Nationalsozialismus: Die Spuren der Zwangsarbeit in Berlin
Eine halbe Million Zwangsarbeiter musste während des Zweiten Weltkriegs in Berlin arbeiten. Eine Spurensuche in den Ortsteilen.
Am 28. April 1942 drängeln sich viele Menschen am Bahnhof der ukrainischen Stadt Charkiw. Es ist ein warmer Tag. Alexandra Abramowa trägt ein Sommerkleid und schicke Sandalen, die sie vor dem Krieg gekauft hat. Abramowa ist 22 Jahre alt, sie hofft darauf, Arbeit zu finden. Die meisten Betriebe in der Gegend sind geschlossen.
Kummer sind die Menschen hier gewöhnt. Hungersnot, stalinistischer Terror, Plünderungen. Als im November die Wehrmacht einmarschierte, glaubten viele, schlimmer könne es nicht mehr kommen.
Die Deutschen versprachen Lohn und Brot, forderten die Bevölkerung auf, sich zu einer Arbeitsbörse am Bahnhof einzufinden. Doch stattdessen fährt nun ein Güterzug ein. Alle müssen einsteigen. „Los! Los!“, brüllen die deutschen Soldaten. Als sie die Türen des Viehwagens verriegeln, ahnt Alexandra, dass es eine unheilvolle Reise wird.
So beschrieb die ehemalige Zwangsarbeiterin Alexandra Abramowa ihre Fahrt nach Berlin, als sie 2005 von Historikern interviewt wurde. Ihre Erinnerungen finden sich zusammen mit Hunderten weiterer Interviews im Online-Archiv „Zwangsarbeit 1939-1945“, das von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ und der Freien Universität Berlin betrieben wird.
„Im Zweiten Weltkrieg basierte die Berliner Wirtschaft zunehmend auf Zwangsarbeit“, sagt der Historiker Thomas Irmer. „Überall gibt es Spuren davon.“
Deutsche Männer mussten an die Front. Die NS-Behörden lieferten Ersatz für ihre Arbeitskraft: zuerst deutsche Juden, dann zivile Zwangsarbeiter aus West- und Osteuropa, Kriegsgefangene und zuletzt KZ-Häftlinge. In einem Durchgangslager in der Nordmarkstraße, der heutigen Fröbelstraße in Prenzlauer Berg, konnten Unternehmer Arbeitskräfte abholen. Auch viele kleine Betriebe nutzten die Gelegenheit.
„Insgesamt lebten etwa eine halbe Million Zwangsarbeiter in Berlin. Es gab mindestens 3000 Unterkünfte im Stadtgebiet“, sagt Christine Glauning, Leiterin des Dokumentationszentrums Zwangsarbeit. Weil die NS-Führung mit dem Bau von Barackenlagern nicht hinterhergekommen sei, habe man die Menschen auch in Lokale, Läden und Theater gesperrt. Das Hansa-Theater beispielsweise war so eine Unterkunft. Aber auch ganze Mietshäuser seien umfunktioniert worden. „Die Zwangsarbeiter gehörten zum alltäglichen Stadtbild“, sagt Glauning.
Im Kabelwerk Oberschöneweide muss sie Spulendraht löten
Ausgehungert steigt Alexandra Abramowa in Frankfurt an der Oder aus dem Zug. Sie weiß nicht, wie lange sie schon unterwegs ist. Nun müssen sich alle Insassen aufstellen, um wie auf einem Sklavenmarkt begutachtet zu werden. Einige Deutsche suchen kräftige Männer für die Feldarbeit. Doch es ist nur ein Durchgangslager.
Die Soldaten stoßen Abramowa und die meisten anderen wieder zurück in den Zug. Nach Berlin. Dort wird sie in ein Barackenlager gesperrt, mit 23 Personen in einem engen Raum. Nachts ist es kalt. Noch immer trägt sie das dünne Kleid und die unbequemen Sandalen.
