Türkischer Konsulatsunterricht in Berlin: Erdogans Lehre an deutschen Schulen
An 150 Berliner Schulen unterrichten staatliche türkische Lehrer im Auftrag des Konsulats. Was im Unterricht vermittelt wird, kontrolliert niemand.
Der Einfluss des türkischen Staates auf Schüler in Deutschland hat sich in den vergangenen zehn Jahren erheblich ausgeweitet. Sogenannte Konsulatslehrer unterrichten allein in Berlin an 150 Schulen – eine Steigerung um 50 Prozent gegenüber 2007, wie eine Anfrage des Tagesspiegels bei der Berliner Bildungsbehörde ergab. Abgeordnete, Verbände und Wissenschaftler sehen diese Entwicklung mit Sorge, da seit dem Putschversuch in der Türkei nur noch regimetreue Lehrer arbeiten dürfen. Die Konsulatslehrer nutzen Räume an staatlichen deutschen Schulen und werden nicht kontrolliert. Sie unterrichten Heimatkunde und Türkisch.
„In Anbetracht der politischen Entwicklungen in der Türkei ist es angebracht, den Konsulatsunterricht an Berliner Schulen durch Lehrer aus der Türkei genauestens unter die Lupe zu nehmen. Alles, was integrationshindernd ist oder politischer Propaganda entspricht, darf nicht hingenommen werden“, sagte der Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu (Grüne) dem Tagesspiegel.
In Hamburg gibt es das Angebot an 60 Schulen
Der Konsulatsunterricht orientiert sich an einer Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften über die Kinder von „Wanderarbeitnehmern“. Auch andere Bundesländer bieten ihn an, darunter Hamburg, wo knapp 900 türkischstämmigen Schüler an rund 60 Schulen teilnehmen. Hamburg kennt die Zahl der Schüler genau, weil die Stadt den Unterricht finanziell unterstützt. Berlin beschränkt die Zuwendungen seit 2002 darauf, dass die Schulräume kostenlos genutzt werden dürfen. Wie viele Berliner Schüler teilnehmen, ist der Schulbehörde nicht bekannt.
Safter Çinar vom Vorstand des Türkischen Bundes warnt vor einer „Indoktrinierung“ der Kinder. Nachdem in der Türkei zehntausende Lehrer gegen Erdogan-treue Kräfte ausgetauscht worden seien, würden jetzt „problematische Lehrer“ kommen. „Der Konsulatsunterricht konterkariert alles, was die Schulen machen“, lautet die Einschätzung des deutsch-türkischen Politologen und langjährigen Berliner Schulpsychologen Ali Uçar.
Ein Vater erreichte, dass der Lehrer ausgetauscht wurde
Eine Umfrage des Tagesspiegels an mehreren Grundschulen ergab, dass die Lehrer ein- bis zweimal wöchentlich Gruppen von rund 15 Kindern jeweils 90 Minuten am Nachmittag unterrichten. Das Interesse ist groß, weil es an den meisten Grundschulen keine Alternative für Eltern gibt, die für ihre Kinder einen muttersprachlichen Unterricht wünschen.
Wer sein Kind indoktrinieren lassen will, kann daran sicher nicht gehindert werden. Aber dass diese Indoktrinierung von der Schulverwaltung direkt oder auch nur indirekt gefördert wird, ist nicht zu akzeptieren.
schreibt NutzerIn carolina
„Wir möchten, dass unsere Kinder etwas Türkisch schreiben können und die wichtigsten Feiertag und Gebräuche kennenlernen“, begründet ein Vater seine Entscheidung, sein Kind in den Unterricht des Konsulats zu schicken. Allerdings war er entsetzt, als sein Sohn hörte, in welcher Form die „Unterweisung“ stattfand: „erzkonservativ, autoritär, nationalistisch“. Er meldete sein Kind daraufhin ab. Ein Vater an einer anderen Schule erreichte, dass ein Lehrer nach Kritik vom Konsulat ausgetauscht wurde.
Eine derartige Einmischung von Seiten der Eltern ist allerdings die Ausnahme. „Bildungsferne Elternhäuser hinterfragen den Unterricht gar nicht“, berichtet eine Neuköllner Schulleiterin. Andere Rektoren beklagen, dass die Konsulatslehrer kein Deutsch sprächen und auch keinen Kontakt suchten. Allerdings gibt es auch andere Erfahrungen wie etwa an der Kreuzberger Galilei-Grundschule, die laut Rektorin Yvonne André sehr gut mit dem Konsulatslehrer zusammenarbeitet.
Der GEW-Chef weiß von nichts
Wie sehr dieses Angebot – außerhalb der betroffenen Grundschulen – in Vergessenheit geraten ist, zeigt die Tatsache, dass selbst der Berliner GEW-Chef Tom Erdmann „noch nie davon gehört hatte“. Dies allerdings ist brisant, denn bei der GEW-Landesdelegiertentagung trat erst vor wenigen Tagen die Generalsekretärin der türkischen Bildungsgewerkschaft, Sakine Esen Yilmaz, auf, die in Deutschland Asyl beantragt hat, weil sie – als kritische Gewerkschafterin – mit 22 Jahren Haft in ihrer Heimat rechnet: Yilmaz berichtete der GEW darüber, dass „bis zu 70 000 Lehrkräfte“ suspendiert und gegen Erdogan-Getreue ausgetauscht worden seien.
