zum Hauptinhalt
In den entlegeneren Ecken Brandenburgs muss man schon froh sein, wenn es in der Nähe überhaupt eine Arztpraxis gibt.
©  Patrick Pleul/dpa

Ärztemangel in Brandenburg: Ein junger Arzt kehrt von Berlin nach Brandenburg zurück

Viele Hausärzte in Brandenburg finden keinen Nachfolger. Die Stadt Seelow hat Glück. Ein junger Mediziner ist von Berlin zurückgegangen.

Verlorene Söhne bleiben in Brandenburg fast immer verloren. Aber heute sind 15 Menschen vor Sonnenaufgang in die Apfelstraße in Seelow gekommen, um einem zu begegnen. Punkt 7 Uhr geht die Tür auf. Bei eisigen Temperaturen huscht einer nach dem anderen ins Warme. Auf dem Schild am Eingang steht: „Dr. med. Steffen Noetzel – Facharzt für Allgemeinmedizin“. Es glänzt noch. Die Praxis gehört ihm erst seit drei Tagen.

Statistisch gesehen gibt es in vielen Regionen Brandenburgs genügend Hausärzte. Von Unterversorgung spricht man erst, wenn der sogenannte Versorgungsgrad unter 75 Prozent fällt. Er bezeichnet in einem Bereich das Verhältnis der Anzahl von Medizinern zur Einwohnerzahl. Das große Problem ist das Alter der Mediziner. Mehr als jeder vierte der knapp 1600 Brandenburger Hausärzte ist älter als 60 Jahre. Viele suchen schon lange einen Nachfolger, arbeiten bis weit über 70. Dabei ist der Speckgürtel von Berlin sehr gut mit jungen Medizinern versorgt, die jeden Tag in ihre Praxis pendeln. Die Problemzonen heißen Elbe-Elster, Prignitz oder die Region an der polnischen Grenze.

Steffen Noetzel ist einer von hier, vom Rand des Oderbruchs, wo Polen nur ein paar Autominuten entfernt ist, Berlin dagegen mehr als eine Stunde. Er wurde in Görlsdorf geboren, gerade mal acht Kilometer westlich von Seelow und so klein, wie es klingt. Schule und Zivildienst in Seelow, dann Medizinstudium und die Zeit als Assistenzarzt in Berlin. Die meisten, die wie Noetzel von hier kommen und zwölf Jahre in Berlin gelebt haben, würden um keinen Preis zurückkehren.

Das Wartezimmer ist brechend voll

Noetzel aber sitzt in seinem Sprechzimmer und fährt den Computer hoch. Der 33-Jährige hat während des ambulanten Teils seiner Ausbildung hier gearbeitet und ist seit zwei Monaten Facharzt für Allgemeinmedizin. Das war die Voraussetzung für die Praxisübernahme. Vorher war er in einer Klinik in Berlin-Charlottenburg. Er wollte zurück aufs Land, so viel war ihm schon im Studium klar, denn hier zählt der Arztberuf noch was. Dass er jetzt seine ehemalige Klassenlehrerin oder frühere Arbeitskollegen der Eltern behandelt, stört ihn nicht. „Die gemeinsame Vergangenheit ist oft ein guter Gesprächseinstieg.“

Das Wartezimmer ist brechend voll, Sitzplätze sind keine mehr zu haben. Aber an diesem Vormittag ist Noetzel nicht allein. Im zweiten Sprechzimmer sitzt Dieter Bärmann. 40 Jahre hat er als Landarzt in Seelow gearbeitet und nun die Praxis an Noetzel übergeben. Der 65-Jährige ist jetzt offiziell dessen Angestellter und arbeitet noch drei halbe Tage pro Woche. Bald will er ganz aufhören.

