Wie Schabowskis Zettel wieder auftauchte: „Es handelte sich nicht um Hehlerware“
Der Berliner Tränenpalast zeigt Günter Schabowskis Notizzettel. Direktor Mike Lukasch erzählt im Interview, wie das historische Dokument wieder aufgetaucht ist.
Vergangene Woche wurde der zweimillionste Besucher des Museums in der früheren Ausreisehalle der DDR begrüßt: ein Sechsjähriger mit seiner Familie aus München. Die Hälfte der Besucher kommt aus dem Ausland. Der Historiker Mike Lukasch ist Direktor des Tränenpalasts mit der Ausstellung zur deutschen Teilung und des Museums in der Kulturbrauerei zum DDR-Alltag in Berlin.
Der Notizzettel zur Pressekonferenz, bei der Günter Schabowski am 9. November 1989 versehentlich die Mauer öffnete, war bis 2015 verschollen. Ab Freitag ist er in Berlin im Tränenpalast zu sehen – wir zeigen ihn bereits hier im Original. Im Interview spricht Lukasch über seine Wiederentdeckung und erklärt, warum Tassen ins Museum gehören und Erlebnisse junger Syrer neue Perspektiven erfordern.
Herr Lukasch, die Szene, in der Günter Schabowski am 9. November „sofort, unverzüglich“ die Ausreise aus der DDR freigibt, hat sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Sein Notizzettel für die Pressekonferenz war verschollen. Wie ist das Haus der Geschichte an das Dokument gekommen?
Der Historiker Hermann Hertle hatte den Zettel noch in den Händen und eine Schwarz-Weiß-Kopie gemacht. Nur so wussten wir, dass es ihn überhaupt gibt. Der Zettel verschwand, auch Schabowski wusste nichts über seinen Verbleib. 2015 fragte jemand bei uns an, ob wir Interesse an zeithistorischen Dokumenten hätten, er sei im Besitz von „Schabowskis Zettel“. Darunter firmieren ja zwei Dinge: die handschriftlichen Notizen und der Ministerratsbeschluss mit der neuen Reiseregelung. Letzteres ist Weltdokumentenerbe. Angeboten wurde uns Schabowskis Notizzettel, der vor allem die Verwirrung dokumentiert. Da steht „Zeit“ gegen Ende, er will das erst ganz am Schluss verlesen, in der Hoffnung, dass keiner hinhört. Der Zettel ist eine super Ergänzung zur Reiseregelung, ein storytelling object.
Wie reagierten Sie auf das Angebot?
Wir waren skeptisch, ob es sich um das Original handelt. Das Bundesarchiv half uns, die Schrift mit anderen Vermerken von Schabowski abzugleichen. Als wir zu dem Schluss kamen, dass Papier und Handschrift korrekt sind, haben wir den Zettel für 25 000 Euro gekauft.
Wer war der geheimnisvolle Verkäufer?
Eine Privatperson, die Wert auf Anonymität legt. Wir haben Vertraulichkeit garantiert und stehen zu unserem Wort. Natürlich haben wir die Provenienz genau geprüft: Es handelte sich nicht um Hehlerware, sondern um ein seriöses Angebot.
25.000 Euro, viel Geld für etwas, das eigentlich Allgemeingut ist. Könnte der Staat da nicht enteignen?
Es ist ein privater Zettel, kein Regierungseigentum der DDR. Wonach bemisst sich der Wert eines solches Objekts? Es ist anders als bei Nofretete: Der Zettel bekommt seine Relevanz durch den Kontext: In einem Staat, in dem alles geplant war, gab es diese improvisierte, komplett verwirrende Pressekonferenz - die zweite in der DDR überhaupt, bei der Fragen von Journalisten aus aller Welt zugelassen waren. Auch das Video davon ist Weltdokumentenerbe.
Die entscheidende Frage wollen inzwischen mehrere Journalisten gestellt haben.
Nach dem jüngsten Stand hatte der italienische Journalist, der als Erster fragte, einen Tipp bekommen. Fest steht: Den Beteiligten war bewusst, es handelt sich um eine Sensationsmeldung. Vielleicht wollte Schabowski erst zum Schluss darauf kommen, um eine andere Regelung zu kaschieren, die drei Tage alt war. Heute das, morgen das: Man wollte den Eindruck vermeiden, es herrscht Chaos in der DDR. Eigentlich sollte es ab dem 10. November kontrolliert laufen, mit Pass und Registrierung. Das hätte keine wirkmächtigen Bilder mit Menschenmassen an den Grenzübergängen gegeben.