Im Kabelwerk Oberschöneweide muss sie Spulendraht löten. Zu welchem Zweck, erfährt sie nicht. Der Meister ist freundlich zu ihr. Aber eine Aufseherin schlägt die Frauen mit der Peitsche. Sie selbst ist Tschechin, hat aber die Nazi-Ideologie verinnerlicht und fühlt sich den ukrainischen „Untermenschen“ überlegen. Einmal macht Alexandra Abramowa einen Witz. Die Strafe: zehn Tage Einzelhaft in einer winzigen Zelle, in der kein Liegen möglich ist. Tag und Nacht hat sie nur einen Gedanken: „Nach Hause“.
„Die Behandlung der Menschen basierte auf der rassistischen NS-Ideologie“, sagt Christine Glauning. Westeuropäer seien im Vergleich zu den Osteuropäern bessergestellt gewesen. Den Polen erging es sehr schlecht. Am meisten hatten - neben den Juden - alle Menschen aus der Sowjetunion zu leiden, denn sie galten als besonders minderwertig. Und Frauen waren generell benachteiligt, sagt Glauning.
Berlin wird beinahe jede Nacht bombardiert. Doch das Chaos ermöglicht ungeahnte Freiheiten. Abramowa zieht mit einer Freundin durch die Stadt, die den Frauen immer noch fremd ist. Sie verdecken den Aufnäher „Ost“ an ihrer Kleidung und gehen ins Kino, was verboten ist. Dann beschließen sie, nicht ins Lager zurückzukehren. Unter falschem Namen melden sie sich bei einer Arbeitsbörse und behaupten, ihre Unterkunft sei ausgebombt.
Sie erhalten eine neue Stelle bei einem Schneider am Alexanderplatz. Dort leben 17 Zwangsarbeiter in einem kleinen Zimmer. Der Chef ist ein kleiner, dicker Mann. Er hat es auf Alexandra Abramowas gut aussehende Freundin Nadka abgesehen, begrabscht sie bei jeder Gelegenheit. „Mir macht es nichts aus“, behauptet Nadka. Immer wieder versucht er auch, sie in einen Lagerraum zu drängen, wo er allein wäre mit ihr. Das Schlimmste weiß die Frau aus Stalino (heute Donezk) jedoch zu verhindern.
Ehemalige Zwangsarbeiter klagten auf Entschädigung
Nach Kriegsende gingen die meisten Fremdarbeiter zurück in ihre Heimat. Die Lager wurden wieder anderweitig genutzt oder abgerissen. Die meisten Deutschen wollten nicht mehr an die Kriegsjahre erinnert werden. Erst in den 1980er Jahren brach das Schweigen, zivilgesellschaftliche Initiativen kämpften für die Anerkennung dieser Opfergruppe.
Nach der Wiedervereinigung klagten ehemalige Zwangsarbeiter vor US-Gerichten auf Entschädigung. Am Ende langwieriger Verhandlungen zahlte die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ individuelle Einmalzahlungen in Höhe von bis zu 7670 Euro pro Person aus.
„Für uns ist das Thema damit nicht erledigt“, sagt Andreas Eberhardt, der heutige Vorsitzende der Stiftung. Die Erinnerung müsse wachgehalten werden. Nicht zuletzt, weil die letzten Zeitzeugen nicht mehr lange leben werden. Die Stiftung fördert heute internationale Jugend- und Bildungsprojekte. Eberhardt ist zuversichtlich: „Junge Menschen finden heute neue Zugänge zur Geschichte.“
Zum Beispiel mit Apps, die aufgezeichnete Aussagen von Zeitzeugen auf Bildschirmen oder als Hologramm zeigen. „Wir müssen darüber nachdenken, wie Verbrechen in einer Gesellschaft zur Normalität werden konnten.“ Denn das könne wieder passieren, sagt Eberhardt.
Alexandra Abramowa kehrte nach 1945 zurück in die Ukraine. 2005 wurde sie von der Historikerin Gelinada Grintschenko interviewt.
