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Viele der Methadon-Suchtpatienten haben am U-Bahnhof Gneisenaustraße ihren Treffpunkt. Das stört die Anwohner.
© Felix Hackenbruch

Suchtpatienten am Marheinekeplatz: „Ohne das Methadon geht es für uns nicht“

Anwohner in Kreuzberg beklagen sich über Suchtpatienten einer Arztpraxis. Doch längst nicht alle Patienten benehmen sich auffällig. Ein Besuch im Kiez.

René muss sich beeilen. Noch fröstelts ihn nur, aber schon bald wird sich die Kälte ausbreiten. Die Gelenke werden schmerzen, der Puls wird rasen und der ganze Körper wird vor Schüttelfrost erzittern. Seine Rettung sind zwei weiße, leicht ovale Tabletten, die er nach der obligatorischen Urinprobe in einem kleinen Plastikbecher überreicht bekommt. Er wirft sich die Tabletten in den Mund, füllt den Becher mit Wasser und spült beides gemeinsam hinunter. 30 Minuten wird es dauern, bis sich die Wärme ausbreitet, die René Gelassenheit verschafft. Zumindest kurzfristig – schon beim Aufstehen am nächsten Morgen wird er wieder frösteln.

René ist einer von 5000 Substituenten in Berlin. Ohne die Ersatzdroge Methadon kann er kein geregeltes Leben führen und wäre akut gefährdet, rückfällig zu werden und wieder der Heroinsucht nachzugeben. Tag für Tag kommt er deshalb in die Kreuzberger Heimstraße zur Methadon-Ausgabestelle. Gut 300 Drogenabhängige bekommen hier ihre Substitute. Darunter auch eine Gruppe, die sich nach der Ausgabe regelmäßig im nahen U-Bahnhof Gneisenaustraße oder im Sommer auf dem Marheinekeplatz trifft, häufig wird Alkohol getrunken, mit den üblichen Begleiterscheinungen. Seit einige Anwohner das nicht mehr akzeptieren wollen und die Ausgabestelle infrage stellen, herrscht Aufruhr im Kiez.

Am Donnerstagmorgen um kurz vor 9 Uhr geht es in der Heimstraße allerdings ruhig und geordnet zu. Dabei warten in der unscheinbaren Praxis bereits ein Dutzend Patienten auf die Ausgabe der Substitute. „Heute wieder wie am Bahnhof“, sagt einer. Trotzdem wird geduldig angestanden, in Becher uriniert und in Atemalkoholgeräte gepustet. Nur wer nüchtern ist und keine Beidrogen konsumiert, bekommt den Ersatzstoff.

"In Berlin ist die Versuchung einfach allgegenwärtig"

Das Publikum in der Heimstraße ist bunt gemischt. Es gibt die ungepflegten Klischee-Junkies, denen man den jahrelangen Drogenkonsum ansieht. Auch Obdachlose mit offenen Beinen sind da. Den ganzen Morgen kommen aber auch immer wieder junge, gesund aussehende Menschen. Einer erscheint im Anzug, ein anderer trägt eine rote Melone auf dem Kopf. Auch René sieht mit Parka, Strickschal und Sneakers nicht wie der klassische Heroinabhängige aus.

Der Schein trügt. Mit 14 Jahren kommt der heute 33-Jährige das erste Mal mit Cannabis in Kontakt, mit 18 spritzt er sich Heroin. „Ich war im falschen Freundeskreis“, sagt er rückblickend. Stück für Stück rutscht er immer weiter ab. Seine Familie wendet sich von ihm ab, er begibt sich in die Prostitution und steckt sich mit HIV an. „Es ist einfach alles zerbrochen“, sagt er. Mit 26, sein Körper ist inzwischen „ein Wrack“, steigt er aus. Der kalte Entzug misslingt, also versucht er es mit Methadon. Das Substitut stabilisiert sein Leben, er treibt wieder täglich Sport und findet einen Job in der Gastronomie.

