30 Jahre Mauerfall: Wer stellte Schabowski die alles entscheidende Frage?
"Nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich": Dieser Satz hat 1989 den Fall der Mauer ausgelöst. Wie es zu der Äußerung kam, ist bis heute strittig.
Würde der große Geschichtserzähler Stefan Zweig noch leben, er hätte den 9. November 1989 wohl längst in seine „Sternstunden der Menschheit“ aufgenommen: „Solche dramatisch geballten, solche schicksalsträchtigen Stunden, in denen eine zeitüberdauernde Entscheidung auf ein einziges Datum, eine einzige Stunde und oft nur eine Minute zusammengedrängt ist, sind selten im Leben eines Einzelnen und selten im Laufe der Geschichte.“ Zweifellos handelt es sich bei der legendären Pressekonferenz von Günter Schabowski um solch eine Ausnahmestunde. Sie fand im Internationalen Pressezentrum der DDR in der Mohrenstraße 36-37 statt und dauerte von 18 bis 19 Uhr, die entscheidenden Worte fielen kurz vor Schluss.
Ein gut erforschter Moment der deutschen Zeitgeschichte, sollte man meinen, und doch gibt es immer noch Streit um Details – in diesem Fall um die Frage, wer hier denn jener Einzelne war, der die Sternstunde auslöste? War es nur einer – oder war es das Zusammenspiel mehrerer Personen, ohne dass man haargenau trennen und klären könnte, wem denn nun ein Ehrenkranz zuzusprechen wäre?
Zwei ehemalige "Bild"-Reporter streiten sich um die Ehre
Wie berichtet, schwelt dazu ein alter, jetzt erneut ausgetragener Streit zwischen den beiden ehemaligen „Bild“-Korrespondenten Peter Brinkmann und Hennes Schulz. Sie beanspruchen jeweils eine entscheidende Rolle für sich und sprechen dem Rivalen jegliche Beteiligung ab. Beide suchen dies unter anderem mit den Bild- und Tonaufnahmen von der Pressekonferenz zu belegen. Zu ihr gibt es von dem Mauerfallspezialisten Hans-Hermann Hertle, Historiker am Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung, ein detailliertes Transkript mit jeweiliger Zuordnung der Fragen und Zwischenrufe. Brinkmann wird darin wiederholt genannt und hält das Transkript für korrekt. Schulz bleibt ungenannt und zweifelt die Darstellung an.
Die Pressekonferenz – nicht die komplette, aber die entscheidenden Passagen – findet man leicht im Netz, Quelle ist die beim Deutschen Rundfunkarchiv (DRA) in Potsdam lagernde Aufzeichnung der Übertragung des DDR-Fernsehens. Material anderer Sender gibt es dort nicht. Brinkmann erinnert sich, viele anwesende Kamerateams hätten ihre Geräte wegen des anfangs langweiligen Verlaufs der Pressekonferenz schon ausgeschaltet gehabt. Er weiß noch von einer angeblich in Moskau lagernden Aufzeichnung des russischen Fernsehens, kennt sie selbst aber nicht. Auch der West-Berliner SFB bediente sich damals beim Material von DDR1, über weitere Aufzeichnungen verfüge man nicht, ist beim RBB zu erfahren.
Als Quelle zur Rekonstruktion der historischen Minuten steht also neben den subjektiven, nach fast 30 Jahren nicht immer ganz lupenreinen Erinnerungen der Beteiligten und anderer Gewährspersonen nur die vergleichsweise objektive, allerdings ebenfalls nicht völlig ohne Interpretationen auswertbare TV-Aufzeichnung zur Verfügung. Manches lässt sich schon durch sorgfältiges und wiederholtes Ansehen der Passagen klären, anderes ließe sich ohne letzte Zweifel wohl nur durch elektronischen Vergleich des akustischen Fingerabdrucks von aktuellen Stimm- und historischen Tonproben klären, was vielleicht doch etwas viel Aufwand wäre. Auch ist fraglich, ob die Stimmen unverändert geblieben sind.
