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Ist hier jemand? Doch da, ein Mensch! Sonst ist es leer – es gibt sogar Parkplätze an der Frankfurter Allee.
© Kai-Uwe Heinrich

Hauptstadt zwischen Weihnachten und Neujahr: Entvölkertes Berlin: Schön ohne euch!

Berlin wirkt wie ausgestorben zwischen Weihnachten und Neujahr. Die Zugezogenen sind ausgezogen, die Zurückgelassenen füllen die Leere mit besinnlichen Gedanken - und erkennen: Nur, wer das Jahresende hier verlebt, ist ein echter Berliner. Dieser Kommentar von 2013 hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt.

Die Bäuche voll, die Straßen menschenleer. Berlin ist ein Dorf. Zu keiner Jahreszeit gilt das mehr als zwischen Weihnachten und Neujahr. Die Zugezogenen sind ausgezogen, ganze Stadtviertel sind wie leer gefegt. Auffällig ausgestorben wirken besonders beliebte Innenstadtlagen wie Prenzlauer Berg, Kreuzkölln, Friedrichshain, die sonst von Hipstern und prekären Kreativen, jungen Familien und anderen Neu-Berlinern so dynamisch bevölkert sind. Alle sind sie weg – in die Ferien, zu Muttern in die Ex-Heimat oder sonst wo hin.

Und wir, die Daheimgebliebenen, bleiben unter uns und sind erstaunt, wie wenige wir eigentlich sind. Eine Schicksalsgemeinschaft, in der sich Eingeborene und Eingemeindete zur Festtagsgesellschaft verschworen fühlen dürfen in der Erkenntnis: Diejenigen, die der Stadt über Weihnachten und Neujahr die Treue halten, sind in Wahrheit die richtigen, die echten Berlinerinnen und Berliner!

In diesen stillen Tagen gehört die Stadt uns – von ein paar versprengten Touristen abgesehen – ganz allein. Aber sie wirkt fremd, verschlafen. Und irgendwie ziemlich langweilig, diese provinzialisierte Hauptstadt. Keine Politik, keine Nachrichten, kein Getümmel. Selbst die merkwürdigen Gestalten, die Frühalkoholisierten, die Krakeeler und Körperpflegemuffel, die sonst Busse und Bahnen füllen, haben sich rar gemacht. Freie Platzwahl, keine miefige Enge. Kristallklare, reine Luft.

Berlin im Schlummermodus. Nur Polizisten, Busfahrer, Krankenschwestern und Feuerwehrleute wachen über den Notbetrieb. Wer sich aufrafft aus der Festtagslethargie, kann einsam durch gentrifizierte Stadtteile flanieren – und trotz Sonnenscheins ganz melancholisch werden. Wer raus muss, erlebt Wundersames, wie der Radio-Moderator, der ungläubig twittert: „Früh um 5 ausgeparkt und zur Arbeit gefahren, kurz nach halb 11 auf den selben Parkplatz wieder einparken: das geht nur Feiertagsmorgens so.“

Wir besinnen uns auf wichtige Fragen: Heißt es nun "an" oder am Heiligabend?

Ach, das Leben in Berlin kann so schön sein, ohne diese ganzen Nervensägen, die Parkplatzverstopfer, die Mietpreistreiber, die Großkoalitionäre, die Großinvestoren, die Hundebesitzer, die Hipster, die Raucher, die Ordnungsämter, die Milieuschützer, die Lobbyisten, die Autonomen, die Querulanten, die Mitbewerber – dieser ganze aufgeregte, verzehrende, unmenschliche Mordsbetrieb!

Wir Zurückgelassenen können unsere Leere ganz gut allein ausfüllen. Zuerst haben wir uns feierlich die Bäuche gefüllt, anschließend im Kreis von Freunden und Familie erfüllt beisammengesessen, das ein oder andere Glas befüllt, nun füllen wir die geistige Leere mit Gedanken: Es ist Zeit für eine besinnliche Rückschau und Jahresbilanz. Wichtige Fragen bewegen uns, wie die, ob man nun „zwischen den Jahren“ und „an“ statt am Heiligabend sagen darf oder nicht. Solange keine Zugezogenen da sind, reden wir, wie es uns passt.

Womit bewiesen wäre, dass echte Berlinerinnen und Berliner sehr wohl in der Lage sind, besinnlich zu sein – wenn man sie lässt und einfach mal in Ruhe allein mit sich lässt. Für diese Erfahrung bedanken wir uns bei allen Weihnachtsverreisten. Schön war es, erhaben und feierlich: ohne euch!

Im neuen Jahr dürft ihr gern wiederkommen. Diese Leere hält ja kein Mensch auf Dauer aus! Glücklicherweise waren am Freitag die Shoppingcenter wieder belebt. Und wer noch Sehnsucht nach Sinnsuche verspürt, kann an diesem Sonntag in die Kirche gehen. Es gibt sicher jede Menge freie Plätze.

Stephan Wiehler

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