Es kam bekanntlich anders.
Nach der Pressekonferenz sind keineswegs alle sofort zur Grenze gerannt. Erst als die Westmedien immer wieder berichteten, die Mauer sei offen, sind die Leute gucken gegangen. Heute haben wir Twitter und Facebook, wir wissen gar nicht mehr, welche Macht Fernsehen und Radio hatten.
Trotzdem heißt es heute, Schabowski habe aus Versehen die Mauer geöffnet.
Wir brauchen Kristallisationspunkte wie diesen Zettel, denn der Umbruch 1989/90 ist ein komplexes Ereignis. Es waren nicht nur die Demonstrationen im Herbst, der Mauerfall, die Bürgerrechtsbewegungen und die 400 000 Menschen, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten. Ohne die internationalen Rahmenbedingungen - ohne Gorbatschow, Bush und die Umwälzungen in Osteuropa - wäre der Mauerfall nicht möglich gewesen. Auch die Wiedervereinigung folgte nicht zwangsläufig auf den Mauerfall, es gab etliche Wegmarken bis zum 3. Oktober 1990.
Was macht einen belanglosen Gegenstand eigentlich historisch bedeutsam?
Eine Porzellanfigur, ein Buch, eine Tasse können an sich wenig wert sein. Aber mit der Geschichte der Familie, die vor der Flucht 1952 ihr gutes Service auf dem Hof vergraben hat und das Geschirr 1990 wieder ausbuddelt, bekommt die Tasse Bedeutung – und ist im Tränenpalast ausgestellt.
Weil Politisches und Persönliches zusammenkommen?
Im Bonner Haus der Geschichte steht der Adenauer-Mercedes. Nicht weil Konrad Adenauer damit durch die Gegend fuhr, sondern wegen der symbolischen Bedeutung. Viele in Nachkriegsdeutschland hatten wenig Geld, aber niemand verübelte dem Kanzler das Auto. Deutschland sollte sich wieder auf Augenhöhe mit dem Ausland präsentieren: Der Mercedes erzählt vom Selbstverständnis und von den Sehnsüchten der Deutschen. Oder nehmen Sie die gewöhnliche Milchtüte aus der Tschernobyl-Zeit in der aktuellen Leipziger Ausstellung „Angst“. Mit dem Stempel „Unbedenklich“ steht sie ikonisch für die Panik der Monate nach dem Akw-Unfall.
Welche Objekte sind im Museum in der Kulturbrauerei die beliebtesten? Der Trabi mit dem Dachzelt?
Klar, aber er ist mehr als nur Folklore. Das Zelt auf dem Dach erinnert auch an das Unternehmertum in der DDR. Da hatte ein Privatmann all sein Erspartes investiert und Leute angestellt, damit seine Konstruktion quasi in Heimarbeit in Serie gehen konnte. Was der Staat irgendwie abnickte. Dann fällt die Mauer und sein Geschäft ist dahin. Oder die Ballettschuhe von Andrea Kathrin Loewig: Ohne die DDR beschönigen zu wollen, gehört zu den persönlichen Erinnerungen auch, dass ein Mädchen, deren Eltern in den VEB-Leuna-Werken arbeiteten, bei einer berühmten russischen Tänzerin Ballettunterricht nehmen konnte. Oder Michael Ballack, der über die Brigade des Vaters als Fußballer entdeckt wird: All das erzählt etwas über die Bindekräfte einer Diktatur.
Wie kommen Sie an solche Objekte?
Teils über Schenkungen, oft ist es Recherche, Zeitungslektüre. Im Tränenpalast ist eine S-Bahn-Karte zu sehen, die unmittelbar vor dem Mauerbau gelöst und nur auf der Hinfahrt abgestempelt wurde. Die Geschichte dazu las eine wissenschaftliche Mitarbeiterin in der „Zeit“: Eine Familie ist am 13. August 1961 auf West-Berlin-Besuch, hört vom Mauerbau und bleibt schweren Herzens im Westen. Das hat uns bewogen, Hartmut Lubomierski anzurufen. Er überließ uns die Fahrkarte und erzählt seine persönliche Geschichte in der Ausstellung.
Wenn dem Museum etwas angeboten wird, wann greifen Sie zu?
