98-jähriger ehemaliger Zwangsarbeiter kann nicht nach Berlin kommen: Erinnern aus der Ferne
Der Italiener Ugo Brilli erlebte das Kriegsende als Zwangsarbeiter in Berlin. Nun sollte er zu einer Gedenkfeier kommen – wegen der Pandemie wird sie verschoben.
Die Sirenen ertönten um 10 Uhr morgens an einem Sonntag im März 1944. Der Bombenalarm war nicht der erste für Ugo Brilli. Die US Air Force griff seit Kurzem in Berlin auch am Tage an. Ihre Bomben trafen aber neben den Deutschen auch Opfer des NS-Regimes. Zum Beispiel Zwangsarbeiter wie Brilli. Etwa eine halbe Million Menschen musste während des Zweiten Weltkriegs im Berliner Stadtgebiet Zwangsarbeit leisten.
Brilli arbeitete in der Küche eines Zwangsarbeiterlagers in Weißensee, wo er mit anderen Italienern untergebracht war. Als er die Sirene hörte, füllte er einige Kessel mit Wasser. Das war Befehl. Denn sollten die Leitungen getroffen werden, musste auch danach weitergekocht werden. Dann lief er hinaus.
Dass er spät dran war, rettete ihm sein Leben. Brillis Freunde lagen schon in einem Splitterschutzgraben, etwas entfernt vom Gebäude. Sie riefen „Komm her!“. Doch Ugo Brilli hörte das Zischen von Bomben und suchte woanders Schutz. Schon krachte ein Sprengkörper mitten hinein in den Graben. 53 Männer waren auf der Stelle tot.
2012 beschrieb Ugo Brilli diesen schrecklichen Tag in einem Interview mit Historikerinnen: „Unsere Freunde auf diese Weise zerfetzt zu sehen, im Drahtzaun hängend. Das brachte uns zum Weinen“, sagte er. Doch das Grauen war noch nicht zu Ende. Mit Heugabeln und ihren bloßen Händen mussten Brilli und andere Überlebende die Überreste ihrer getöteten Freunde zusammenkratzen und auf einen Lkw werfen.
„Wer weiß, wo sie sie hingebracht haben?“, fragt der alte Mann. Dieses Lager habe sich damals an der Ecke Darßer Straße / Nachtalbenweg in Weißensee befunden, sagt der Historiker Niels Hölmer vom Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit. Am historischen Ort sollte eigentlich in dieser Woche eine Gedenktafel angebracht werden. Der heute 98-jährige Brilli wäre eigens angereist. Doch aufgrund der Coronavirus-Krise musste die Veranstaltung verschoben werden.
Brilli mit 21 Jahren zum Militärdienst in die italienische Armee eingezogen
Brilli lebt heute in der norditalienischen Gemeinde Campi Bisenzio. Er sei aufgrund des Virus seit drei Monaten isoliert in seinem Haus, schreibt der Sohn Carlo Brilli: „Mein Vater bedauert sehr, dass er nicht nach Berlin kommen konnte. Trotz seines hohen Alters ist er immer noch sehr klar im Kopf und erinnert sich an seine Vergangenheit.“
Mit 21 Jahren wurde Ugo Brilli, der in einfachen Verhältnissen in der Toskana aufgewachsen war, zum Militärdienst in Mussolinis Armee eingezogen. Seine Einheit kämpfte im Nordosten Italiens gegen Partisanen. Im Juli landeten die Alliierten auf Sizilien. Mussolini verlor den Rückhalt der faschistischen Partei. Der König entließ den „Duce“ als Ministerpräsidenten und steckte ihn ins Gefängnis.
Am 8. September verkündete der alliierte Oberkommandierende General Eisenhower in einer Rundfunkansprache die Kapitulation Italiens unter Mussolinis Nachfolger Pietro Badoglio.
Etwa 600.000 italienische Soldaten wurden verschleppt
Daraufhin nahm die Wehrmacht alle italienischen Soldaten fest, unter ihnen auch Ugo Brilli. Mussolini wurde von einer deutschen Eliteeinheit befreit und von Hitler an die Spitze eines Marionettenstaates befördert. Die Deutschen forderten die italienischen Soldaten auf, für Mussolinis sogenannte Republik von Salò weiterzukämpfen. Doch nur wenige ließen sich darauf ein. Alle anderen, etwa 600.000 Männer, wurden verschleppt.
Die deutsche Führung bezeichnete die Italiener als „Militärinternierte“ und verweigerte ihnen den Status von Kriegsgefangenen gemäß Genfer Konventionen. Sie mussten in der Kriegswirtschaft Zwangsarbeit leisten. Ugo Brilli wurde zunächst in ein Lager im brandenburgischen Luckenwalde gebracht. Von dort kam er nach Berlin, wo er bei Siemens Trümmer räumen musste.
Eine schwere Arbeit. Anfang 1944 kam er in das Zwangsarbeiterlager in Weißensee, wo er als Küchenhilfe arbeitete. Es gelang ihm, den deutschen Chef der Lagerküche mit Zigaretten zu bestechen. So bekam er etwas mehr Essen. Dennoch magerte Brilli von 71 Kilogramm zu Beginn seiner Gefangenschaft auf 48 kg an deren Ende ab.
Ugo Brilli hätte eine kurze Rede halten sollen
Die Italiener galten als Verräter und wurden von den Nazis besonders schlecht behandelt. Auch Zivilisten beteiligten sich daran. Auf den Straßen der Reichshauptstadt, zwischen Arbeitsstelle und Lager, seien die Italiener häufig beschimpft und geschlagen worden, erinnert sich Brilli.
Ab Ende 1944 war er im GBI-Lager Nr. 75/76 in Schöneweide untergebracht. Dort befindet sich heute das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit. Leiterin Christine Glauning arbeitet das fast vergessene Schicksal der Zwangsarbeiter in der Zeit des Nationalsozialismus auf. In dieser Woche sollte eigentlich eine neue Ausstellung eröffnet werden, sagt Glauning.
Ugo Brilli hätte eine kurze Rede gehalten. Doch alle Ausstellungsräume sind für den Publikumsverkehr geschlossen. „Wir versuchen, aus der Not eine Tugend zu machen“, sagt Glauning. Die Inhalte würden jetzt verstärkt über die sozialen Netzwerke vermittelt. Aktuell veröffentlicht das Zentrum zum Beispiel fortlaufend kurze Geschichten zur Befreiung der Zwangsarbeiterlager in einem Blog. Dieses Online-Projekt sei schon länger geplant gewesen, sagt Glauning, erhalte nun aber besondere Aufmerksamkeit.
Im September 1945 kehrte Brilli nach Italien zurück
Das Lager in Schöneweide verfügte als eines von wenigen seiner Art über einen Luftschutzkeller. Dort erlebte Brilli das Kriegsende. Nach der Befreiung durchsuchten die ausgehungerten Zwangsarbeiter die Keller der Nachbarschaft nach Essen. Die verängstigten Deutschen hinderten sie nicht.
Die Rote Armee brachte Brilli und etwa 50 weitere Italiener in ein anderes Lager, wo sie Maschinen demontieren mussten. Brilli erkrankte schwer an Typhus. Im September 1945 kehrte er zu seiner Familie nach Italien zurück.
Seit vielen Jahren engagiert sich Brilli für das Gedenken an die Zwangsarbeiter. Im Dezember erhielt er dafür das Bundesverdienstkreuz. Sein Sohn schreibt: „Mein Vater hofft, dass er den Besuch in Berlin nachholen kann, wenn diese Pandemie vorüber ist.“
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