Spätis in Berlin: Ein Leben außerhalb der Öffnungszeiten
1000 Spätis gibt es in Berlin. Für ihre Betreiber sind die kleinen Shops mal Aufstiegschance, mal letzter Ausweg. Das Geschäft ist hart – und ein Neuköllner Polizist macht es härter: Er hat in seinem Kiez das sonntägliche Verkaufsverbot durchgesetzt.
Letzten Winter haben sie hier im Späti aus Langeweile ein Spiel erfunden. Es ging so: Ein Tischtennisball soll im Bierkasten landen. Die Fächer sind nummeriert und mit Punkten beschriftet. Wer zuerst hundert Punkte hat, gewinnt. Und wer auf fünf der getroffenen Felder getippt hat, schreit Bingo. „Wirf-mich-Bingo“ hat Yasin das Spiel getauft. Monatelang haben sie das gespielt, die ganze Nachbarschaft mit reingezogen. Bis endlich der Frühling kam und man wieder draußen sitzen konnte.
Als es dann richtig heiß wurde, hat Yasin kleine, batteriebetriebene Ventilatoren in Orange besorgt. Zwei Euro pro Stück, eine ganze Menge hat er davon bereits verkauft. Gerade überlegt sich der 24-Jährige, auch Wasserspritzpistolen anzubieten.
Es gibt wohl kaum einen anderen Ort in Berlin, an dem Angebot und Nachfrage so nah beieinanderliegen wie im Späti. In dieser Welt aus Bier, Zigaretten und Süßigkeiten wird der geschäftliche Erfolg oder Misserfolg unmittelbar sichtbar: Gewinn ist, was am Ende der Woche noch in der Kasse ist. Im Späti wird bar gezahlt und Du gesagt.
Ganz einfach eigentlich – und doch kompliziert. Denn hinter jedem der etwa 1000 Spätis in Berlin steckt eine Geschichte. Eine, die oft von Hoffnung handelt und manchmal von Angst. Hoffnung auf ein sicheres Auskommen, auf bescheidenen Wohlstand, vielleicht sogar Aufstieg. Aber eben auch Angst vor dem Scheitern, vor der Pleite. Denn das Geschäftsmodell Späti ist nicht mehr so sicher wie einst. Die alten Regeln wackeln.
Himbeereis und Bier
Aber beginnen wir dort, wo noch alles gut ist. Beginnen wir bei Yasin. Der Späti, den er zusammen mit seiner Schwester Yasmina betreibt, liegt unweit der Yorckstraße in Kreuzberg. Es ist ein kleiner Laden, die Fenster und Türen sind hellblau lackiert. Die Geschwister haben das Geschäft 2013 übernommen. Die Nachbarn geben sich hier die Klinke in die Hand.
Yasin steht im hellgelben Polohemd hinter der Ladentheke. Sein Geschäftsprinzip: Was der Kunde will, das kriegt er auch. Stammkunde Daniel wünscht sich Magnum-Eis, Geschmacksrichtung Himbeer? Yasin hat es am nächsten Tag im Angebot. Das Mädchen von gegenüber möchte Berliner Weiße? Yasin ordert zwei Kisten. Der 24-Jährige weiß, wie Kundenbindung funktioniert – das muss er auch, ohne U-Bahn-Station oder Hauptstraße vor der Tür. Selbst mit den Kleinen aus der Grundschule schräg gegenüber hat er einen Deal. Die bekommen auf die losen Süßigkeiten 50 Prozent Rabatt. Das Geschäft läuft.
Der Vater von Yasin und Yasmina ist in den 80er Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Ihre Mutter ist Deutsche. Yasin hat Abitur gemacht, arbeitete dann vier Jahre lang in einem Bistro in Mitte. Putzte, kochte, bediente, machte Kasse. Wie eine Ausbildung war das, nur ohne Abschluss. Der Chef stresste, glücklich war Yasin nicht. Er und seine Schwester träumten davon, ein Café zu eröffnen. Mit Gastronomie kannte sich Yasin schließlich aus. Und dann bot ein Bekannter ihnen an, seinen Späti zu übernehmen. Die Möglichkeit, sich endlich selbstständig zu machen.