Natürlich melden sich Leute, die auf dem Dachboden was finden. Manch einer fing vor 30 Jahren an zu sammeln, was andere wegwarfen, vom Trabi bis zur Schrankwand. Alles raus, alles neu, so war das ja Anfang der 1990er Jahre. Oder es sind Familienerinnerungen, Dinge, an denen Emotionen hängen. Die Leute wollen es selber nicht wegwerfen – im Zweifel ist es ihnen lieber, wenn wir das tun. Aber wir sind kein Entrümpelungsunternehmen und müssen jedes Objekt genau prüfen. Auch Schenkungen kosten Geld, von der Prüfung bis zur Verwahrung. Gleichzeitig wissen wir um das Vertrauen, das die Menschen uns damit entgegenbringen. Wir holen ihr Eigentum gerne aus dem Depot, wenn sie es noch einmal sehen wollen.
Flöhen Sie eigentlich regelmäßig aus?
Nein. Immer wieder kommt die Frage, wie viele Objekte wir zeigen – mehr als 8000 in Bonn, Leipzig und Berlin – und wie viele im Depot sind: eine gute Million, davon 200.000 in Spandau. Brauchen wir das Stapelgeschirr von Margarete Jahny, reichen nicht drei Tassen? Nur wenn Sie 20 übereinander sehen, erschließt sich das Konzept der Designerin. Es ist nicht so einfach.
Gibt es Dinge, um die Sie sich bisher vergeblich bemüht haben?
Die Schreibmaschine von Helmut Kohl, auf der der Zehn-Punkte-Plan getippt wurde.
Und wer entscheidet, was ins Museum kommt?
Dass Zeitgeschichte ins Museum gehört, war lange nicht selbstverständlich. Zu der Zeit, als Helmut Kohl das Haus der Geschichte wollte, gingen viele Ausstellungen in Deutschland kaum über das Mittelalter hinaus. Als Historiker haben wir die Sammlungshoheit für unsere Stiftung, aber es gibt auch den wissenschaftlichen Beirat und einen Arbeitskreis mit Vertretern gesellschaftlicher Gruppen. Wir sammeln auch die Gegenwart, haben zum Beispiel einen Stahlträger des World Trade Center, weil 9/11 massive Folgen auch für Europa und Deutschland hatte. Oder wir schauen, dass wir von „Fridays for Future“ Flyer und Plakate bekommen.
Plakate ja, aber nicht Gretas Locke?
Nein, denn die Locke besagt nichts weiter. Bei der Strickjacke von Helmut Kohl und dem Pullunder von Michail Gorbatschow ist das anders. Sie trafen sich im Juli 1990 im Kaukasus, um die Entlassung der DDR aus dem Machtbereich der Sowjetunion zu verhandeln, informell, ohne Schlips und Kragen. Vielleicht hat es gerade deshalb geklappt.
Und welche Objekte zeigen Sie aus den Jahren nach dem Mauerfall?
Solche, die etwas über Aufbruch und Scheitern erzählen. Im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig stellen wir den Prototyp eines Porsche aus, die Rohkarosserie. Es war eine große Entscheidung von Porsche, mit dem Werk nach Leipzig zu gehen. Gleichzeitig gab es Firmenpleiten und viele Arbeitslose. Wir möchten beides ins Gespräch bringen, die blühenden Landschaften und die Schattenseiten des Umbruchs.
Schon wieder ein Auto.
Vielleicht stellen wir ja bald das letzte Auto ins Museum, wäre auch spannend… Im Tränenpalast ist es anders. Hier bleibt der Ort immer mit der Geschichte der Teilung verbunden. Wer früher an der Friedrichstraße die Grenze passierte, kann der nachgeborenen Generation vor Ort davon erzählen. Das Gebäude ist selber das Objekt, ein authentischer Ort, ähnlich wie der Kanzlerbungalow in Bonn oder das Palais Schaumburg.
Das Museum in der Kulturbrauerei liegt abseits der Touristenströme. Wer findet den Weg dorthin?
Im ersten Jahr nach der Eröffnung 2013 kamen 130.000 Besucher, dieses Jahr werden es voraussichtlich 190.000 sein. Als Museum der DDR- und Zeitgeschichte hat sich das Haus also etabliert, auch für die Jüngeren. Sie wollen wissen, woher sie kommen. Bei der Vorstellung von Johannes Nichelmanns Buch „Nachwendekinder“ sprach ein Podiumsteilnehmer vom „langen Schatten, der auf unserer Kindheit liegt“.