Fast wäre er Journalist geworden

Wenn man ihn fragt, wie er es in Seelow geschafft hat, einen Nachfolger zu finden, grinst er breit. „In der 9. Klasse hat Steffen sein Schülerpraktikum bei uns gemacht, da hab ich ihn schon angefüttert und gefragt, ob das nichts für ihn wäre.“ In der Oberstufe verbrachte Noetzel ein Austauschjahr in den USA. Als er wiederkam, wollte er lieber was mit Sprache studieren, vielleicht Journalist werden. "Lohnschreiber", sagt Bärmann nur dazu. Es gelang ihm, dem Jungen die Idee auszutreiben. Als Noetzel dann den Studienplatz an der Charité bekam, wusste Bärmann: Das Ding ist durch.

Einmal an diesem Morgen muss Noetzel um Rat bitten, ob er einen Mann ins Krankenhaus einweisen soll. Den Rest des Vormittags befragt, untersucht und diagnostiziert er mit einer Souveränität, als ob er im Sprechzimmer geboren wäre. Nur manchmal, wenn ein Patient ins Zimmer tritt und ihm die Hand zum Gruß entgegenstreckt, zögert Noetzel einen Augenblick. Er sagt dann „Juten Morgen“, überlegt kurz, schlägt ein. In der Berliner Klinik ging Handschlag wegen der Keime gar nicht. „Die Patienten auf dem Land nehmen es einem krumm, wenn man ihnen nicht die Hand schüttelt“, brummt Noetzel. Aber die erziehe er sich schon noch.

Viele Flüchtlinge kommen zu Noetzel

In einem jedoch ist es Steffen Noetzel wichtig, dass alles bleibt, wie es ist: beim Personal. An diesem Morgen haben Jenny Türk und Carla Kliemt Dienst. Zusammen mit Marlies Reetz, die am Nachmittag arbeiten wird, bringen es die Arzthelferinnen auf 70 Jahre Berufserfahrung.

Jenny Türk nimmt einem Mann Blut ab, der Steffen Noetzel schon als Steppke kannte. „So ist das hier, man kennt sich“, lacht Türk und führt die Kanüle in einer flüssigen Bewegung auf die Armbeuge zu. Nur das mit den Flüchtlingen sei neu. „Die kommen busweise aus der gesamten Umgebung in unsere Praxis“, sagt sie. Türk sagt, die meisten seien in Ordnung, und komische Typen gebe es auch unter Deutschen. Schade sei aber, dass sie wegen der Sprache nicht mit den Flüchtlingen tratschen könne wie mit den deutschen Omis.

Als Noetzel sich mittags auf den Weg zu den Hausbesuchen macht, steht auf dem Bildschirm in der Anmeldung rechts unten eine kleine „98“. So viele Patienten sind heute schon in die Praxis gekommen, die insgesamt etwa 2000 Menschen versorgt und damit doppelt so viele wie manche in Berlin. Zusätzlich sind die Wege zu Hausbesuchen hier viel weiter, bis zu 25 Kilometer. Oft geht die komplette Mittagspause drauf. Extra Geld gibt es dafür nicht.

Aus dem Auto zeigt Noetzel den Block, in dem er als Kind gewohnt hat, seine Schule, alles noch da. „Mir gibt Seelow ein Gefühl von Vertrautheit und Wärme, weil ich in diesem Geflecht von Menschen, wo jeder jeden kennt, groß geworden bin.“ Noch lebt er mit seiner Frau und der zweijährigen Tochter in Berlin-Friedrichshagen. Aber er will zurück nach Görlsdorf, wo sein Elternhaus steht. Seine Frau kommt aus Schwedt und kennt in Görlsdorf niemanden. Sie hat manchmal Zweifel, weiß nicht, wie sich die Region entwickelt, aber sie wird mitkommen.

Nachmittags stehen Vorsorgeuntersuchungen an. Schwester Marlies Reetz kümmert sich um die Vorbereitung und den Pfefferminztee für Noetzel, ohne den gar nichts geht. Ab und zu klingelt das Telefon. Darauf klebt seit dieser Woche als Handlungsanweisung ein Zettel: „Arztpraxis Dr. Noetzel, Schwester XXX, Guten Tag.“ Der Name des Arztes ist pink unterstrichen. Als Marlies Reetz den Hörer abnimmt, muss sie keinen Augenblick nachdenken.

Zur Startseite