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Rentner Rainer bringt regelmäßig Lebensmittelspenden zur Notübernachtung in die Seestraße. Hier umarmt er den Obdachlosen Andreas.
© Nora Noll

Obdachlose in Wedding: Eine Nacht in einer Notübernachtungsstelle

In der Notunterkunft Seestraße endet die Saison. Viele Wohnungslose suchen sich jetzt wieder draußen Schlafplätze.

Im Karton liegen drei Flaschen Pils, vier Taschenmesser, eine Penny-Tüte, gefüllt mit Pfandflaschen. Vanessa legt eine Schachtel Einwegspritzen dazu, versehen mit einem Post-It. Darauf eine Nummer, 103-2, Zimmer und Bett, die zwei wichtigsten Zahlen für eine Nacht in der Notübernachtung Seestraße.

Vanessa Czarnecki wird die Nacht hier verbringen, zusammen mit drei anderen freiwilligen Helfern. Für die Nachtschicht bekommt sie eine Aufwandsentschädigung von 70 Euro. Die 30-Jährige ist seit Anfang der Saison, also seit Januar dabei. Sie hat Freizeitmanagement studiert und dann gemerkt, dass ihr „was Soziales“ lieber ist.

Abends ab sieben ist Einlass. Toni, auch Nachtschichtlerin, sitzt am Eingang, vor ihr zwei Listen, die sich mit Namen füllen. Ein Kästchen pro Bett, eine Spalte pro Zimmer, insgesamt stehen 59 Plätze zur Verfügung. Voll wird es immer. Die meisten Namen kennen die freiwilligen Helfer schon, Stammgäste wie Andreas, die seit Saisonbeginn hierherkommen, in die Seestraße im Wedding.

Bedingung zur Übernachtung: keine Gewalt, keine Drogen, kein Alkohol

Die Notunterkunft der gemeinnützigen Organisation „Neue Chance“ ist eine von mehr als 20 Notübernachtungsstellen, die während des Winters im Rahmen der Kältehilfe in Berlin Schlafplätze anbieten. Bis Ende März stehen die Betten für jeden bereit, der Wärme sucht. Die Bedingungen: keine Gewalt, keine Drogen, kein Alkohol.

Jacke auf, Arme ausstrecken, einmal um 180 Grad drehen. Vanessa kontrolliert den Anorak eines älteren Mannes. Aus der Ärmeltasche zieht sie ein Fläschchen Methadon, sie schaut den Mann fragend an. Heroin-Ersatz, so was darf nicht mit aufs Zimmer, so was muss in den Karton zu den Bierflaschen und Taschenmessern. Er habe ein ärztliches Rezept dafür, protestiert der Mann. Wenn er es nicht mitnehmen könne, penne er lieber draußen. Kurzes Hin und Her, normalerweise nicht okay, aber Ausnahme, weil Medizin. Das Fläschchen verschwindet wieder in der Ärmeltasche.

Ein Sicherheitsdienst wurde eingestellt

Es gibt klare Regeln, aber auch Ermessensspielraum für die Schicht-Verantwortlichen. Sie müssen abwägen zwischen einer Nacht Hausverbot, weil eine Frau eine Packung Schnäpse reinschmuggeln will, und der Frage, wie kalt es diese Nacht auf der Straße wird. Für die Helfer ein Balanceakt zwischen freundlicher Aufgeschlossenheit und notwendiger Autorität. Am Einlass wird gescherzt, als Peter, ein alter Bekannter, durch die Glastür kommt. Er ist sichtlich alkoholisiert. „Hast du getrunken, Peter?“, fragt Vanessa lächelnd, „Ein bisschen!“, antwortet der und grinst breit.

Es ist nicht immer so entspannt. Vor ein paar Wochen hat sich eine Freiwillige während einer Nachtschicht auf der Toilette eingeschlossen, aus Angst vor einem aggressiven Übernachtungsgast. Die Polizei musste gerufen werden. Danach wurde ein Sicherheitsdienst eingestellt. Die Security – in der Notunterkunft heißen sie einfach Tino und Johnny. Sie sprechen russisch und rumänisch und schlagen den Leuten, die rauchend vor dem Eingang stehen, freundlich auf die Schulter. „Das ist ein super Job, sonst würde ich hier nicht arbeiten“, sagt Tino. Es bleibe aber wichtig, Präsenz zu zeigen und nicht die Distanz zu verlieren. Dabei greift er dem betrunkenen Andreas, dem die müden Beine wegknicken, unter die Arme.

