Interview mit Berliner Sozialsenatorin: „Eine Gesamtkorrektur der Agenda 2010 ist überfällig“
Sozialsenatorin Elke Breitenbach fordert bessere Qualifizierungsmaßnahmen für Langzeitarbeitslose und mehr Migranten im öffentlichen Dienst.
Frau Breitenbach, wo bleibt das Jobwunder für Berlin? Die Stadt ist arm, obwohl in Berlin mehr sozialversicherungspflichtige Jobs als anderswo in der Bundesrepublik entstehen. Was läuft hier falsch?
Aus dem Jobwunder entstehen in erster Linie prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Das wird durch die Bundesgesetzgebung gefördert. Dadurch können zunehmend weniger Menschen von ihrer Arbeit leben. Das ist nicht nur ein Berliner Problem.
Der Punkt „Armut bekämpfen“ umfasst im 190-seitigen Koalitionsvertrag gerade 14 Zeilen. Konkretes wird nicht benannt.
Das ist ein falscher Eindruck. Das Thema ist ressortübergreifend und findet sich an vielen Stellen wieder. So gehören Maßnahmen gegen Kinderarmut zum Bereich Jugend, die gegen Altersarmut zu Soziales. Was wir machen wollen, um gute Arbeit für die Stadt zu schaffen, steht im Kapitel Arbeit. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass wir eine integrierte Sozialberichterstattung entwickeln werden.
Was heißt das?
Wir haben eine gute Datengrundlage, die bis in die einzelnen Kieze reicht. Diese Daten stehen isoliert da. Eine integrierte Sozialberichterstattung entwickelt über die Datenbasis hinaus politische Ziele und konkrete Maßnahmen, an denen wir uns auch messen lassen müssen.
Eine Art Monitoring also. Laut Koalitionsvertrag will sich der Senat für eine Anhebung der SGB-II-Leistungen einsetzen. Wie soll das aussehen?
Wir können nur über eine Bundesratsinitiative tätig werden. Das werden wir aber vor der Bundestagswahl nicht angehen, da dies im Bund nicht mehr behandelt werden würde. Die Regelsätze für Hartz IV müssen auf jeden Fall angehoben werden, vor allem die für Kinder.
Welche Schwerpunkte wollen Sie bei der Arbeitsmarktpolitik setzen?
Wir setzen uns für gute Arbeit ein. Das heißt, dass die Menschen von ihrem Erarbeiteten auch leben können. Gute Arbeit bedeutet, die Tarifbindung zu stärken und Maßnahmen zu ergreifen, damit mehr Langzeitarbeitslose wieder in den ersten Arbeitsmarkt zurückkehren können. Dazu haben wir in ersten Gesprächen mit der Regionaldirektion der Bundesagentur über unser Projekt besprochen, im Rahmen von Investitionsprogrammen bei Ausschreibungen Festlegungen zu treffen. So sollen Arbeitsplätze für Langzeiterwerbslose und für Geflüchtete zur Verfügung gestellt werden, Qualifizierung angeboten werden und die Arbeitgeber dafür einen Lohnkostenzuschuss erhalten. Wir wollen auch wieder öffentlich geförderte Beschäftigung. Aber dazu muss der Bund für eine solide Finanzierungsgrundlage sorgen.
Die Unternehmensverbände kritisieren fehlende zählbare Ergebnisse bei den Jugendberufsagenturen. Wie geht es weiter?
Inzwischen sind sie in allen Bezirken eingerichtet. Jetzt kommt die erste Evaluierung. Auf jeden Fall fehlt noch eine ausreichende Orientierung auf Zielgruppen. Bisher gibt es kaum Angebote für junge Menschen mit Behinderungen, die teilweise hohe Qualifikationen, aber keine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt haben. Beratungsmöglichkeiten für geflüchtete Menschen fehlen ebenso wie ausreichende Angebote für Alleinerziehende. Hier muss nachgesteuert werden.
Die Linke will den Anteil der Migranten im öffentlichen Dienst erhöhen. Wie soll das umgesetzt werden, wenn es noch keine Zahlen über Menschen mit Migrationshintergrund in der Landesverwaltung gibt?
Leider hat es in dieser Frage noch keine Verständigung mit dem Hauptpersonalrat gegeben. Bereits unter Rot-Rot war das Partizipations- und Integrationsgesetz verabschiedet worden. Es wurde nur nicht umgesetzt. Das wollen wir ändern. Die Zahlen lassen sich erheben, wenn diejenigen, die in den öffentlichen Dienst eintreten, im Personalfragebogen Angaben zum Migrationshintergrund machen. Das ist natürlich freiwillig. Laut Gesetz ist interkulturelle Kompetenz eine zusätzliche Qualifikation, mit der sich bei Einstellung und Beförderung punkten lässt.