Dort sind die Narben der Vergangenheit noch sichtbar. Doch überall verschwinden die Spuren. „Leider werden Demokratie und Menschenrechte heute nicht mehr von jedem als Grundlage unserer Gesellschaft verstanden“, sagt Christoph Rauhut, Landeskonservator und Direktor des Landesdenkmalamtes. Deshalb sei es wichtig, die „authentischen Orte“ zu erhalten.
Doch mit jedem neuen Bauprojekt in der Stadt sind diese Orte gefährdet. Der Konflikt zwischen den Interessen der Investoren, der Bezirke und dem Anspruch eines würdigen Gedenkens reißt immer wieder auf. Wie schwer es ist, die Spuren der Vergangenheit zu bewahren, zeigen die fünf Beispiele auf dieser Seite.
Gelöschte Erinnerung
Nichts weist mehr darauf hin, dass im Luftfahrtgerätewerk Hakenfelde Hunderte Menschen ausgebeutet wurden. Neue Wohnungen sollen „Loftcharakter“ haben
Im Luftfahrtgerätewerk Hakenfelde fertigte Siemens & Halske, ein Unternehmen des Siemens-Konzerns, Steuerungstechnik für die Luftwaffe. Der Bau wurde 1936 vom Reichsluftfahrtministerium in Auftrag gegeben. Um Bomberangriffen vorzubeugen, sollte es aus der Luft nicht als Werk zu erkennen sein.
Der Siemens-Hausarchitekt Hans Hertlein entwarf einen lang gestreckten Trakt, überragt von einem elfgeschossigen Uhrenturm. Tatsächlich überstand die Anlage den Krieg unbeschadet und steht heute unter Denkmalschutz.
„Für deutsche Angestellte war Siemens & Halske ein moderner Arbeitgeber“, sagt Uwe Hofschläger von der Jugendgeschichtswerkstatt Spandau. Mit Schülern und Jugendlichen erforscht er die Spandauer Lokalgeschichte. Ein Zeitzeuge habe sogar ein Schwimmbad und ein Sonnendach beschrieben, das Mitarbeiter nutzen durften, sagt Hofschläger. Doch solche Privilegien bot das Werk nicht für alle Arbeiter.
„In unseren Unterlagen sind 434 ausländische Zwangsarbeiter nachweisbar, die im Luftfahrtgerätewerk Hakenfelde beschäftigt waren. Es ist aber davon auszugehen, dass die tatsächliche Zahl höher lag“, sagt Frank Wittendorfer vom Siemens Historical Institute, das für Siemens die Unternehmensgeschichte erforscht. Die Quellenlage sei ungünstig. „Zwangsarbeiter unterlagen einer strengeren Dienstaufsicht als deutsche Arbeiter. Die Behandlung am Arbeitsplatz war in etlichen Fällen schikanös und entwürdigend“, sagt Wittendorfer.
1942 habe das Luftfahrtgerätewerk 1700 ausländische Zwangsarbeiter beschäftigt, schätzt Hofschläger. Eine ehemalige Zwangsarbeiterin des Werks hat er 2011 mit einer Jugendgruppe in Frankreich besucht. Elisa Gérard, geboren im französischen Elsass, berichtete den deutschen Jugendlichen, wie sie 1942 als junge Frau nach Deutschland verschleppt wurde.
In Hakenfelde musste sie an einer Drehbank Teile für Flugzeugflügel herstellen - von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends. Sie lebte in einem Lager in der Nähe. Wo genau, ist nicht mehr nachvollziehbar. Die Jugendgeschichtswerkstatt hat recherchiert, dass zum Werk mindestens 19 Zwangsarbeiterlager gehörten.
Die Werkhalle, in der Elisa Gérard arbeiten musste, gibt es noch. Sie steht leer. Das ehemalige Luftfahrtgerätewerk ist heute ein Einkaufszentrum mit Büroflächen. Nichts weist darauf hin, dass an diesem Ort einmal Zwangsarbeiter für die deutsche Militärmaschinerie schuften mussten. Schon bald soll auf dem Areal moderner Wohnraum entstehen. Ein Investor plant „Wohnungen mit Loftcharakter sowie ein Boarding-House-Konzept“.