Putzen fürs Überleben
Doch während Yasin den Späti als Chance sieht, ist er für Hasan Karadag oft eine Bürde. Der 54-Jährige sitzt auf einem der Stühle vor seinem Laden. Ein Stammkunde schüttelt ihm im Vorbeilaufen die Hand, eine Freundin begrüßt ihn mit zwei Küsschen. Ein anderer düst winkend auf dem Fahrrad vorbei. „Ich bin so was wie der Kiezvater“, sagt Hasan. Seit fünf Jahren hat er seinen Laden in der Neuköllner Flughafenstraße, davor sieben Jahre einen anderen, nur ein paar Meter die Straße hoch in der Mainzer. Jeder kennt ihn hier. Zu Hasan kommen die Leute auch, wenn sie sich eine Bohrmaschine leihen wollen oder eine Sackkarre. Hasan hat alles.
Der Späti, ein Wohlstandsgarant? Hasan winkt ab. Seine Frau putzt nachts im Krankenhaus. Der Job ist anstrengend. Hasan tut das weh. Dazu kommt etwas, das hier in Neukölln viele Späti-Besitzer umtreibt und auch in anderen Stadtteilen bereits als unheilvolles Grollen zu vernehmen ist. In Neukölln ist das sonntägliche Verkaufsverbot seit etwa einem Jahr nicht länger nur ein Satz in einem Gesetz. Es wird, anders als anderswo, von Polizei und Ordnungsamt aktiv durchgesetzt. Laut Gesetz dürfen sonntags nur Läden öffnen, die entweder Touristenbedarf verkaufen oder auch wochentags nur ein begrenztes Warenangebot haben: Blumen, Zeitungen, Backwaren und Milchprodukte. Wer sich nicht daran hält, dem drohen Bußgelder. Je öfter man erwischt wird, desto höher ist die Strafe. Bis zu 2500 Euro geht das hoch.
Früher sei das alles einfacher gewesen, in den 2000ern, da gab es keine Kontrollen, sagt Hasan. Jetzt kommen sonntags die Ordnungsamtsmitarbeiter. Sehr nett seien die, er duzt sie sogar. Aber Hasan sind die Regeln ein Rätsel. Warum gilt dieses Gesetz für Spätis, aber nicht für Tankstellen? „Die Spätis sind ein Teil von Berlin“, sagt er. Ständig läuft hinter ihm jemand in den Laden, er muss immer wieder aufspringen und abkassieren.
Das Prinzip ist simpel: aufhaben, wenn andere zuhaben
Dann setzt er sich wieder und sagt einen Satz, der eigentlich das ganze Geschäftsmodell zusammenfasst: „Späti, das heißt aufhaben, wenn andere zuhaben.“ Doch jetzt, wo Kaufland bis 22 Uhr und Kaiser’s bis 24 Uhr geöffnet sind, wird es schwierig. „Und wenn sie uns nun den Sonntag auch noch wegnehmen?“, fragt Hasan. Den Tag, an dem Spätis den größten Umsatz machen?
Hasan sagt, er arbeite 16, 17 Stunden am Tag. Manchmal fühle er sich „wie im offenen Knast“. In den letzten zehn Jahren habe er genau einmal Urlaub gemacht. Ab und zu helfen seine Schwester, seine Nichte, sein Bruder. Aber fast immer ist es Hasan, der hinter der Kasse steht. Späti bedeutet Selbstausbeutung, Sonntag hin oder her.
Hasan deutet die Flughafenstraße entlang. Von seinem Platz aus sind drei weitere Spätis zu sehen, insgesamt sind es sieben oder acht. Die Konkurrenz nimmt zu. Und die Neuen verderben die Preise. „Viele junge Leute machen einen Späti auf, in der Hoffnung auf ein besseres Leben“, sagt Hasan. „Aber reich wird man vom Späti nicht.“ Viele würden sich verschulden, Geld aus der Türkei leihen, um den Laden eröffnen zu können. Im Grunde hofften alle, mit dem Geschäft eine Familie ernähren zu können, manche träumten vom großen Geld. Hasan sieht viele kommen und gehen. „Das ist wie Krieg. Leben oder Sterben.“
Späti als Notlösung
Mehmet Kar schaut auf seine Hände. Seit er 13 war, hat der Neuköllner Späti-Besitzer auf Baustellen gearbeitet. Zuerst in der Türkei, dann in Deutschland. 1997 kam er mit seiner Familie hierher, als Kurden haben sie Asyl beantragt. Mehmet hat immer hart gearbeitet. Doch jetzt sind seine Hände kaputt, er kann mit ihnen keine Wände mehr verputzen oder Mörtel schleppen.