Mit wie vielen Flüchtlingen rechnen Sie in diesem Jahr?
Eine Prognose ist schwierig. Wir wissen nicht, wie sich die politische Situation in bestimmten Ländern entwickelt. So kann man davon ausgehen, dass mehr Menschen aus der Türkei bei uns Schutz suchen werden.
Bis auf drei Turnhallen sollen alle bis zu den Osterferien freigezogen werden. Wie geht es dann weiter?
Wenn wir die letzten drei Turnhallen freiziehen, müssen wir entscheiden, ob wir die dort lebenden Geflüchteten auf andere Gemeinschaftsunterkünfte aufteilen oder darauf warten, bis das Tempohome in der Elisabeth-Aue bezugsfertig ist. Danach werden wir die anderen Notunterkünfte freiziehen, darunter die Hangars im ehemaligen Flughafen Tempelhof.
… aus denen die Menschen nur für einen kurzen Zeitraum in die Tempohomes auf dem Tempelhofer Feld ziehen sollen …
Die Belegung dort ist etwas kürzer als in anderen Tempohomes. Für die Bauten auf dem Tempelhofer Feld gelten die Änderungen im Gesetz zum Erhalt des Tempelhofer Feldes. Danach sind temporäre Bauten dort nur bis Ende 2019 erlaubt. Dann müssen die Tempohomes abgebaut sein. In der Koalitionsvereinbarung haben wir festgehalten, dass die Nutzung für Geflüchtete an diesem Ort so schnell wie möglich beendet wird.
Werden in den Tempohomes auch Obdachlose untergebracht?
Das kann nur im Einzelfall entschieden werden. Generell geht es darum, dass wir bezahlbaren Wohnraum für diejenigen schaffen, die ihn benötigen. Dazu gehören alte und junge Menschen, Wohnungslose und Zugewanderte. Dafür sollen die modularen Unterkünfte auch zur Verfügung stehen. In Wohnprojekten würden Geflüchtete schneller Anschluss finden.
Der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat eine Reform der Agenda 2010 angekündigt. Er will die Zahlung des Arbeitslosengelds I auf maximal 48 Monate verlängern bei Qualifikation des Betreffenden. Was halten Sie davon?
Man kann die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I verlängern. Warum die SPD dies an eine Qualifikation koppelt, leuchtet mir nicht ein. Andererseits gibt es kaum vernünftige Qualifizierungsmaßnahmen für langzeitarbeitslose Hartz-IV-Bezieher, vor allem nicht für Ältere. Aus meiner Sicht ist eine Gesamtkorrektur der Agenda 2010 längst überfällig. Das Hauptproblem bleiben immer noch die Regelungen für das Arbeitslosengeld II, also Hartz IV. Die Sätze sind zu niedrig, und es gibt keinen Schutz vor Dequalifizierung, was durch die Sanktionen noch verschärft wird. Wenn die Menschen von Hartz IV leben müssen, sind sie einem hohen Armutsrisiko und einer Stigmatisierung ausgesetzt. Aber darüber reden Herr Schulz und Frau Nahles nicht.
Sind Sie eigentlich für die Trennung von Amt und Mandat?
Ja, ich bin dafür. Ich habe mein Mandat zurückgegeben, die Linke hat außerdem dazu einen Parteitagsbeschluss gefasst. Meine Erfahrung ist, dass kleinere Fraktionen geschwächt werden, wenn sie Senatoren mit Mandat in ihren Reihen haben. Wir haben in dem Amt schlichtweg nicht die Zeit, die Arbeit eines Abgeordneten zu leisten. Außerdem sollte man zwischen Legislative und Exekutive trennen und sie nicht vermischen. Aber das muss jede Partei für sich entscheiden.
Die Grünen haben auch einen Parteitagsbeschluss zur Trennung von Amt und Mandat. Trotzdem behält Wirtschaftssenatorin Ramona Pop ihr Mandat.
Jede Partei muss, wie gesagt, selbst bestimmen, wie sie damit umgeht.
Das Gespräch führten Sabine Beikler und Sigrid Kneist.
Jedes dritte Kind in Berlin hängt von Sozialleistungen ab - was man oft nicht sieht. Was bedeutet es, in armen Verhältnissen aufzuwachsen? Auf den Spuren eines schwer fassbaren Missstands.
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