Nur einer ist in der TV-Aufzeichnung klar zu identifizieren
In der Aufzeichnung der Pressekonferenz ist Peter Brinkmann als Person klar zu identifizieren. Im früheren Verlauf der Pressekonferenz stellt er eine Frage nach der Pressefreiheit in der DDR, wird zuvor von Schabowski gebeten, sich vorzustellen. Man sieht genau, wo er sitzt: erste Reihe, äußerster Platz links vom Mittelgang, der aufs Podium zuführt. Schabowski sitzt dort in der Mitte. Neben Brinkmann saß der österreichische Journalist Werner Stanzl, es folgt ein weiterer Reporter, dessen Gesicht bei den kurzen Bildschwenks ins Pressepublikum vom Kameraobjektiv des neben ihm sitzenden Fotografen verdeckt wird. Der nicht mehr sichtbare Mann noch weiter links daneben müsste Hennes Schulz gewesen sein, der heute angibt, zwischen ihm und Brinkmann habe ein „Bild“-Fotograf gesessen.
Unstrittig ist immerhin, dass den Anstoß zur entscheidenden Phase der Pressekonferenz, eine knappe Viertelstunde vor ihrem Ende, der italienische Journalist Riccardo Ehrmann von der Nachrichtenagentur Ansa gibt, als er nach dem wenige Tage zuvor vorgestellten Reisegesetzentwurf der DDR fragt. Auch er ist klar identifizierbar, war etwas zu spät gekommen, sitzt unmittelbar unterhalb des Podiums. Schabowski hat zum Reisegesetz kurz vor der Pressekonferenz ein Papier von Egon Krenz, dem Generalsekretär der SED, zugesteckt bekommen. Es ist das Ergebnis der jüngsten Beratungen des Zentralkomitees, an denen Schabowski nur partiell teilgenommen hat. Dass eine Sperrfrist bis zum 10. November, 4 Uhr, besteht, hat Krenz ihm nicht gesagt. Den Inhalt der neuen Regelung fasst Schabowski in einem Tonfall zusammen, der so gar nicht zum sensationellen Inhalt passt: „Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.“
Im zuvor gelassen lauschenden Publikum wird es unruhig, Hertles Transkript verzeichnet „Stimmengewirr“, aus dem sich einige Fragen herauskristallisieren. Ehrmann, wieder klar identifizierbar, fragt zweimal „Ohne Pass?“, aus dem Off hört man die – von Hertle dem US-Journalisten Krzystof Janowski zugesprochene – Frage, ab wann das in Kraft trete. Schabowski scheint das akustisch nicht verstanden zu haben, fragt „Bitte?“, als von einem anderen Frager ein drängendes „Ab sofort? Ab…“ laut wird.
"Ab sofort?" wird aus dem Hintergrund gefragt
Und damit fängt der Streit um den jeweiligen Beitrag zu dieser Sternstunde auch schon an. Nach Schulz’ Erinnerung hat die Frage Ehrmann gestellt, Brinkmann dagegen versichert, er sei es gewesen. Das Video hilft hier weiter. Ehrmann ist es eindeutig nicht, man sieht keine Lippenbewegungen, und er wendet sich von Schabowski ab. Zwar kommt die „Ab sofort?“-Frage aus dem Off, doch ist Brinkmann zumindest indirekt als Urheber zu identifizieren: Eine Frau in weißer Bluse ist dazu abgestellt, das Mikrofon an den jeweiligen Fragesteller zu reichen. Im Moment der Frage wendet sie sich dorthin, wo Brinkmann sitzt, den das Mikrofon für seine kurze Frage aber nicht mehr erreicht.
"Wann tritt das in Kraft?"
Schabowski, erkennbar schlecht vorbereitet und überfragt, greift nach dem Krenz-Papier, das, wie er sagt, der Presse bereits vorliegen müsse, beginnt daraus vorzulesen. Dabei fällt zum ersten Mal das berühmte „unverzüglich“, es steht bereits im Papier: Visa zur ständigen Ausreise seien „unverzüglich“ zu erteilen.
Ehrmann stellt erneut die Pass-Frage, erhält eine ausweichende Antwort, dann will es der Journalist Ralph T. Niemeyer von der Agentur DAPA noch mal genau wissen, offenbar unzufrieden mit der bisherigen Antwort: „Wann tritt das in Kraft?“ Es folgt Schabowskis berühmte Antwort, die das Ende der DDR einläutet: „Das tritt… nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich…“ Hertle weist allerdings darauf hin, dass diese Zuordnung nur auf Niemeyers Angaben beruhe und weder er noch der ebenfalls damit befasste Marcus Walker vom „Wall Street Journal“ bis heute jemand finden konnten, „der sich daran erinnern könnte beziehungsweise dies bestätigt hätte“. Brinkmann oder Schulz dürften es schon deswegen nicht gewesen sein, weil Schabowski auf die Frage hin nach links blickt, während die beiden „Bild“-Männer von ihm aus gesehen rechts saßen.