Mehmet sitzt auf einer Bierbank vor seinem Späti, Karl-Marx-Straße, Ecke Schierkestraße, um ihn herum seine Familie. Seine Frau Gülcan, seine jüngere Tochter Berna und die ältere Zilan, ihr Mann David ist auch da. Für Mehmet wäre es nie infrage gekommen, arbeitslos zu sein, vom Staat zu leben. Schließlich fühlt sich der 44-Jährige für sie alle verantwortlich. Vor anderthalb Jahren erzählte ihm ein Bekannter von der Möglichkeit, den Späti zu übernehmen. Mehmet ergriff die Gelegenheit beim Schopf.
Anfangs schien das Konzept aufzugehen. Die Familie beratschlagte, wie man das Geschäft auf Vordermann bringen könnte. Mehmet nahm Schulden auf. „Der Laden war Müll. Viele Frauen und Kinder haben sich nicht reingetraut, wegen der vielen Alkoholiker, die davorsaßen“, sagt Zilan. Der Späti sollte familienfreundlicher werden. Also erweiterten sie das Sortiment, boten mehr Süßigkeiten an, kauften neue Kühlschränke und stellten eine Regel auf: kein Alkohol vor der Tür. Sie senkten die Preise und tauschten die PCs im Hinterraum gegen neue aus. Bei den Nachbarn stellten sie sich gleich zu Anfang vor. Die kamen dann auch zum Einkaufen. Neben den Touristen, die hier auf dem Weg zum benachbarten Körnerpark etwas mitnehmen.
Eigentlich könnte das Geschäft gut funktionieren. Aber bald nach der Eröffnung kam an einem Sonntag das Ordnungsamt vorbei. Verhängte ein Bußgeld. Nach einem Rechtsstreit und Kosten von 1000 Euro machen sie sonntags nicht mehr auf. Das schmerzt: „Ohne den Sonntag fehlt uns die Luft zum Atmen“, sagt Zilan. Ohne den Sonntag ist die Existenz bedroht.
In Neukölln ist nicht nur das Ordnungsamt an Sonn- und Feiertagen unterwegs. Auch die Polizei schreibt hier Anzeigen, vor allem, wenn das Ordnungsamt nicht mehr im Dienst ist. Immer wieder hört man, es sei meist derselbe Polizist, der sonntags in die Spätis kommt, Kunden wegschickt, damit sich die Späti-Besitzer nicht strafbar machen. Es sind wenig schöne Geschichten, die man über diesen Mann hört. Selbst auf der westlichen Seite der Karl-Marx-Straße, wo er gar nicht zuständig ist, eilt ihm sein Ruf voraus. „Er soll sehr hart sein und sehr bürokratisch“, sagt Mehmet.
Der Späti-Sheriff
12 Uhr, High Noon in Neukölln. Die Sonne brennt vom Himmel. Robert Rufs Schicht beginnt in zwei Stunden. Der 51-jährige Polizeioberkommissar ist klein und drahtig, er trägt die grauen Haare kurz. Noch ist er zivil in Jeans und Lederjacke. „Am Wochenende habe ich Samstag und Sonntag Spätschicht. Eine Katastrophe für die Spätis“, sagt er, halb im Scherz, als er aus der Dienststelle in der Sonnenallee tritt. Samstagnacht nach 24 Uhr und Sonntagabend schreibt er die meisten Anzeigen gegen Späti-Besitzer.
Auf dem Weg durch die Erkstraße zeigt er auf einen Laden. „Das ist ein richtiger Schurke. Der macht immer wieder auf, den kann man an einem Sonntag drei Mal erwischen.“ Ruf geht weiter. Ein paar Meter entfernt deutet er auf ein Casino. „Da war ich noch nicht drin, das muss ich mir mal genauer anschauen.“
Robert Ruf ist tatsächlich so etwas wie der Albtraum der Spätis östlich der Karl-Marx-Straße. So gut wie alle wurden sonntags schon von ihm erwischt, viele mussten Bußgelder bezahlen. Ruf weiß, wer behauptet, hauptsächlich Zeitungen zu verkaufen und sonntags trotzdem den meisten Umsatz mit Alkohol macht. Er weiß, wer sonntags das Licht aus hat und nur so tut, als hätte er geschlossen. Und er weiß auch, dass die Späti-Besitzer untereinander Telefonketten bilden oder sich per Funk über nahende Polizisten informieren. Manche nennen Ruf hier den „Sheriff“, seine Kollegen haben den Spitznamen übernommen.