Digitale Spuren
Die Ausflugsgaststätte Riviera steht unter Verdacht. Doch Zwangsarbeit lässt sich dort nicht zweifelsfrei nachweisen. Der Bezirk sagt, die Frage des Gedenkens stelle sich nicht.
In der Nacht zu Dienstag brannte ein Teil der denkmalgeschützten Ausflugsgaststätte Riviera in Grünau aus. Die Brandursache ist noch ungeklärt.
Auf dem 14 000 Quadratmeter großen Gelände errichtet die Terragon AG eine luxuriöse Seniorenwohnanlage. Im Januar wurde die Baugenehmigung erteilt. Thomas Irmer hält es für möglich, dass auch dort Zwangsarbeiter gelebt haben könnten.
Allerdings schränkt der Historiker ein: Bisher habe er für diese These noch keine stichhaltigen Belege finden können. Die Vermutung liege aber nah, da in den letzten Kriegsmonaten sehr viele gastronomische Einrichtungen umfunktioniert wurden.
Die Lokalhistorikerin Helgunde Henschel widerspricht. In der Riviera habe es nie ein Zwangsarbeiterlager gegeben, sagt sie. Dort seien nur zeitweise sogenannte Wolhyniendeutsche untergebracht worden, Nachfahren deutscher Auswanderer, die von den Nazis „heim ins Reich“ geholt wurden.
Auch Rainer Hölmer, der Baustadtrat des Bezirks Treptow-Köpenick, sind keine Hinweise auf ein Lager bekannt: „Die Frage nach dem Umgang mit den Ausflugsgaststätten als Gedenk- und Erinnerungsort stellte sich bislang nicht.“
Christine Glauning vergleicht die Erforschung der NS-Zwangsarbeit mit der berühmten „Suche nach der Nadel im Heuhaufen“. Wer systematisch nach entsprechenden Dokumenten suchen wolle, müsse eine Vielzahl von Archiven prüfen. Die meisten der heute bekannten Lager und Arbeitsstätten seien von geschichtsinteressierten Privatpersonen vor Ort entdeckt worden.
Von Menschen wie Michael Roeder. Der Historiker wohnt in Wilmersdorf und bloggt zur Geschichte seines Kiezes. Vor einigen Jahren habe er Hinweise darauf entdeckt, dass der Bezirk ein eigenes Zwangsarbeiterlager in der Wilhelmsaue 40 betrieben habe.
Das Bezirksamt habe jedoch alles abgestritten, sagt Roeder empört, obwohl er Dokumente gefunden habe, die seine Theorie belegten. Roeder forderte den Bezirk auf, eine Gedenktafel aufzuhängen, vergeblich. Am Ende brachte er einfach selbst eine an.
Diese „provisorische Gedenktafel“ sei Ausdruck wichtigen zivilgesellschaftlichen Engagements, teilt das Bezirksamt auf Anfrage mit. Der Fall Wilhelmsaue sei aber umstritten. Aktuell tausche man sich mit dem Dokumentationszentrum aus. Dessen Leiterin hält Roeders Recherche für überzeugend. Der Fall zeige vor allem eines: „Es gibt einen enormen Nachholbedarf, um die Alltäglichkeit von Zwangsarbeit in Berlin angemessen sichtbar zu machen“, sagt Glauning. Für Erinnerung gebe es kein Patentrezept. Jeder Ort müsse neu ausgehandelt werden.
Digitale Spuren
Trotz historischer Belastung wurde das Arbeitshaus Rummelsburg zu einer attraktiven Wohnanlage umgebaut. Doch per App können Besucher die Geschichte noch erleben
Das Arbeitshaus Rummelsburg ist ein Gebäudekomplex in der Rummelsburger Bucht, der Ende des 19. Jahrhunderts errichtet wurde. Im Kaiserreich sollten Arbeitshäuser dazu dienen, gesellschaftliche Randgruppen wie Obdachlose, Bettler und Prostituierte zu einem gesetzestreuen Leben zu „erziehen“. Dem Verständnis der Zeit entsprechend handelte es sich um eine Fürsorgeeinrichtung, die wurde allerdings mit preußischer Strenge betrieben.