Nur ein einziges Mal wird er rückfällig. Der Tod seiner Mutter wirft ihn aus der Bahn. Am Kottbusser Tor kann er den Dealern nicht wiederstehen und rutscht für einige Monate wieder in die Spirale aus Konsum und Beschaffungsdruck. „In Berlin ist die Versuchung einfach allgegenwärtig“, sagt er. Seit vier Monaten ist er jetzt wieder im Methadonprogramm. „Ich möchte einfach clean bleiben und vielleicht irgendwann auch mal die Substitute absetzten“, sagt er. Er wirkt dabei zuversichtlich.

Daran glaubt Donald Orlov-Wehmann allerdings nicht: „In der Regel kommt man von den Substituten nicht mehr runter.“ Das Ziel sei heute vielmehr soziale Reintegration, erklärt der Allgemeinmediziner, der seine Kreuzberger Praxis seit 1993 führt. Eine seiner ersten Patientinnen war damals Christiane F. Lange konnte der Arzt Abhängige und andere Patienten in den gleichen Räumen in der Bergmannstraße behandeln. Weil das logistisch und bürokratisch nicht mehr geht, eröffnete er vor ein paar Jahren den Ableger in der nahen Heimstraße. Um Ärger mit den Anwohnern zu vermeiden, hat er vorsorglich einen Wachdienst eingestellt. Der steht allerdings den ganzen Morgen nur in einer Ecke, tippt auf seinem Handy und hat weiter nichts zu tun.

Vertreibung könne auch keine Lösung sein

„Die meisten sind einfach nur dankbar, dass sich jemand um sie kümmert“, sagt Orlov-Wehmann. Für ihn ist die Behandlung von Drogenabhängigen eine „Sache der Haltung“. Im Kollegenkreis würden ihn viele wie einen Exoten beäugen. „Es gibt eine ganze Reihe von Ärzten, die keine Lust haben, sich mit der Thematik zu beschäftigen“, sagt er. Für ihn ein Unding, schließlich sei Sucht eine medizinische Krankheit. Laut der Kassenärztlichen Vereinigung gab es 2014 in Berlin gerade einmal 130 Ärzte, die substituierten.

Für Orlov-Wehmann nicht das einzige Problem. „Diese Leute werden vom System diskriminiert“, sagt der Arzt und berichtet von einer Patientin, der eine wichtige Kur nach einer Krebserkrankung von der Krankenkasse verwehrt blieb. Begründung: Für Methadonabhängige sei eine Kur überflüssig. „Ausgrenzung findet überall statt“, ärgert sich der Arzt auch mit Blick auf die Diskussion um die Methadonpatienten am U-Bahnhof Gneisenaustraße. „Diese Patienten dort sind nicht repräsentativ für den Rest“, sagt er. Verantwortlich für deren Lage sei auch nicht das Methadon, sondern andere Abhängigkeiten, soziale Vereinsamung und Persönlichkeitsstörungen. Er befürwortet deshalb die Überlegungen des Bezirks, den Betroffenen Aufenthaltsräume anzubieten.

Diese Idee unterstützt auch René. Er kann die Verärgerung unter Anwohnern am Marheinekeplatz verstehen. „Ich hätte da vielleicht auch Angst um meine Kinder“, sagt er nachdenklich. Trotzdem könne Vertreibung keine Lösung für das Problem sein, sagt er und steigt auf sein Fahrrad. „Ohne das Methadon geht es für uns nicht.“

Info:
Methadon ist ein sogenannter Agonist, der im Gehirn den Opiatrezeptor besetzt und damit das Verlangen nach Heroin oder Morphium stillt. Als in den 80er Jahren in Deutschland die Zahl der Drogentoten anstieg, die neue Krankheit Aids grassierte und die Beschaffungskriminalität die Gefängnisse füllte, erkannten Gesetzgeber und Gesetzliche Krankenversicherungen Methadonbehandlungen unter festgelegten Bedingungen als zulässig an. 1992 wurde schließlich der Rahmen für Substitutionstherapien im Betäubungsmittelgesetz festgeschrieben.

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