Angefangen hat alles am 1. Mai 2014. Robert Ruf trifft auf seiner Streife Mitarbeiter des Ordnungsamtes. Sie fordern geöffnete Spätis zum Schließen auf. Ruf ist überrascht: Dürfen Spätis nicht jeden Tag rund um die Uhr geöffnet haben? Er hat das bisher nie infrage gestellt. In seiner Freizeit studiert Ruf die Rechtslage, redet mit dem Ordnungsamt. „Ich lese gern. Ich beschäftige mich mit Sachen. Da kann ich ein extremes Interesse entwickeln“, sagt er. „Und wenn ich mich irgendwo festbeiße …“, den Satz lässt er in der Luft hängen. Die Kollegen spotten über sein Interesse. Aber wie andere sich mit widerrechtlich getunten Autos auskennen, kennt sich Ruf jetzt eben mit Spätis aus. „Von solchen selbst erlernten Spezialisten lebt die Behörde“, sagt er.
Wegsehen geht nicht
Und Ruf ist einer, der Beschäftigung braucht. Der nicht still sitzen kann. Wenn er jetzt sonntags auf Streife geht und es ist nicht viel los, dann stechen ihm die offenen Spätis regelrecht ins Auge. Wegsehen geht nicht. Also spricht er mit allen Späti-Besitzern in seinem Abschnitt, macht ihnen die Rechtslage klar. Verschickt Ladenöffnungsgesetze per E-Mail. Ruf hat sogar Infomaterial erstellt, wann die offiziellen verkaufsoffenen Sonntage sind. Aber es gibt viele Spätis, die sonntags trotzdem verkaufen, auch wenn sie es nicht dürfen. Und dann kommt Ruf und schreibt eine Anzeige. „Wer nicht hören will, muss fühlen“, sagt er. Sitzt im Café und saugt an seiner Elektrozigarette, Geschmacksrichtung Kaffee.
Robert Ruf sind Prinzipien wichtig. Er wohnt über einem Späti, würde aber sonntags nie reingehen – selbst wenn sein Kühlschrank leer ist. Er würde auch um drei Uhr nachts niemals bei Rot über die Ampel gehen. Selbst wenn weit und breit kein Auto zu sehen ist.
Und weil Ruf so ist, braucht man ihm auch nicht mit Toleranz zu kommen. Denn in anderen Bezirken, eigentlich in ganz Rest-Berlin, wird die Sache mit den Spätis toleranter gehandhabt. Ruf wäre dafür, dass es eine zentrale Ordnungsbehörde in Berlin gibt, die überall gleichermaßen kontrolliert und „Gerechtigkeit über die Stadt verteilt“. Weil es das nicht gibt, versucht er wenigstens in seinem Abschnitt Gerechtigkeit zu verteilen, über die 75 Läden, die sich hier angesiedelt haben.
Wenn man Ruf reden hört, glaubt man, erkennen zu können: Es gibt den Polizisten Robert Ruf und den Menschen. Als Polizist hat Ruf keinen Ermessensspielraum, dann trägt er gern Uniform und ist Vertreter seiner Behörde. Als Mensch rühren ihn die Schicksale schon manchmal an. Die Späti-Besitzer, die sich vor der Arbeitslosigkeit fürchten. Die Familien, die einen Berg Schulden auf sich geladen haben. Weich wird Ruf trotzdem nicht: „Wenn ich mir ein Geschäftsmodell ausdenke und mich nicht über die Gesetzeslage informiere, dann habe ich einen Fehler gemacht.“
Kampf gegen das Gesetz
Hasan, der alteingesessene Späti-Besitzer, würde bei all den Schwierigkeiten manchmal gern hinschmeißen. Aber er will arbeiten, man müsse ja Steuern bezahlen, damit Schulen gebaut, Straßen saniert werden können. Und ein anderer Job? Wieder winkt Hasan ab. Wer würde ihn denn einstellen mit 54, geboren in der Osttürkei und 1978 nach Deutschland gekommen? „Ich habe nicht viele Erwartungen ans Leben“, sagt er. Das Ordnungsamt fährt vorbei. Hasan winkt.