Verhalten die Besucher sich anders als in anderen Museen, weil sie all das selber erlebt haben?
Die eigene Lebenserfahrung ist bei Zeitgeschichte immer ein Thema. Deshalb bieten wir keine Führungen an, sondern Begleitungen. Das Gespräch ist entscheidend, das Multiperspektivische, die Balance zwischen den offiziellen und den keineswegs einheitlichen persönlichen DDR-Bildern. Es geht darum, das Leben in einer Diktatur von verschiedenen Seiten zu betrachten.
Zum Beispiel wie?
Eins unserer Exponate ist der Rasierapparat „Bebo Sher“ vom VEB Bergmann-Borsig. Den kennt jeder, der sich je in der DDR rasiert hat. Die ersten Apparate waren grauenhaft, die Barthaare wurden ausgerissen, eine blutige Sache. Dazu gibt es einen Bericht von 1952, auch den zeigen wir im Museum. Daraufhin beschäftigte sich eine ganze Abteilung mit dem Rasierer. In den Achtzigern wurde ein gutes Produkt daraus, das zufällig dem Braun-Rasierer aus dem Westen ähnelt. Aber es ist nicht ausgemacht, wer von wem abgeguckt hat. Allerdings veränderte sich der „Bebo Sher“ danach zehn Jahre lang nicht mehr, weshalb er auch den Stillstand in der DDR symbolisiert. Ein Frust, der seinen Anteil an der friedlichen Revolution hat.
Das größte DDR-Museum ist das private Museum in Mitte. Eine Riesen-Konkurrenz?
Ein anderer Ansatz, populärer, auch plakativer. Das Haus hatte den richtigen Riecher, als es den DDR-Alltag zu einem Zeitpunkt thematisierte, als alle über Repression und die Stasi diskutierten. Uns geht es weniger um das Gefühl für den Alltag mit all seinen Kuriositäten als um den Bildungsauftrag und den Dialog. Das Motto unserer Materialien lautet „Freiheit trotz Kontrolle“. Und im Gästebuch steht: „Danke, genau so war es“, aber jemand hat einen Pfeil darangemalt: „Überhaupt nicht, das ist hier Siegerpropaganda!“ Und ein Dritter widerspricht auch dem wieder.
Keiner hat die Deutungshoheit?
Wir alle müssen aufpassen, dass wir die Geschichte nicht von ihrem Ende her betrachten. Wer 1989 demonstrieren ging, konnte nicht sicher sein, dass die Waffen dauerhaft ruhen. Umgekehrt ändert die Geschichte sich auch aus der Perspektive der Gegenwart. Für deutsche Jugendliche spielt das Thema Grenze in ihrer Lebenserfahrung keine Rolle, das Notaufnahmelager Marienfelde kennen nur ältere Menschen. Aber für Jugendliche aus Syrien ist das Thema Flucht etwas sehr Persönliches. Sie schauen ganz anders auf den Passkontrollgang im Tränenpalast oder auf den einen Koffer, in den alles hineinpassen muss. Auch deshalb müssen sich unsere Ausstellungen permanent ändern: weil Geschichte immer wieder anders aktuell ist.
Ein Objekt wie der Schabowski-Zettel braucht bestimmte klimatische Bedingungen. Wie sieht eigentlich Ihre Klimabilanz aus?
Schwierig. Museen werden immer Energie aufwenden müssen, um in ihren Räumen für ein stabiles Klima zu sorgen. Das ist in einem historischen Gebäude wie dem Tränenpalast schwer möglich. Eigentlich würde der Zettel gut in diese Ausstellung passen, aber die Halle ist hell und nicht klimatisiert, das Papier lichtempfindlich. Es wäre grob fahrlässig, etwa den Solidarnosc-Wimpel, wegen dem Roland Jahn unter anderem verhaftet wurde, im Original auszustellen; zu sehen ist ein identisches Fähnchen. Der Schabowski-Zettel liegt jetzt geschützt in einer Vitrine. Zum Glück fiel die Mauer im November, die Sonne wird hoffentlich nicht ganz so oft scheinen. Wegen der Faszination des Originals zögern wir ein wenig, den Zettel als Faksimile zu zeigen. Aber wenn der Zettel wieder in Bonn ist – unter günstigeren Bedingungen –, wird es im Tränenpalast vielleicht auch künftig eine Kopie geben.