Den Nazis diente der Begriff „asozial“ als Label zur Verfolgung von Menschen, deren Verhaltensweisen nicht den Normen der „Volksgemeinschaft“ entsprachen. Eine verwahrloste Wohnung beispielsweise konnte zur Verhaftung führen. „Asoziale“ gehörten ebenso wie Juden, Sinti und Roma zu den Ersten, deren Arbeitskraft die Nazis systematisch ausbeuteten.
Rummelsburg war das größte deutsche Arbeitshaus, es hatte etwa 1500 Insassen. Die arbeiteten hauptsächlich für die Stadt Berlin. In sogenannten Stadtkommandos mussten sie Straßen, Parks und Friedhöfe reinigen. Im Kraftwerk Klingenberg entluden sie Kohlewaggons. Die Bäckerei des Arbeitshauses belieferte Krankenhäuser mit Brot, die Großwäscherei reinigte Wäsche für städtische Einrichtungen. Außerdem profitierten einige Lichtenberger Privatbetriebe.
Die Leitung des Arbeitshauses veranlasste auch Zwangssterilisierungen. Lothar Eberhardt vom „Arbeitskreis Marginalisierte Gestern und Heute“ hat mehrere Hundert Fälle recherchiert. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges kamen viele Insassen in Konzentrationslager, wo sie unter noch schlimmeren Bedingungen für die Rüstung arbeiten mussten.
In der DDR befand sich am selben Ort ein Gefängnis. Das wurde nach der Wende geschlossen. Die Gebäude, in denen mehrere dunkle Kapitel der deutschen Geschichte aufeinandertreffen, standen viele Jahre lang leer und verfielen. Anfang 2007 kaufte der Investor Maruhn-Immobilien einen Großteil davon.
Trotz der historischen Belastung wurde das Areal zu einer attraktiven Wohnanlage ausgebaut. In den Altbauten entstanden etwa 150 elegante Wohnungen mit hohen Decken, Parkett und Balkons.
Doch die Opfer von damals wurden nicht vergessen. Inmitten der Anlage befindet sich seit Januar 2015 ein Ort des Gedenkens und Lernens. Eine Open-Air-Ausstellung ist rund um die Uhr zugänglich. In ihrem Mittelpunkt stehen 18 Biografien ehemaliger Insassen von Arbeitshaus und Gefängnis.
Eine Smartphone-App erklärt den Besuchern die Geschichte des Areals. In Rummelsburg ist eine behutsame Integration des Gedenkens in die neue Nutzung gelungen.
Plötzlich Gedenkort
Eine nun entdeckte Fabrik im Bockbrauereikeller verzögert ein Bauprojekt. Für die Nachbarn kam die Entdeckung der unterirdischen Fabrikräume in der Kreuzberger Fidicinstraße wie gerufen: Anfang 2016 hatte die Bauwert AG das etwa 13 000 Quadratmeter umfassende Areal der Bockbrauerei gekauft, um dort Luxuswohnungen zu bauen.
Anwohner und Gewerbetreibende protestierten gegen die Pläne, weil sie fürchteten, verdrängt zu werden. Doch das Veto einer Initiative brockte dem Investor ein viel größeres Problem ein. Denn im Keller der Brauerei hatten die Nazis eine unterirdische Rüstungsfabrik betrieben, in der Zwangsarbeiter arbeiten mussten.
Über diese Fabrik war bis dahin wenig bekannt. Doch der Historiker Thomas Irmer bestätigte ihre Existenz in einem Gutachten für das Landesdenkmalamt, das dem Tagesspiegel vorliegt. Das Amt stellte die Keller unter Denkmalschutz, seither liegt das Bauprojekt auf Eis.