Für den Moment konzentriert er sich auf sein Geschäft. Gegen das Gesetz kämpfen? Das tun andere, auch jüngere Späti-Besitzer. Wie Sahhüseyin Özer mit seinem Laden in der Laubestraße, der sonntags jetzt immer zu hat. Oder Firat Yildiz, der einen Späti in der Weserstraße führt. Alper Baba, der in Neukölln und anderen Teilen der Stadt mehrere Spätis besitzt. Oder Anit mit dem Laden in der Karl-Marx-Straße, der sich sonntags erst kürzlich wieder mit Robert Ruf angelegt hat.
Sie alle trifft man nun häufiger gemeinsam an. Etwa wenn in der Grünen-Geschäftsstelle in Neukölln zum Späti-Dialog geladen wird mit Polizei, Ordnungsamt und Politikern. Dann sind sie schon eine ganze Weile vorher da und beratschlagen vor der Tür. Applaudieren einander für gelungene Wortbeiträge. Und wenn im Bezirksparlament Neukölln das Thema Spätis auf den Tisch kommt, sitzen sie auf der Tribüne. Auch wenn der Bezirk ihnen nicht helfen kann und für eine Gesetzesänderung das Abgeordnetenhaus zuständig wäre.
"Rettet die Spätis"
Eine Änderung fordert auch die Neuköllnerin Christina Jurgeit. Mit ihrer Petition „Rettet die Spätis“, die bereits mehr als 30 000 Unterstützer hat, will die 28-Jährige erreichen, dass die Spätis in Berlin mit Tankstellen und Bahnhofsläden gleichgestellt werden und so auch an Sonn- und Feiertagen verkaufen dürfen. Ein ähnlicher Vorstoß wurde bereits 2012 diskutiert, dann aber nach Protesten der Kirche und auch der Gewerkschaften, die auf den Arbeitnehmerschutz pochten, wieder verworfen. Dabei geht gerade bei den inhabergeführten Spätis das Argument an der Realität vorbei. Späti-Besitzer sind keine Arbeitnehmer – sie sind Unternehmer.
In Robert Rufs Augen ist das größere Problem ohnehin, dass sich in einigen Ecken der Stadt das Angebot häuft. Da kommt ein Späti, eine Dönerbude mit Alkohol im Angebot und noch ein Späti direkt daneben. „Unmöglich, dass sich beim Gewerbeamt nicht mal einer mit der Karte hinsetzt und das bemerkt. Stattdessen genehmigen sie auch noch den fünften und sechsten Laden in einer Straße.“ Ruf wundert es nicht, wenn dann der Konkurrenzkampf ausbricht und Geschäfte in finanzielle Schwierigkeiten kommen. „Die sind selber schuld, wenn sie sich so nah beieinander ansiedeln.“
Ruf urteilt scharf. Doch es gibt eine Variable, die der Polizist bei seiner Analyse des Geschäftsmodells Späti außer Acht lässt. Am Ende ist es eben nicht nur eine kalte Plus-Minus-Rechnung von Gewinnen und Verlusten. Der Späti ist auch menschlich. Er hat eine Funktion.
Gute Vorsätze
Es ist einer dieser lauen Abende im Juli, die Hitze des Tages verfliegt langsam. Vor Hasans Späti in der Flughafenstraße sitzen die üblichen Gestalten, trinken Bier, manche seit Stunden. Hasan bringt eine neue Runde, sammelt die leeren Flaschen ein. Dann setzt er sich auf einen Stuhl auf dem Gehsteig und legt die Füße hoch. Endlich. Momente der Ruhe, weil drinnen sein Bruder aushilft.
Heute ist Hasan gesprächiger. Seine Kunden? Ja, er kocht für sie. Dann gibt es Nudeln mit Tomatensoße oder Wiener Würstchen. Manchmal grillt er, tischt Kartoffelsalat dazu auf. Und ab und zu gibt er eine Flasche Raki aus. Ein bisschen sind die Stammkunden seine Familie. Etwa zwölf Leute sind es, die jeden Tag zu ihm kommen. Einigen wurde zu Hause der Strom abgestellt, bei Hasan bekommen sie eine warme Mahlzeit, eine Suppe wenigstens. Geld will Hasan keins dafür. „Das mach ich gerne“, sagt er. Schließlich weiß er, wie es ist, kein Geld zu haben.