Mit einem „Austausch“ wird auch in Berlin gerechnet: Die Konsulatslehrer sind nur für fünf Jahre abgeordnet. Spätestens wenn ihre Zeit um ist, könnte Erdogan für konservativen Nachschub sorgen. Lehrer berichten, dass von Pädagogen neuerdings ein Fragebogen ausgefüllt werden muss, in dem sie Auskunft über Anschauungen und Herkunft geben sollen.
Safter Çinar vom Vorstand des Türkischen Bundes befürchtet denn auch, dass künftig extrem linientreue Lehrer entsandt werden. Auch bisher schon sah er diesen Unterricht kritisch, zumal die verwendeten Schulbücher nationalistisch eingefärbt sind. Dies hatte zuletzt 2013 auch eine Untersuchung des Zentrums für Türkeistudien in Essen belegt.
„Wir müssen Licht in diese Blackbox bringen“
„Wir müssen Licht in diese Blackbox bringen“, findet Joschka Langenbrinck, Bildungspolitiker der SPD. Er fordert „klare staatliche Kriterien und eine Kontrolle der Qualität. „Es muss auch die Frage gestellt werden, wie grundsätzlich verhindert wird, dass der türkische Staat diesen Unterricht zur politischen Indoktrination von Kindern nutzt,“ sagte der Abgeordnete auf Anfrage.
Generell erlaube Konsulatsunterricht wenig Einfluss, gibt Hildegard Bentele zu bedenken. Die CDU-Schulexpertin schlägt aber vor, sich – „ähnlich wie in Baden-Württemberg und Bayern“ – in bilateralen Kommissionen über Lehrinhalte auszutauschen und zudem eine Zusammenarbeit mit den betreffenden Schulen anzuregen. „Das würde allerdings voraussetzen, dass es in der Bildungsverwaltung entsprechendes Interesse, Personal und Fachverstand für dieses Thema gibt. Das ist nicht der Fall“, glaubt Bentele.
„Regelmäßige Kontakte bestehen nur mit dem Erziehungsattaché des Generalkonsulats der Republik Türkei“, lautet die Auskunft der Bildungsverwaltung zum gegenwärtigen Verfahren. An dieser Praxis hat sich bislang nichts geändert, obwohl bekannt ist, dass die Türkei seit dem Putschversuch ihre Lehrer noch mehr als früher zwingt, Erdogans islamisch-nationalistisches Weltbild an die Schüler zu vermitteln. Auf Tagesspiegel-Nachfrage kündigte die Verwaltung aber an, „mit den Schulen über ihre Erfahrungen mit dem Konsulatsunterricht zu sprechen“.
Muttersprachlicher Unterricht: Viele Ideen, wenige Lehrer
Ausgangslage
Rund 115 000 Schüler sprechen zu Hause kein Deutsch. Die größte Gruppe sind die türkischstämmigen. Genaue Zahl: unbekannt. Bekannt ist nur, dass rund 7500 noch den türkischen Pass haben. In den Grundschulen wird nur Englisch oder Französisch als erste Fremdsprache angeboten. Es gibt zwar das Konzept einer türkisch-deutschen Alphabetisierung mit fünf Wochenstunden ab Klasse 1, aber es zogen sich bereits 15 von 19 Schulen aus diesem Modellversuch zurück: Manche machen dafür die mangelnde Unterstützung des Senats verantwortlich, andere vermissten geeignete Lehrer oder entschlossene Familien.
Wissenschaft
Erziehungswissenschaftler wie der Berliner Primarforscher Jörg Ramseger appellieren seit langem an den Senat, den Schülern mehr Möglichkeiten zu bieten, ihre Muttersprachen auch in der Schule zu erlernen. Andernfalls erhöhe sich das Risiko der „doppelten Halbsprachigkeit“: Viele Kinder können weder ihre Muttersprache noch Deutsch richtig sprechen, geschweige denn schreiben. Da sie ihre Erstsprache nicht durchdrungen haben und sie nur im mündlichen „Hausgebrauch“ nutzen, haben sie kein solides Fundament für den Zweitspracherwerb. Der Wortschatz verkümmert und damit die Vorstellungswelt.
Selbsthilfe
Tausende Berliner Kinder besuchen am Wochenende so genannte Sonntagsschulen, weil ihre Muttersprachen in der Schule gar nicht oder erst spät angeboten werden. Es gibt die Sonntagsschulen für zahllose Sprachen, darunter „Orchideen“ wie Japanisch und Georgisch sowie verbreitete Sprachen wie Russisch und Polnisch, für die es an den Grundschulen ebenfalls kein Angebot gibt. Andere stützen sich auf den „Konsulatsunterricht“, der kostenlos ist und bequemerweise direkt in den staatlichen Grundschulen stattfindet. Über weitere Konsulatsangebote – neben dem türkischen – hat der Senat keine Informationen.
Ausblick
Die neue rot-rot-grüne Koalition will neue Wege beschreiten. Die Bildungsverwaltung soll „ein Konzept zur Förderung der Mehrsprachigkeit“ vorlegen. Die Auswahl an ersten und zweiten Fremdsprachen dürfte dann erweitert werden. Besonderes Augenmerk soll dabei auf Türkisch, Arabisch und Kurdisch, aber auch auf den osteuropäischen Sprachen liegen. Allerdings gibt es noch nicht genug ausgebildete Lehrer für diese Angebote. Bereits entschieden ist, dass Flüchtlinge ihre Muttersprache als erlernte Fremdsprachen anerkennen lassen können, um somit die Voraussetzungen für einen Schulabschluss zu erfüllen.
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