Der Konzern Telefunken hatte während des Zweiten Weltkriegs in Berlin Elektronenröhren für das Militär produziert: Hightechprodukte, die von allen Streitkräften benötigt wurden. Sie fanden sich unter anderem in den Funkanlagen für die Kampfflugzeuge. In der Sickingenstraße in Moabit betrieb der Konzern die „größte Röhrenfabrik Europas“.
Ab Sommer 1943 konzentrierten die Alliierten ihre Bombenangriffe auf die Hauptstadt. Um die Waffenproduktion aufrechterhalten zu können, wollte Telefunken die Produktion unter die Erde verlegen. Experten inspizierten Keller im gesamten Stadtgebiet, auch die des Kempinski-Hotels an der Friedrichstraße. Am Ende fiel die Wahl aber auf mehrere Brauereikeller und den Reichstagstunnel.
In der Bockbrauerei wurde eine Fabrik mit dem Tarnnamen „Lore II“ errichtet. Eine weitere befand sich unter der heutigen Kulturbrauerei. Die Luftschutz-Polizei stellte sich zunächst gegen die Pläne, weil sie die Keller als Schutzräume für die Bevölkerung nutzen wollte. „Am Ende setzten sich aber die Rüstungsbehörden durch“, sagt Irmer. Das zeige, wie wichtig die Röhrenproduktion für die NS-Führung war.
Die Organisation Todt, eine paramilitärische Bautruppe, war für die Errichtung von „Lore II“ zuständig. KZ-Häftlinge aus Sachsenhausen mussten bei den Aufräumarbeiten anpacken. Die Bockbrauerei liegt in der Nähe des Flughafens Tempelhof, der während des Krieges ein Zentrum der Rüstungsproduktion war.
In den Kellern des Flughafens wurden auch Jagdflieger hergestellt. Das machte die Gegend zu einem Ziel für alliierte Bomber. Im Brauereikeller verstärkten Arbeiter deshalb einige Wände und zogen eine „Zerschelldecke“ ein, die einem Bombentreffer standhalten sollte.
Ab November 1944 mussten Zwangsarbeiter in einem Teil des Kellers im Drei-Schicht-Betrieb arbeiten. Die Arbeitsbedingungen dürften schrecklich gewesen sein, weil die Entlüftungsanlagen für die Größe der Anlage nicht ausreichen konnten.
In einem Teil der Gewölbe soll jetzt ein Gedenkort entstehen. „Wir gehen davon aus, dass die Keller erhalten bleiben können und saniert werden“, sagt Christoph Rauhut. Die Kosten der Sanierung müsse der Investor tragen. „Da hier eine partiell hochpreisige Wohnbebauung entsteht, ist das im Rahmen der Zumutbarkeit.“
Die Bauwert AG will sich nicht zu ihrem Bauprojekt äußern. Julian Schwarz, der Fraktionsvorsitzende der Grünen in der BVV Friedrichshain-Kreuzberg, sagt: „Die ursprünglichen Pläne des Investors basierten auf großflächigen Abrissen der Keller und sind heute nicht mehr umsetzbar.“
Der Investor trage Verantwortung, seinen Teil zu einem funktionierenden Gedenkstellenkonzept beizutragen. Die Bebauung solle die Geschichte „respektvoll“ integrieren. „Ansonsten verspielen wir einen Gedenkort, der eine große Bedeutung für die Stadt hat.“
Der Zukunft im Weg
Ein neues Stadtquartier mit 2500 Wohnungen plant die Groth Gruppe auf dem Areal des ehemaligen US-Truppenübungsplatzes Park's Range in Lichterfelde-Süd, inklusive Grundschule und Kita. Auf dem Gelände stehen einige alte Baracken. Dem Entwurf zufolge sollen sie abgerissen werden.
Das Problem dabei: Es handelt sich um die letzten Überreste von Stalag III D, dem größten Kriegsgefangenenlager, das im Zweiten Weltkrieg in einer deutschen Stadt errichtet wurde. Das geht aus einem Gutachten hervor, das der Historiker Thomas Irmer für das Landesdenkmalamt erstellt hat.