Auch anschreiben lassen kann man bei Hasan. „Das musst du hier in der Gegend“, sagt er. „Die Leute kriegen Hartz IV, nach drei Tagen ist ihr Geld alle.“ Eine Handvoll Kunden schuldet ihm eine Stange Geld. Dabei bringt Hasan in manchen Monaten selbst nicht mehr als 500 Euro nach Hause. Im Winter muss er kämpfen, dass sein Laden überleben kann. Einmal musste er sich von seiner Frau Geld leihen, um eine Lieferung Zigaretten zu bezahlen. Anderen Späti-Besitzern geht es nicht viel besser – die meisten verdienen zwischen 1000 und 1100 Euro netto im Monat. Eigentlich gibt es da nichts zu verschenken.
Aber die Gastfreundschaft, die Freundlichkeit, das liegt in Hasans Natur. Er ist als Bauernjunge in der Türkei in einem kleinen Dorf aufgewachsen. „Das steckt noch in mir drin.“ Natürlich nimmt er sich vor, nicht mehr so viel Geld zu verleihen, weniger anschreiben zu lassen. Aber dann kommt wieder einer, fragt nach einem Fünfer oder einem Zehner, und Hasan denkt nicht mehr an die guten Vorsätze. Stattdessen plagen ihn die Sorgen: tagsüber die Sorgen ums Geld – und nachts, wenn er allein im Laden ist, die Angst vor Räubern.
Späti als Schicksal
So geht es auch Mehmet, dem Familienvater. Obwohl er sonntags nicht öffnet, verbringt er den ganzen Tag im Späti. Der Laden läge ja sonst ganz verlassen da. Würde jemand einsteigen, Waren stehlen oder Inventar zerstören – die Versicherung würde es vielleicht bezahlen. „Aber wann? Bis dahin ist man schon pleite“, sagt Mehmet.
Der Späti ist das Schicksal der Familie. Sie leben von dem Geschäft, verbringen ihre freie Zeit hier, wollen sogar zusammen in eine Wohnung gegenüber ziehen. Momentan leben sie alle in einer Wohnung am Treptower Park. Der Schwiegersohn ist jeden Tag hier, die Mutter auch. Zilan und ihre Schwester Berna helfen in den Ferien aus. Mitarbeiter einzustellen, das könnten sie sich nicht leisten, es gibt ja auch den Mindestlohn. Aber die Familie ist dankbar für den Späti. „Das bedeutet, wir sind nicht arbeitslos“, betont Mehmet immer wieder.
Für die beiden Geschwister Yasin und Yasmina ist ihr Kreuzberger Späti, so scheint es, ein bisschen wie ein Start-up. Nur dass die beiden kein Risikokapital von Investoren bekommen, sondern alles aus eigener Tasche bezahlen. Sobald sie genügend Geld verdient haben, investieren sie es neu und erweitern das Geschäft. Sie haben keinen Businessplan, aber ein Ziel vor Augen.
Für Yasin ist Montag Großmarkttag. Bis ein Uhr nachts stand er im Späti. Etwas verschlafen sitzt er jetzt, um 11 Uhr morgens, in seinem metallicgrünen Citroën Saxo. Einen Transporter? Braucht er nicht. Einfach die Rücksitze umklappen. Der Großmarkt liegt in einem alten Backstein-Industriegebäude an der Spree, die Wände sind unverputzt, Lagerhallenflair. Yasin begrüßt einen der Mitarbeiter mit Handschlag. Gesprochen wird hier meist Türkisch, auch die meisten Hinweisschilder sind auf Türkisch, am Eingang steht eine große silbrige Kanne mit schwarzem Tee.
Großeinkauf
Yasin faltet seinen Einkaufszettel auf, mehrere Zigaretten- und Biersorten stehen darauf, Süßigkeiten. „Cola-Kracher“ hat sich Yasin notiert. Eine Kundin hat ihn darauf aufmerksam gemacht, dass die bald aus sind. Beim Schlendern durch den Markt entdeckt Yasin ein neues Helles aus Bayern. Kurzer Wortwechsel mit einem Mitarbeiter, dann landet der Kasten auf dem Einkaufswagen. Später wird er die Flaschen mit 100 Prozent Gewinn weiterverkaufen. Bayerische Biere gehen gut gerade.