Ab dem Frühling müssen sich Obdachlose wieder Schlafplätze auf der Straße suchen.
Ab dem Frühling müssen sich Obdachlose wieder Schlafplätze auf der Straße suchen.
© Christophe Gateau/dpa

Andreas kommt seit zwei Jahren in die Notunterkunft

Andreas ist 57 Jahre alt, seine Stimme und sein Gesicht wirken 20 Jahre älter. Seit zwei Jahren verbringt er den Winter in der Seestraße, davor „dort und dort und dort“, er macht eine unbestimmte Handbewegung. Eigentlich kommt er aus Polen, seine Frau trennte sich nach 31 Jahren Ehe, er strandete in Berlin. Was er tagsüber mache? „Lach nicht“, sagt er, er sitze beim Penny gleich um die Ecke, vor sich einen Becher. Und im Sommer, was dann? Dann muss er einen Platz für sich und seinen Schlafsack suchen. Es sei denn, ein Kollege findet vielleicht einen Job, der hätte dann ein Wohnung, eine richtige Wohnung, in der man selber kochen kann. Seine Stimme stockt, als hätte sie zu viel Mut bewiesen, diese Hoffnung laut auszusprechen.

Fehlende Papiere, Schwarzarbeit, Einsamkeit

Eines der Probleme, das Andreas und viele andere hier umtreibt, sind fehlende Papiere: gestohlen oder verloren, auf jeden Fall weg – zappzerapp, sagt ein anderer polnischer Mann und zeigt seine leeren Hände. Neue Dokumente kosten Geld, allein die Fahrt ins Heimatland ist für die meisten zu teuer.

Ein weiteres großes Problem ist die Schwarzarbeit. Eine Gruppe rumänischer Männer sitzt auf den Bierbänken im Aufenthaltsraum, Dido, der jüngste übersetzt. Was macht ihr im Sommer? „Arbeit, Maler, Baustelle.“ Bekommt ihr dieselbe Bezahlung wie Deutsche? Dido dolmetscht, alle lachen. „Nein, niemals.“

Das dritte, vielleicht dass größte Problem, ist die Einsamkeit. Andreas redet selten über sich, das merkt man ihm an, und er sagt es auch selbst: „Meine Kollegen hören mir nicht zu.“ Und er hat vergessen, dass es freundliche Menschen gibt. Als Vanessa ihm zu dem Teller Dosenravioli ein Glas Milch bringt, steigen ihm Tränen in die Augen. Dann trinkt er das Glas in zwei Schlucken aus.

Ein ruhiger Abend in der Seestraße

Um neun sind fast alle Betten vergeben, nur ein paar reservierte Plätze sind noch offen. Es gibt Gemüsesuppe aus einem großen Topf und Ravioli, dazu alte Schrippen, die täglich von Bäckereien gespendet werden. Rainer bringt Käse- und Schinkenbrote vorbei, der Rentner sammelt seit elf Jahren Lebensmittelspenden und bringt sie zu „den Bedürftigen“, wie er sagt. Er ist Christ, zitiert die Bibel, „Selig sind die Barmherzigen“, und umarmt Andreas.

Als Andreas schon schlafen gegangen ist, steht Vanessa noch mit den anderen Helfern in der Küche, räumt die Spülmaschine ein, bereitet den Kaffee für den nächsten Morgen vor. Im Radio läuft „Eye of the Tiger“, die Stimmung schwankt zwischen Erschöpfung und Aufgedrehtheit. „Heute war es ruhig“, sagt Vanessa, „nur das übliche Chaos, wenn Betten vertauscht werden“. Inzwischen ist alles geklärt. Sie wirkt erleichtert.

Es ist halb eins, die letzte Kippe mit den beiden Security-Männern, dann Licht aus und Feierabend. Zwei Räume stehen den Freiwilligen zu Verfügung, einer mit Stockbett, der andere mit zwei Matratzen auf dem Boden. Die Wände sind kahl, jemand hat sie mit Edding beschrieben: „Träum von Utopien!“

Bier zum Frühstück

Fünfeinhalb Stunden wird geträumt, um sechs Uhr morgens heißt es aufstehen, die Müdigkeit runterschlucken, alle aufwecken, Frühstück machen. Vanessa wuselt herum, „Shit, ich hab die Teller vergessen“, dazu kommen Plastikmesser.

Nur einen Kaffee, dann macht sich Andreas fertig, um zu gehen. Er greift sich ein Sterni aus dem Deposit-Karton, auf dem Post-It steht und seine Nummer. Um acht das erste Bier? „Dunkelheit im Kopf und dann Schluss“, sagt sein Kollege. In Andreas’ Augen schimmert nicht die gestrige Traurigkeit, er erinnert sich nicht mehr an das Gespräch, oder er will sich nicht erinnern.

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