Demnach wurden die Baracken im Dezember 1939 errichtet. Zuerst brachte man dort „Sudetendeutsche“ unter. Nachdem die Wehrmacht in Frankreich einmarschiert war, wurde daraus ein Kriegsgefangenenlager. Zum Stammlager (Stalag) III D gehörte noch ein zweites Barackenlager in Falkensee.
Die Gefangenen mussten Zwangsarbeit im gesamten Stadtgebiet leisten. Die Lagerverwaltung saß in Kreuzberg, sie verteilte die Insassen auf Arbeitskommandos. Sie errichteten Luftschutzbunker, arbeiteten in der Rüstungsindustrie, städtischen Betrieben und Privatunternehmen.
Historiker Irmer hat herausgefunden, dass der Gefangenenbereich des Lagers in Lichterfelde mit zehn Großbaracken für etwa 2800 Insassen gebaut worden war. Tatsächlich war das Lager ständig überbelegt. Während des Krieges planten die Behörden den Ausbau weiterer Lager in der Nähe. Wären sie realisiert worden, hätte das den Ortsteil Lichterfelde in eine Art Barackenstadt verwandelt.
Umso erstaunlicher ist es, dass Stalag III D in der Nachkriegszeit in Vergessenheit geraten konnte. Noch 2016 schrieb der Historiker Rolf Keller, es habe sich bei der Anlage lediglich um ein „Schattenlager“ gehandelt, einen „Verwaltungsapparat“ ohne Unterkünfte für Gefangene.
„Wir wollen der Vergangenheit angemessen gedenken, aber auch in die Zukunft investieren“
Für Anneliese Löwen und Gisela Pilz ist die Geschichte des Lagers mit ihrer eigenen Kindheit verbunden. Die Schwestern können sich noch an die Franzosen erinnern, die ihr Vater, der Elektriker Heinrich Hof, in seinem Betrieb beschäftigte. Die Männer hätten beinahe zur Familie gehört, sagen sie. Der Vater habe sie jeden Morgen vom Lager abgeholt und abends wieder zurückgebracht.
Der pensionierte Lehrer Thomas Schleissing-Niggemann beschäftigt sich seit Jahren mit der NS-Geschichte in Steglitz. Anfang des Jahres sammelte er mit einigen Mitstreitern 1270 Unterschriften für einen Einwohnerantrag. Darin forderten sie die BVV auf, im Bebauungsplan „einen Lern- und Gedenkort am historischen Ort“ zu berücksichtigen. Am Ende stimmten alle Fraktionen für den Antrag - „selbst die AfD“, sagt Schleissing-Niggemann.
Investor Groth gibt sich kompromissbereit: „Wir wollen der Vergangenheit angemessen gedenken, aber auch in die Zukunft investieren“, sagt die Pressesprecherin Anette Mischler. „Art und Umfang“ des Gedenkortes würden momentan „mit allen beteiligten Verwaltungen“ abgestimmt.
Das Landesdenkmalamt will drei Lagergebäude erhalten, die noch weitgehend im ursprünglichen Zustand sind. Der Gedenkort könne in einer ehemaligen Gefangenenbaracke eingerichtet werden, sagt Landeskonservator Rauhut. Eine zweite Baracke, die Teil des für die Logistik des Lagers notwendigen Reichsbahnwerkes war, solle „transloziert“, also an einem anderen Ort wieder aufgebaut werden. Auf welche Weise und wohin, sei Gegenstand der Verhandlungen.
Problematisch dürfte die Einigung jedoch bei der dritten Baracke werden, denn das Gebäude steht dem geplanten Schulneubau im Weg. Die Initiative möchte die Baracke als Gedenkort in die Schule integrieren. Doch wenn es nach Bezirksbürgermeisterin Cerstin Richter-Kotowski (CDU) geht, dann wird der Neubau in Modulbauweise errichtet. Das wäre aber nur dann umsetzbar, wenn die Baracke abgerissen würde.