Autofreie Zonen in Berlin: Ein Boulevard ist keine Autobahn
Berlin braucht eine neue Verkehrspolitik, damit die Stadt lebenswerter wird. Nur bitte kein Kulturkampf! Ein Kommentar.
Nein, weder das Abendland noch Berlin würden irreparablen Schaden leiden, wenn Unter den Linden keine Autos mehr fahren. Als hätten internationale Planer nicht längst überzeugend belegt, dass die europäischen Innenstädte vom automobilen Verkehr entlastet werden müssen, wenn sie denn noch lebenswert bleiben oder, besser, erst einmal wieder lebenswert werden sollen, wird in Berlin jede auch nur angedeutete Einschränkung des Individualverkehrs attackiert wie eine drohende Verletzung der allgemeinen Sittengesetze.
Wenn die Politik stets allen Bedenken Rechnung getragen hätte, würden heute noch in der Spandauer Altstadt die Autos kurven, gäbe es keine Einkaufszone in der Wilmersdorfer Straße, dürfte man weiter die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit dem Wagen umrunden und auf der Avus Tempo 200 Fahren. Ach ja, und durch das Brandenburger Tor hätte der freie Bürger selbstverständlich auch freie Fahrt. Der Pariser Platz wäre dann freilich nicht mehr der Sehnsuchtsort von Touristen aus aller Welt, die am Abend sehr oft geradezu andächtig auf dieses Symbol der Freiheit schauen, sondern ein abgasstinkender Durchgangsplatz. Faktum ist: Berlin hat auf diesem Gebiet erheblichen Nachholbedarf, und jeder von uns, der in Europa reist, kann Beispiele dafür benennen, welches (nicht nur Einkaufs-)Vergnügen es bereitet, zu Fuß durch die Innenstädte zu schlendern.
Das Gebiet innerhalb des S-Bahnrings braucht eine Umstrukturierung
Man muss nicht einmal über die Landesgrenzen schauen – Hamburg hat nicht nur eine Elbphilharmonie zu bieten, sondern mit der Mönckenbergstraße ein Paradebeispiel dafür, wie unsere Städte gewinnen können. Und dann stelle man sich bitte vor, wie schön ein Bummel über einen autofreien Tauentzien wäre oder eben über die Linden. Was wir so prahlerisch „Boulevard“ nennen, könnte tatsächlich zu einem solchen werden, wenn es zwischen Brandenburger Tor und dem Humboldtforum keine Autos gäbe.
Die Sorgen, die sich viele Berliner jetzt angesichts der möglichen Verkehrsplanungsvarianten von Rot-Rot-Grün machen, sollten weniger um das „ob“ und viel mehr um das „wie“ kreisen. Denn natürlich würde es im Verkehrschaos enden, wenn ohne umfassende Umstrukturierung das gesamte Gebiet innerhalb des S-Bahnrings eine einzige Parkbewirtschaftungszone würde, die Linden dicht wären und stattdessen vom Alexanderplatz über die Leipziger und Potsdamer Straße eine Straßenbahn bis nach Steglitz führe. Neuen Koalitionen und gerade sich progressiv gebenden traut man spektakuläre Gesten für ihre Wählergruppen zu, ohne die Folgen zu bedenken.
Ein Beispiel: Eine Straßenbahn auf der erwähnten Straßenlinie bei gleichzeitiger Sperrung der Linden führte im besten Fall zum Dauerstau (Leipziger Straße), im schlimmsten zum totalen Stopp des Individualverkehrs (Potsdamer Straße). Also muss man, muss die Politik, muss die zuständige Senatsverwaltung erst einmal Daten erheben, bevor sie Maßnahmen umsetzt. Wer weniger Autos in der Stadt haben will, muss den ÖPNV stärken. Voraussetzung dafür sind nicht allein ein dichterer Takt der S-Bahnen und ein Ausbau der jetzt nur eingleisigen Strecken, sondern auch eine andere Fahrpreisgestaltung im Tarifverbund VBB, damit Arbeitnehmer aus dem Brandenburger Umland nicht mit dem Wagen nach Berlin fahren und dort die Parkplätze in Bahnhofsnähe blockieren.
Der öffentliche Nahverkehr in Berlin ist im internationalen Vergleich gut
Parkplätze, die die Vorortbewohner eigentlich selbst nutzen müssten, wenn sie nicht mit dem eigenen Fahrzeug in die Stadt fahren sollen. Das alles zu regeln sollte schon deshalb kein Problem sein, weil der öffentliche Nahverkehr in Berlin bei allen gelegentlichen Unzulänglichkeiten im internationalen Vergleich sehr gut ist. Da es immer Gründe geben wird, warum Menschen trotz aller verlockenden ÖPNV-Angebote mit dem Auto in die Stadt fahren wollen, sind Parkhäuser oder große Tiefgaragen wichtig. Die gibt es jetzt schon reichlich in der Friedrichstraße, die ja in jedem Fall über die Straße Unter den Linden hinweg offen bleiben müsste.
Und wenn die Stadtplanung zwar mit weniger Autos rechnen, diese aber nicht zu Feinden erklären möchte (es dennoch zu tun, wäre ziemlich dumm), muss sie in jedem Fall dafür sorgen, dass die großen Ein- und Ausfallstraßen – auf jedem Stadtplan sind sie identifizierbar – ohne künstliche Schikanen nutzbar bleiben. Natürlich sind ein konsequenter Ausbau des Radwegenetzes und die Schaffung ausschließlicher Fahrradstraßen unabdingbar, wenn die Politik die Bürger dazu anregen will, aus eigener Kraft zum Arbeitsplatz zu kommen. Die topfebene Berliner Topographie animiert ja geradezu zum Radfahren – wenn man nur einigermaßen sicher unterwegs sein könnte und wenn es an den U- und S-Bahnhöfen ausreichende Unterstellplätze für Räder gäbe. Auch da hilft ein Blick über die Grenze, in die Niederlande zum Beispiel. In den Niederlanden kann der Berliner Auto- und Radfahrer auch noch etwas anderes lernen: Respekt voreinander.
Der Autofahrer darf nie vergessen, dass der Radfahrer in der schwächeren Position ist – und der Radfahrer sollte nicht so tun, als habe er eine imaginäre Knautschzone eingebaut, die ihn unverletzbar macht. Alles zusammen genommen, liest sich wie ein verkehrspolitisches Programm für eine Legislaturperiode. Alles gehört dabei zusammen, das eine bedingt das andere, und vermutlich wurde auch manches vergessen. Aber es anzupacken, um – siehe oben – Berlin lebenswertes zu machen, das wäre doch eine schöne Vision.
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