: Wie steht es da mit der Anrede der Neuen? Bleibt es beim ,Herrn Professor’ (meist sind es Herren) wie zu DDR-Zeiten? – Weshalb brauchen die Neuen unbedingt gleich neues Mobilar, besonders Sitzmöbel vom Typ ,Freischwinger’?“

Aber auch die Hochschulen in West-Berlin halten sich inzwischen für Verliererinnen der deutschen Einheit. Besonders die FU. Denn Berlins Wissenschaftssenator Manfred Erhardt (CDU) will die Humboldt-Universität zu Berlins Elite-Uni machen – neben der bloßen Massenuni FU. An der FU geht die Existenzangst um. „Muss die FU sterben, damit die HU leben kann?“, fragt sogar der FU-Asta.

Bis heute hält Konkurrenz an

Es ist der Beginn der bis heute anhaltenden Konkurrenz besonders von Freier Universität und Humboldt-Universität, die beide ein ähnliches Fächerspektrum haben, um die zu knappen Finanzmittel Berlins. Die jeweiligen Gründungsmythen werden dabei publikumswirksam gegeneinander in Stellung gebracht.

Wie etwa im Streit um die 29 Nobelpreise der alten Berliner Universität. Nicht nur die Humboldt-Universität, auch die FU dürfe sich im Shanghai-Ranking der weltbesten Unis mit den Preisträgern schmücken, verlangte der damalige FU-Präsident Lenzen: „Die FU ist die moralische Nachfolgerin (der alten Berliner Universität, d. Red.) und sonst keine.“

Es wird weiter debattiert und gestritten

Das war vor zehn Jahren. Und heute? Berlins Unis haben ihre Identitäten nach historischen Verwerfungen und schweren ideologischen Auseinandersetzungen geklärt und sich selbst auf den Begriff gebracht. Natürlich wird weiter debattiert und gestritten, dazu sind die Hochschulen schließlich auch da.

Sie stimulieren, wissenschaftlich wie politisch und wirtschaftlich. Das macht sie attraktiv. Eine Rekordzahl von 171 274 Studierenden ist an Berlins drei großen Unis, den vier Kunsthochschulen, sechs Fachhochschulen und 31 staatlich anerkannten privaten Hochschulen eingeschrieben. Diese sind eng vernetzt mit fast 70 außeruniversitären Instituten. Berlin ist damit Deutschlands größtes Wissenschaftszentrum, seine Unis sind im aktuellen Förderranking der Deutschen Forschungsgemeinschaft führend, inzwischen hat es auch die Humboldt-Universität unter die „Exzellenzunis“ geschafft. Die Geschichte der Berliner Unis ist zur Erfolgsgeschichte geworden. Wie das wohl weitergeht? Bestimmt wird es im Tagesspiegel stehen.

Dieser Text erscheint zum 70-jährigen Bestehen des Tagesspiegels. Lesen Sie weitere Beiträge zum Geburtstag auf unserer Themenseite.

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