Bis hierhin lässt sich der Streit um die Urheberschaft der Fragen also weitestgehend anhand der Fernsehaufzeichnung klären. Bleibt das bedeutsame, für den Verlauf des Abends in Berlin sogar entscheidende Detail, für welche Grenzkontrollstellen die neue Regelung denn gelten solle. Die erste Frage dazu – „Auch in Berlin?“ - ordnet Hertle dem US-Journalisten Janowski zu, Schabowski reagiert darauf aber nicht. Es folgen zwei weitere, die entscheidenden Fragen zum selben Aspekt, leicht abgewandelt, wie die erste Frage kommen sie aus dem Off: „Sie haben nur BRD gesagt, gilt das auch für West-Berlin?“ – „Gilt das auch für Berlin-West? Sie hatten nur BRD gesagt?“ Schabowski blickt erneut ins Papier: „Also, doch, doch: ,Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. Berlin-West erfolgen.‘“ Der weitere Ablauf des Abends ist bekannt.
Aber wer hat die beiden Fragen nach West-Berlin gestellt? Schulz versichert in einem Schreiben an den Tagesspiegel, er sei es gewesen, Brinkmann habe nur dabeigesessen. So hatte er es schon in einem 1999 erschienenen Begleitbuch zu einer ARD-Dokumentation über den Mauerfall (Hans-Hermann Hertle/Kathrin Elsner: Mein 9. November. Nicolai-Verlag) geschildert, Brinkmann habe die Bedeutung von Schabowskis Worten anfangs gar nicht mitbekommen.
Dieser versichert umgekehrt, Schulz habe keine einzige Frage gestellt, sondern er, Brinkmann, habe, und dies gleich zweimal, nach West-Berlin gefragt. Er beruft sich zudem auf Schabowski, der die Situation ihm gegenüber bildlich so zusammengefasst habe: Ehrmann schoss mit seiner Frage den Ball in den Strafraum, Brinkmann schoss ihn ins Tor. Nach Schilderung Brinkmanns habe Hertle ihn nach dem Stimmenvergleich fürs Transkript, bei dem er nicht dabei gewesen sei, direkt befragt, ob ihm die Fragen korrekt zugeordnet worden seien, das habe er bestätigt.
Hertle wiederum beantwortet die Frage nach dem Beitrag einzelner Journalisten zum Mauerfall heute fast salomonisch: „Sie haben alle zusammen einen in der Frage der Inkraftsetzung der neuen Reiseregelung unvorbereiteten Günter Schabowski dazu gebracht, aus der Regelung, die sich in seinen Unterlagen befand, vorzulesen… und darin fanden sich auch die ,Signal-Worte‘: ,ab sofort’ und ,unverzüglich‘.“
Für die Erstellung der Tonabschrift der letzten Minuten von Schabowskis Pressekonferenz habe er seinerzeit einiges an Mühe und Sorgfalt verwandt. Auf der Abschrift aufbauend habe Marcus Walker von „The Wall Street Journal“ später noch Lücken ausfüllen können, „unser Ergebnis ist weitgehend das gleiche.“ Brinkmann sei auf der Pressekonferenz recht aktiv gewesen, habe „gleich zwei Fragen gestellt (etwa um Minute 20 herum und erneut etwa um Minute 35), so kann man seinen Stimmklang mit den Zwischenrufen vergleichen“. Und warum taucht Schulz nicht im Transkript auf? „Weil ich seine Stimme in dem Mitschnitt der Pressekonferenz nicht zu erkennen vermochte, nicht identifizieren konnte und mir auch von dritter Seite keine Hinweise auf eine Frage oder Zurufe von ihm während der Pressekonferenz vom 9.11.1989 vorlagen.“
Das Transkript der Pressekonferenz findet man auf der Website www.chronik-der-mauer.de, einem Online-Angebot der Bundeszentrale für politische Bildung, des Zentrums für Zeithistorische Forschung und des Deutschlandfunks.
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