Als Yasin und seine Schwester ins Geschäft eingestiegen sind, war es schwierig für die beiden, die richtigen Waren auszuwählen. Yasin hat sich das Sortiment der Kollegen angeschaut, Preise verglichen. Jetzt steuert er zielsicher durch die Regale. Budweiser, Beck’s, Cola, Kindl und ein Radler aus Österreich stehen kurz darauf auf dem Wagen. In einem abgetrennten Bereich gibt es Süßigkeiten und Tabakwaren. Zigarettenstangen sind alphabetisch geordnet präsentiert. Zauberschnuller, süße Teufel und saure Zungen stapeln sich in transparenten Boxen. „Nur die Schlümpfe fehlen“, sagt Yasin mit Blick auf den Einkaufszettel.
Bezahlt wird hier in bar, die Getränkesorten auf Yasins Wagen ruft ein Mitarbeiter der Kassiererin von der Lagerhalle aus zu. 760,67 Euro kostet der Einkauf, sein Wechselgeld wirft Yasin in eine Büchse. „Kaffeekasse“ steht auf Deutsch darauf.
Zurück am Späti sitzt auf einer Bank vor dem Laden Stammkunde Daniel. Den Kiefer des Enddreißigers zieren drei Zahnkronen aus Metall, seine Fingerknöchel sind tätowiert. Daniel ist einer der ersten Kunden von Yasin und Yasmina. Bei seinem ersten Besuch habe er sich einen Kaffee geholt, erzählt er. Aus einer Maschine, die noch der Vorbesitzer des Spätis angeschafft hatte. „Der Ferrari unter den Kaffeemaschinen“ sei das gewesen, sagt Daniel. Doch die Maschine gibt es nicht mehr. Yasin hat in eine neue investiert. „Der Bugatti unter den Kaffeemaschinen“, scherzen sie vor dem Laden.
Neue Investitionen
Seit April verleihen Yasin und seine Schwester neben dem Späti-Geschäft auch Fahrräder, sie sind DHL-Shop geworden. Irgendwann wollen sie in die Räume, die bislang als Lager dienen, ein Café einbauen. Eines, in dem es Selbstgemachtes zu essen gibt und man abends auch einen Wein trinken kann.
Bis sie sich das leisten können, muss erst einmal neues Geld angespart werden. Yasin ist wieder bei seiner Mutter eingezogen. Das ist billiger, und er ist ohnehin kaum zu Hause. Kürzlich war Yasin in New York im Urlaub, elf Tage lang. Und im Winter, wenn es im Späti wieder ruhiger wird, will er einen Freund in der Dominikanischen Republik besuchen, vielleicht auch einen Abstecher nach Kuba machen. Seine Schwester fährt demnächst in die Türkei. Es läuft gut für die beiden.
Und Hasan? Ist wie immer im Laden. Später in der Nacht, wenn kaum noch etwas los ist, wird er ins Hinterzimmer gehen und sich für eine halbe Stunde aufs Gästebett legen. Wird zur Entspannung ein bisschen Phoenix oder Arte schauen. Dann wird er einen Kaffee trinken und sich wieder in den Laden stellen. Damit er den Nachtschwärmern ihr Bier verkaufen kann und am nächsten Morgen den Arbeitern einen Kaffee.
Auch Familienvater Mehmet wird mit seinem Späti weiter ums Überleben kämpfen. Sein Schwiegersohn David sieht in dem Laden seine Zukunft. Sie haben Unterschriften gesammelt, für die Späti-Petition. Aber die Töchter, die nächstes Jahr ihr Abitur machen, sollen nicht ins Geschäft einsteigen. Noch stehen sie manchmal hinter der Kasse, lösen Probleme bei den Computern, die im Hinterraum bereitstehen. Aber nach dem Abitur werden beide auf Lehramt studieren. „Das ist Papa wichtig“, sagt Tochter Zilan. Sie und ihre Schwester sollen eine bessere Zukunft haben. Fern von dieser Welt aus Bier, Zigaretten und Süßigkeiten.